Beschluss vom Amtsgericht Hamburg - ID 847
Tenor
Die Jugendhilfsschöffin ... wird von der Schöffenliste gestrichen.
Gründe
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Die Schöffin hat durch Erklärung vom 3.12.2018 gegenüber der Jugendgeschäftsstelle angegeben, sie werde bei Ausübung des Schöffenamtes und somit auch während laufender Hauptverhandlungen aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen. Hiermit liegt ein Grund zur Streichung der Schöffin von der Schöffenliste vor.
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Die Ankündigung der Schöffin, sie werde während der Ausübung ihres Amtes aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen, ist als ernsthafte Bekundung der Absicht zu werten, in Ausübung und als Ausdruck der Religionsfreiheit das Kopftuch zu tragen.
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Das Tragen eines Kopftuches ist grundsätzlich in jeder Lage – mithin auch in Ausübung öffentlicher Ämter oder Wahrnehmung staatsbürgerlicher Pflichten – vom Geltungsbereich des Art. 4 Abs. 2 GG gedeckt. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG enthält ein umfassend zu verstehendes einheitliches Grundrecht (BVerfG, 2.Senat, 27.6.2017, 2 BvR 1333/17). Es erstreckt sich nicht nur auf die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten, für seinen Glauben zu werben und andere von ihrem Glauben abzuwerben. Hierunter fällt auch das Tragen religiöser Symbole wie etwa eines Kreuzes oder eines Kopftuches als Ausdruck religiöser Bekennung.
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Demgegenüber steht jedoch für den Bereich sämtlicher staatlicher Tätigkeit, darunter auch für das Handeln staatlicher Gerichte, die Pflicht zur weltanschaulich-religiöser Neutralität. Das Grundgesetz begründet für den Staat als Heimstatt aller Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3 S. 1, Art. 33 Abs. 3 GG sowie insbesondere aufgrund Art. 140 GG in Verbindung mit den fortgeltenden Artikeln 136 und 137 der Weimarer Reichsverfassung vom 11.8.1919 die Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität (BVerfG, 2.Senat, 27.6.2017, 2 BvR 1333/17).
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Die Grundentscheidung, die das Grundgesetz nach Artikel 140 in bewusster Tradition zur Weimarer Verfassung getroffen hat, ist somit die Gewährung individueller Religionsfreiheit einerseits sowie einer strikten Einhaltung des Gebots der religiöser Neutralität des Staates und seiner Organe auf der anderen Seite. Wesen des „Weimarer Kirchenkompromisses“ ist es, dass neben dem Grundrecht auf individuelle Religionsfreiheit sowie der Privilegierung bestimmter Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts auf der anderen Seite die Trennung von Staat und Kirche ein tragender Grundsatz der Verfassung ist. Der Grundsatz „Es gibt keine Staatskirche“ (Artikel 137 Abs. 1 WRV) fordert die Neutralität des Staates in religiösen Angelegenheiten. Artikel 136 Abs. 1 WRV schreibt mit der Aussage „Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt“ den Vorrang der Unantastbarkeit der staatsbürgerlichen Pflichten gegenüber jeder Einschränkung durch religiöse Tätigkeit vor. Diese Werteentscheidung wurde in Verbindung mit den vorbenannten Grundsätzen der Religionsfreiheit und der Privilegierung von Religionsgemeinschaften als Ausdruck des „Weimarer Kirchenkompromisses“ in der Sitzung des Verfassungsausschusses der Nationalversammlung am 3.4.1919 beschlossen und später mit großer Mehrheit durch das Plenum der Nationalversammlung verabschiedet (vergl. Kühne, Die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung, Schriften des Bundesarchivs 78, 2018, Bl. 530ff). Hieran knüpft das „Bonner Grundgesetz“ mit den Artikeln 4 und 140 bewusst an.
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Es ergeben sich auch keine abweichenden Ergebnisse aus dem Umstand, dass die Vorschrift des §39 DRiG für Schöffen keine Anwendung findet. Auch Schöffen sind Teil des Gerichtes. Auch sie unterliegen in ihrer Amtsführung dem Gebot der Treue zur Verfassung (§45 DRiG, vergl. OLG Dresden, 4.8.2017, 2 (S) AR 32/17).
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Folge ist, dass die Ausübung der individuellen Religionsfreiheit ihre Grenzen dort findet, wo sie in Ausübung staatlich-hoheitlicher Tätigkeit erfolgt. Das Grundgesetz gewährt einem Beschuldigten in einem gegen ihn geführten Strafverfahren, vor einem unabhängigen und unparteiischen Richter zu stehen, der die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber allen Verfahrensbeteiligten und dem Verfahrensgegenstand bietet. Neben der sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit des Richters (Art. 97 Abs. 1, Abs. 2 GG) ist es ein wesentliches Kennzeichen der Rechtsprechung, dass die richterliche Tätigkeit von einem nicht beteiligten Dritten ausgeübt wird. Diese Vorstellung einer neutralen Amtsführung ist mit den Begriffen wie „Richter“ und „Gericht“ unmittelbar verknüpft (BVerfG, 2.Senat, 27.6.2017, 2 BvR 1333/17). Konkret kann das als Ausdruck religiöser Bekennung erfolgende Tragen religiöser Symbole durch einen Richter oder eine Richterin für Angeklagte in einem Strafverfahren den Eindruck erwecken, Mitglieder des Gerichts würden sich zu einer bestimmten sittlichen Werteortung bekennen, hiernach leben und dieses Bekenntnis bewusst auch in die Ausübung des Richteramtes hineintragen.
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Gerade das Strafverfahren ist in der täglichen Praxis bestimmt von Tatvorwürfen, die ihren Ursprung in mannigfaltigen Konflikten innerhalb der Privatgesellschaft haben, bei denen regelmäßig das Werte- und Moralverständnis und der Konflikt zwischen dem Ausleben eines solchen Verständnisses mit den staatlich-gesetzlichen Regeln steht. Allein die Gefahr, dass durch das Tragen eines Kopftuches für Angeklagte die Befürchtung entstehen könnte, hier könne der mit der Anklage unterbreitete Vorwurf nach religiös-moralischen Kriterien und nicht unter strikter Einhaltung des staatlichen Neutralitätsgebotes beurteilt werden, führt dazu, dass eine Streichung der Schöffin geboten ist.
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Eine andere Lösung als die Streichung kommt nicht in Betracht, da sich die Schöffin ihrerseits auf Art. 4 GG berufen kann. Eine – etwa durch Androhung von Ordnungsgeld – bestehende Möglichkeit, die Schöffin zum Ablegen des Kopftuches zu zwingen, besteht nicht. Der bestehende „Konflikt“ ist daher vorgezeichnet und nicht lösbar. Folglich liegt ein „sonstiger“ Grund zu Streichung von der Schöffenliste nach §52 Abs. 1 Ziff. 1 GVG vor (zur grundsätzlichen Möglichkeit eines sonstigen Grundes zutreffend Schmitt, StPO, §52 GVG, 61. Auflage, Rdz.1).
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Referenzen
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