Beschluss vom Amtsgericht Minden - 32 F 53/07
Tenor
Den Kindeseltern wird die Gesundheitsfürsorge und das Aufenthaltsbestimmungsrecht im Rahmen der Gesundheitsfürsorge für das Kind X, geb. am 22.10.2002, entzogen und auf das Stadtjugendamt der Stadt M., das insoweit als Pfleger bestellt wird, über-tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben, außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
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G r ü n d e :
2I.
3Die Beteiligten zu 1. bis 2. sind die Eltern des betroffenen Kindes X. üben das Sorgerecht gemeinsam aus.
4Am 18.08.2006 erlitt X. im Rahmen einer diagnostischen Maßnahme einen Herz-Atem-Stillstand mit einem wahrscheinlich über mehr als 30 Minuten anhaltenden Sauerstoffmangel. Der Sauerstoffmangel hat unter anderem zu einem hypoxischen Hirnschaden geführt. Seit diesem Zeitpunkt befindet sich X. einem apallischen Zustand.
5Seit dem 11.09.2006 hält sich X. mit einer kurzen Unterbrechung als Patientin in der Pädiatrie der Reha-Klinik in H. auf. Aufgrund einer durchgeführten Rehabilitationsbehandlung mit pflegerischen, physiotherapeutischen, heilpädagogischen und ärztlichen Maßnahmen besserte sich der ursprüngliche Zustand von X. der trotz hoher Medikation von vegetativen Entgleisungen geprägt war, insoweit, als sie diese überwinden konnte. X. leidet an schweren Tetraspastiken, die durch die derzeitige Medikamentengabe in Form von Tabletten nicht ausreichend unter Kontrolle gebracht werden können. Die Gliedmaßen von X. sind versteift.
6In den letzten Wochen verschlechterte sich der Zustand von X. dahingehend, dass die vegetativen Phasen und die Schmerzphasen zugenommen haben.
7Bei Aufregungen und während einer Spastik lässt sie sich teilweise durch taktile Reize beruhigen. Unklar ist, ob sie zeitweise in der Lage ist, Personen mit den Augen zu fixieren.
8X. wird ausschließlich über eine transnasale Magensonde ernährt. Sie erhält sedierende und schmerzlindernde Mittel, die die Schmerzen weitgehend, jedoch nicht vollständig ausschließen können. Es ist zu vermuten, dass X. während eines Krampfanfalles durchaus Schmerzen leidet. Zumindest stößt sie Klagelaute, die an ein Weinen oder Schreien erinnern, aus. Bei entsprechender Pflege hat sie eine Lebenserwartung von noch mehreren Jahren, wobei sich ihr Zustand nicht mehr grundlegend ändert wird, da die Schädigung des Hirnes irreversibel ist.
9Die Eltern haben sich dazu entschlossen, X. mit nach Hause zu nehmen und die Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr unter palliativ-medizinischer Betreuung durch einen Facharzt zu beenden, was letztendlich zum Tode des Kindes führen soll.
10Sie vertreten die Auffassung, dass es dem Wohl von X. entspricht, sie "einschlafen" zu lassen. Aufgrund der irreversiblen Hirnschädigung sei ein bewusstes Leben für X. nicht mehr möglich und sie seien sich sicher, dass X. so nicht leben wolle.
11Mit Beschluss vom 24.01.2007 hat das Amtsgericht – Familiengericht – Minden den Kindeseltern die Gesundheitsfürsorge und das Aufenthaltsbestimmungsrecht im Rahmen der Gesundheitsfürsorge für das Kind X. im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache entzogen und auf das Jugendamt der Stadt M., das insoweit zum Pfleger bestellt wurde, übertragen.
12Im Verhandlungstermin zur Hauptsache vom 13. März 2007 hat das Gericht die Kindeseltern persönlich angehört. Die Verfahrenspflegerin von X. und der bestellte Pfleger hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Das Gericht hat im übrigen Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung des sachverständigen Zeugen Herrn C., Bereichsleiter der Pädiatrie der Klinik H..
13Wegen der Einzelheiten des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 13. März 2007 Bezug genommen.
14II.
15Die Entscheidung beruht auf § 1666 BGB.
16Nach dem Ergebnis der Anhörung der Beteiligten und der Vernehmung des Zeugen Herrn C. ist das Gericht zu dem Ergebnis gelangt, dass das Vorhaben der Eltern, X. sterben zu lassen, eine Kindeswohlgefährdung darstellt.
17Die gemäß § 1666 BGB erforderliche missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge setzt nicht voraus, dass es zum eigenen Vorteil und zur Befriedigung eigener Ziele dient. So kann auch in Fällen wie diesem, in denen die Eltern davon überzeugt sind, sie handelten zum Wohl des betroffenen Kindes, ein Sorgerechtsmissbrauch vorliegen.
18Die Kindeseltern haben nach Auffassung des Gerichts den ihnen nach § 1626 Abs. 1 BGB als Ausfluss des Grundrechts aus Artikel 6 GG eröffneten Ermessensspielraum im Hinblick auf die Frage, ob eine ärztliche Behandlung fortgeführt oder abgebrochen werden soll, durch ihr Vorhaben, X. den Abbruch der künstlichen Nahrungszufuhr sterben zu lassen, überschritten. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der Sterbevorgang palliativmedizinisch begleitet werden soll, um X. schmerzfrei zu halten.
19Grundsätzlich entscheiden die Eltern auch im Rahmen der Gesundheitsfürsorge eigenständig, was sie für das Beste für ihr Kind erachten. Hier bedeutet die Entscheidung der Eltern, die Zustimmung zur künstlichen Ernährung zu widerrufen, das X. stirbt. Bei derart irreversiblen Entscheidungen muss genau überprüft werden, ob der Rahmen des Elternrechts eingehalten wurde. Gesetzliche Vorgaben zur Frage der Sterbehilfe für Fälle wie diese gibt es nicht.
20Bei der Frage, ob X. sterben darf, ist mithin nach Ansicht des Gerichts folgendes zu berücksichtigen:
21Eine ärztliche Behandlung ist abzubrechen, wenn der einwilligungsfähige Patient seine Einwilligung widerruft. Bei einwilligungsunfähigen Patienten entscheiden die sorgeberechtigten Eltern oder bei Volljährigen die gegebenenfalls eingesetzten Betreuer entsprechend dem zu ermittelnden mutmaßlichen Willen des Patienten.
22Da X. zum Zeitpunkt des Vorfalles erst 3 Jahre alt war, kann hier ein mutmaßlicher Wille nicht ermittelt werden. Es reicht diesbezüglich auch nicht aus, dass die Eltern davon überzeugt sind, dass X. ein solches Leben nicht hätte führen wollen.
23In solchen Fällen kann und muss nach der Entscheidung des BGH vom 13.09.1994 (NJW 1995, Seite 204 ff.) auf Kriterien zurückgegriffen werden, die den allgemeinen Wertvorstellungen entsprechen (Erhebliche Bedenken äußernd allerdings OLG Karlsruhe in seinem Beschluss vom 29.10.2001, 19 WX 21/01: der Rückgriff auf Kriterien, die den allgemeinen Wertvorstellungen entsprechen, erscheine mit der hohe Bedeutung des Rechtsguts Leben nicht vereinbar). Welche diese Kriterien sind, führt der BGH zumindest in dieser Entscheidung nicht ausdrücklich aus. Jedenfalls aber verlangt er, dass im Zweifel der Schutz des menschlichen Lebens Vorrang vor persönlichen Überlegungen des Arztes oder der Angehörigen hat. Zu berücksichtigen sei zudem die Aussichtslosigkeit der ärztlichen Prognose und wie nahe der Patient dem Tode sei. Sind jedoch wesentliche Lebensfunktionen wie Atmung, Herzaktion und Kreislauf noch erhalten, komme ein Abbruch der Behandlung nur in Betracht, wenn er dem mutmaßlichen Willen des Patienten entspricht (BGH NJW 1995, Seite 205).
24Nach dem Ergebnis der Anhörung und der Beweisaufnahme steht fest, dass X. zwar einen irreversiblen hypoxischen Hirnschaden erlitten hat, der ein früheres "normales" Leben mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit niemals möglich werden lässt. Insoweit hat der Zeuge Herr C. ausgesagt, dass eine Verbesserung des Zustandes von X. höchstens bedeuten könne, dass mit Hilfe einer verbesserten Medikation der Teufelskreis von Schmerz und Spastik durchbrochen werden könne, was zu einer größeren Zufriedenheit von X. und zu einer größeren Teilhabe auf einer basalen, nicht aber kognitiven Ebene, an ihrer Umgebung führen könne.
25Jedenfalls sind unstreitig wesentliche Körperfunktionen erhalten geblieben:
26X. kann eigenständig atmen. Nierenfunktion, Herzfunktion und auch der Kreislauf funktionieren. Sie benötigt zwar regelmäßig sedierende und schmerzstillende Medikamente, leidet jedoch nur phasenweise an Schmerzen, sofern dies überhaupt feststellbar ist.
27Der Zeuge Herr C. hat weiter ausgesagt, dass X. auf taktile Reize reagiere und sich durch Berührungen beruhigen lasse. Den Kindeseltern zufolge gebe X. Klagelaute bei Schmerzen oder Unwohlsein von sich. Dies konnte die Verfahrenspflegerin, Frau Rechtsanwältin E., bestätigen. Überdies werde X., so die Verfahrenspflegerin, bei unbekanntem Lärm unruhig. Fraglich ist, ob X. in der Lage ist, ihr gegenüber für kurze Zeit mit den Augen zu fixieren. Hier klaffen möglicherweise Wunsch und Wirklichkeit der mit X. befassten Menschen auseinander.
28X. habe – so der Zeuge Herr C. – bei entsprechender Pflege und künstlicher Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr eine Lebenserwartung von mehreren Jahren.
29Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BGH und nach Abwägung des Elternrechts aus Artikel 6 GG mit dem Recht des Kindes auf Leben aus Artikel 2 Abs. 2 GG und der Würde von X. aus Artikel 1 GG muss nach Auffassung des Gerichts bei Abbruch der Behandlung eine Kindeswohlgefährdung angenommen werden. Bei X. handelt es sich gerade nicht um ein willenloses passives Objekt der Intensivmedizin, die ohne Sinn angewandt wird mit der Folge, dass ihre Würde gerade durch die Behandlung verletzt würde (hierzu allgemein: Hufen in NJW 2001, Seite 849 (851)).
30X. ist nicht nur im biologischen Sinne noch am Leben, sondern nimmt in einer sehr basalen - gesunden Menschen weitgehend verschlossen bleibenden – Art und Weise (Beruhigen durch taktile Reize, Unruhe bei Lärm, Klagelaute bei Unwohlsein) am Leben und ihrer Umgebung teil. Darüber hinaus ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass sich ihr Zustand bei verbesserter Medikation bessern kann, wenngleich X. aufgrund der Irreversibilität des Hirnschadens ihre kognitiven Fähigkeiten nicht wiedererlangen wird.
31Da die Eltern ihr Vorhaben, X. nach Hause zu nehmen, nur bis zum rechtskräftigen Abschluss dieses Verfahrens ausgesetzt haben, grundsätzlich aber an der Entscheidung festhalten, dass X. nicht mehr künstlich ernährt werden soll, war das Sorgerecht im Hinblick auf die Gesundheitsfürsorge und das Aufenthaltsbestimmungsrecht im Rahmen der Gesundheitsfürsorge den Kindeseltern zu entziehen und auf einen Dritten zu übertragen.
32Die Übertragung ist auch verhältnismäßig. Weniger einschneidende Maßnahmen kommen nicht in Betracht.
33Die Kostenentscheidung beruht auf § 13 a FGG, § 94 KostO.
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