Urteil vom Arbeitsgericht Arnsberg - 1 Ca 680/11
Tenor
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 225,-- € (i.W.: zweihundertfünfundzwanzig Euro) brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 22.08.2011 zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
Der Streitwert wird auf 225,-- € festgesetzt.
Die Berufung wird für die Beklagte zugelassen.
1
Tatbestand
2Die Parteien streiten um einen tariflichen Anspruch auf Jahressonderzahlung.
3Der Kläger ist seit dem 01.11.1994 bei der Beklagten als Fachwerker/Helfer beschäftigt.
4Auf das Arbeitsverhältnis finden kraft beiderseitiger Verbandszugehörigkeit die Tarifverträge der Beton- und Fertigteilindustrie und des Betonsteinhandwerks (Betonsteingewerbe) in Nordrhein-Westfalen Anwendung. Insbesondere findet auch der Rahmentarifvertrag der Beton- und Fertigteilindustrie und des Betonsteinhandwerks in NRW (RTV) Anwendung.
5§ 14 RTV enthält auszugsweise die nachfolgenden Bestimmungen:
6§ 14 RTV Jahressonderzahlung
7- Jeder Arbeitnehmer, dessen Beschäftigungsverhältnis am 31. Mai bzw. 30. November des laufenden Kalenderjahres ununterbrochen besteht und arbeitnehmerseitig nicht gekündigt ist, hat grundsätzlich Anspruch auf Gewährung einer Jahressonderzahlung. Bei gewerblichen Arbeitnehmern beträgt die Jahressonderzahlung in der Regelarbeitszeit (§ 3 Abschnitt I) 180 Tarifstundenlöhne, die jeweils zur Hälfte im Mai (90 Tarifstundenlöhne) und November (90 Tarifstundenlöhne) jedes Jahres fällig werden.
….
9- Der Arbeitnehmer erhält 1/12 der Jahressonderzahlung für jeden Beschäftigungsmonat. Als Beschäftigungsmonat gilt jeder Monat, in dem das Beschäftigungsverhältnis mindestens zwölf Arbeitstage bestanden hat oder für die Entgeltersatzleistungen gewährt wurden.
- Ausfallzeiten infolge eines Arbeitsunfalles gelten als Beschäftigungszeit.
- Für die Zeit des Erziehungsurlaubs besteht kein Anspruch auf Gewährung einer Jahressonderzahlung.
Auf der Grundlage dieser Regelungen betrug die maximal dem Kläger zu leistende Jahressonderzahlung im Jahr 2011 2.700,-- €.
13Der Kläger bezog vom 06.01.2011 bis einschließlich 04.02.2011 und vom 05.04.2011 bis zum 27.05.2011 Krankengeld.
14Im Hinblick auf diesen Krankengeldbezug zahlte die Beklagte mit der Abrechnung für den Monat Mai 2011 statt der maximalen hälftigen Jahressonderzahlung in Höhe von 1.350,-- € brutto lediglich einen Betrag in Höhe von 1.125,-- € brutto an den Kläger.
15Mit Schreiben vom 14.06.2011 machte der Kläger die Zahlung der weiteren 225,-- € gegenüber der Beklagten geltend.
16Mit seiner am 22.08.2011 erhobenen Klage verfolgt er diesen Anspruch weiter.
17Der Kläger ist der Ansicht, die Beklagte sei nach den tarifvertraglichen Vorschriften verpflichtet gewesen, ihm die ungekürzte Sonderzahlung im Monat Mai 2011 zu zahlen. Eine Kürzung der Sonderzahlungen für die Zeiten, in denen er Krankengeld bezogen habe, komme nicht in Betracht. Bei dem Krankengeld handele es sich um eine Entgeltersatzleistung, die nach § 44 Abs. 1 SGB V gerade deswegen gewährt werde, weil die Erwerbstätigkeit wegen Arbeitsunfähigkeit nicht verrichtet werden könne und damit das Erwerbseinkommen ausfalle. Auch das Bundesarbeitsgericht habe in seiner Entscheidung vom 19.04.2011 (3 AZR 350/09) ausgeführt, dass Krankengeldzahlungen keine Gehaltsleistungen, sondern Entgeltersatzleistungen seien. Auch der Gesetzgeber spreche beispielsweise in § 50 SGB IX beim Krankengeld von einer Entgeltersatzleistung.
18Wenn aber die Tarifvertragsparteien einen in der Rechtssprache üblichen Begriff verwenden, so sei davon auszugehen, dass sie ihn in diesem Sinne gebrauchen
19wollen. Für andere Auslegungsmethoden bliebe dann kein Platz.
20Der Kläger beantragt,
21wie erkannt.
22Die Beklagte beantragt,
23die Klage abzuweisen.
24Sie ist der Ansicht, die Auslegung des Klägers, dass die Jahressonderzahlung nicht zu kürzen sei, soweit der Arbeitnehmer Krankengeld beziehe, sei nicht haltbar. Soweit man nämlich der Ansicht sei, dass das Krankengeld eine Entgeltersatzleistung im Sinne des RTV sei, würde dies bedeuten, dass der Kläger trotz andauernder Arbeitsunfähigkeit (über ein Jahr) eine Jahressonderzahlung erhalten würde, obwohl kein sozialversicherungsrechtliches Beschäftigungsverhältnis mehr bestehe. Dies würde dann dazu führen, dass bezüglich der Jahressonderleistung keine Sozialversicherungsbeiträge zu entrichten seien, d. h. ein dauerkranker Arbeitnehmer würde eine höhere Jahressonderzahlung erhalten, als ein nicht arbeitsunfähiger Arbeitnehmer.
25Weiterhin sei zu beachten, dass bei der Auslegung des Klägers konsequenterweise auch einem Arbeitnehmer, der Arbeitslosengeld II erhalte, die Jahresssonderzahlung zu gewähren wäre. Ebenso wäre die Sonderzahlung auch einem Arbeitnehmer zu gewähren, der eine Erwerbsminderungsrente beziehe. Diese Beispiele verdeutlichten, dass vom Sinn und Zweck des RTV nur die Begriffe Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und Urlaubsentgelt von dem Begriff der Entgeltersatzleistung umfasst seien.
26Ergänzend weist die Beklagte auch auf § 14 Abs. 3 RTV hin. Wenn dort aufgeführt sei, dass Ausfallzeiten infolge eines Arbeitsunfalls als Beschäftigungszeiten gelten. So verdeutliche dies im Umkehrschluss, dass bei "normalen Krankheiten" über den sechswöchigen Entgeltfortzahlungszeitraum hinausgehende Ausfallzeiten gerade nicht als Beschäftigungszeiten gelten. Vom Sinn und Zweck der tariflichen Regelung her seien daher Zeiten, in denen wegen einer "normalen Krankheit" Krankgeld bezogen werde, bei der Jahressonderzahlung nicht zu berücksichtigen.
27Zudem gehe der Gesetzgeber bei der Berechnung des Krankengeldes in § 47 Abs. 2 Satz 6 SGB V davon aus, dass Einmalzahlungen zu berücksichtigen seien. Wenn aber während des Bezugs von Krankengeld einerseits Einmalzahlungen bei der Höhe des Krankengeldes zu berücksichtigen seien und diese Einmalzahlungen zusätzlich zu leisten seien, so würde der betroffene Arbeitnehmer deutlich besser gestellt als alle anderen Arbeitnehmer, die durchgearbeitet hätten. Dies sei weder vom Gesetzgeber noch von den Tarifvertragsparteien gewollt.
28Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Protokollerklärungen Bezug genommen.
29Entscheidungsgründe
30I.
31Die Klage ist begründet.
32Der Kläger hat bezogen auf die mit der Abrechnung für den Monat Mai 2011 zur Auszahlung gebrachte Jahressonderzahlung einen Nachzahlungsanspruch in Höhe von 225,-- € brutto. Nach den tarifvertraglichen Vorschriften stand ihm bezogen auf den Auszahlungsstichtag 31.05.2011 ein Zahlungsanspruch in Höhe von 1.350,-- € brutto zu. Dies ergibt die Auslegung der tarifvertraglichen Vorschriften.
331)
34Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages folgt nach ständiger Rechtsprechung den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Dabei ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei einem nicht eindeutigen Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, dann können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages gegebenenfalls auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorrang, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (BAG, Urteil vom 06.07.2006, 2 AZR 587/05, Juris).
352)
36Nach diesen Grundsätzen stand dem Kläger bezogen auf den Auszahlungsstichtag 31.05.2011 eine Jahressonderzahlung in Höhe von 1.350,-- € zu. Diese Jahressonderzahlung war nicht bezogen auf Zeiten zu kürzen, in denen der Kläger Krankengeld bezogen hat.
37a)
38Insofern erscheint es zunächst schon nicht verständlich, weshalb die Beklagte an den Kläger bezogen auf den Auszahlungsstichtag 31.05.2011 einen Betrag in Höhe von 1.125,-- € zur Auszahlung gebracht hat. Hätte die Beklagte ihren Gedanken, dass die Sonderzahlung für Zeiten des Krankengeldbezuges zu kürzen sei, konsequent durchgehalten, so hätte eine weitergehende Kürzung des Anspruchs des Klägers erfolgen müssen, da dieser bei Nichtberücksichtigung der Krankengeldzeiträume in drei Monaten des ersten Halbjahres 2011 die Anspruchsvoraussetzungen nach dem RTV nicht erfüllt hätte.
39b)
40Unabhängig hiervon ergibt die Auslegung der tarifvertraglichen Vorschriften nach den oben angeführten Grundsätzen, dass dem Kläger auch für die Zeiten, in denen er Krankengeld bezogen hat, die tarifliche Sonderzuwendung in voller Höhe zu zahlen ist.
41aa)
42Dieses Ergebnis ergibt sich schon auf der Grundlage der Wortlautauslegung. Bei dem Krankengeld handelt es sich um eine Entgeltersatzleistung im Sinne der Rechtssprache. Insofern kann einerseits auf die vom Kläger zitierte Vorschrift des § 50 SGB IX als auch auf die ebenfalls vom Kläger zitierte Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG, Urteil vom 19.04.2011, 3 AZR 350/09, Juris) Bezug genommen werden.
43Damit bestätigt schon der Tarifwortlaut eindeutig das Auslegungsergebnis des Klägers.
44bb)
45Da der Tarifwortlaut eindeutig ist, bedarf es einer Berücksichtigung weiterer Umstände nicht.
46Selbst wenn man die von der Beklagten angesprochenen Gesichtspunkte im Gesamtzusammenhang berücksichtigt, ergibt sich keine andere Bewertung. Soweit die Beklagte darauf hinweist, dass erkrankte Arbeitnehmer während des Krankengeldbezugs durch die tarifliche Regelung eine (zu) positive Behandlung erfahren, so mag dies für die Tarifvertragsparteien Anlass sein, die tarifliche Regelung zu korrigieren. Die günstige Behandlung der Krankengeldbezieher ändert die tarifliche Regelung als solche aber nicht. Wenn die Tarifvertragsparteien eine andere – möglicherweise "gerechtere" - Regelung gewollt haben, so hätten sie dies im Tarifwerk zum Ausdruck bringen müssen.
47Es sind aber im Tarifwerk keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass in Zeiten eines Krankengeldbezugs die Sonderleistung zu kürzen wäre. Einen solchen Anhaltspunkt bietet auch nicht § 14 Abs. 3 RTV. Zwar privilegiert diese Vorschrift den Arbeitsunfall gegenüber sonstigen Krankheiten. Dies bedeutet aber nicht zwingend, dass bei sonstigen Erkrankungen Zeiten des Krankengeldbezugs nicht zu berücksichtigen seien. Die Vorschrift kann vielmehr auch dahingehend ausgelegt werden, dass bei Arbeitsunfällen anders als bei sonstigen Erkrankungen auch über die Zeiten des Krankengeldbezugs hinaus Krankheitszeiten im Rahmen des § 14 RTV als Beschäftigungszeiten zu berücksichtigen sind.
48cc)
49Nach alledem stand dem Kläger bezogen auf den Auszahlungsstichtag 31.05.2011 ein Anspruch auf Jahressonderzahlung in Höhe von 1.350,-- € zu. Da die Beklagte diesen nur in Höhe von 1.125,-- € erfüllt hat, ergibt sich ein Nachzahlungsanspruch in Höhe von 225,-- €.
50Der Zinsanspruch ergibt sich aus dem Gesichtspunkt des Verzuges.
51II.
52Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 Abs. 1 ZPO. Die Streitwertfestsetzung erfolgt gemäß §§ 61 ArbGG, 3 ZPO. Maßgeblich ist der Nominalbetrag der Klage.
53Obwohl der Wert des Beschwerdegegenstandes vorliegend 600,-- € nicht übersteigt, ist die Berufung gemäß § 64 Abs. 3 Nr. 2 b ArbGG zuzulassen. Denn die Rechtssache betrifft eine Rechtsstreitigkeit über die Auslegung eines Tarifvertrages, dessen Geltungsbereich sich über den Bezirk des Arbeitsgerichts Arnsberg hinaus erstreckt.
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Referenzen
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