Urteil vom Arbeitsgericht Köln - 9 Ca 9134/12
Tenor
1 Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.303,36 € zu zahlen.
2 Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
3 Der Streitwert beträgt 1.303,36 €.
4 Die Berufung wird gesondert zugelassen.
1
T a t b e s t a n d:
2Die Parteien streiten über die Verpflichtung der Beklagten zur Erstattung von Krankengeld an die Klägerin.
3Die Klägerin ist eine gesetzliche Krankenkasse. Ihr Mitglied, Herr ..., war seit 2007 bei der Beklagten beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis unterlag dem allgemeinverbindlichen Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe (BRTV), welcher in § 15 eine zweistufige Ausschlussfrist von jeweils zwei Monaten vorsah.
4Ab dem 23.11.2011 war der alkoholabhängige Herr ... infolge eines Sturztrunks für über zehn Monate arbeitsunfähig erkrankt. Mit Schreiben vom 28.11.2011 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis fristlos. Hiergegen erhob Herr ... Kündigungsschutzklage. Die Klägerin leistete an ihn für den Zeitraum 29.11.2011 bis 30.12.2011 Krankengeld in Höhe von 1.303,36 EUR. Mit Schreiben vom 5.3.2012 erklärte die Beklagte gegenüber der Klägerin, dass sie für den Fall, dass das Arbeitsverhältnis durch Urteil oder Vergleich im Arbeitsgerichtsverfahren verlängert würde, auf die Einrede des Lohnverfalls verzichte. Am 21.6.2012 verständigten sich Herr ... und die Beklagte in dem Kündigungsschutzverfahren vergleichsweise auf eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 30.12.2011. Mit Schreiben vom 18.7.2012 verlangte die Beklagte über den Prozessbevollmächtigten des Herrn .... Auskunft über „alle für die Entstehung der behaupteten Alkoholabhängigkeit erheblichen Umstände“. Eine Auskunft hierzu seitens Herrn ....erfolgte nicht.
5Die Klägerin machte mit Schreiben vom 19.7.2012 ihre Ansprüche auf Entgeltfortzahlung aus übergegangenem Recht gegenüber der Beklagten geltend. Die Beklagte ließ die Ansprüche mit Schreiben vom 30.7.2012 zurückweisen. Am 6.11.2012 beantragte die Beklagte den Erlass eines Mahnbescheides, gegen den die Beklagte rechtszeitig Widerspruch einlegte.
6Die Klägerin ist der Auffassung, dass die Beklagte verpflichtet war, Herrn ... bis zum 30.12.2011 Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zu leisten. Der Anspruch sei nach § 115 Abs. 1 SGB X auf sie übergegangen.
7Die Klägerin beantragt,
8Die Beklagte wird verurteilt, ihr das gezahlte Krankengeld für die Zeit vom 29.11.2011 bis 30.12.2011 in Höhe von 1.303,36 € zu erstatten.
9Die Beklagte beantragt,
10die Klage abzuweisen.
11Sie ist der Auffassung, dass die Ansprüche verfallen seien. Zudem fehle es an einer unverschuldeten Arbeitsunfähigkeit. Aufgrund der fehlenden Mitwirkung des Arbeitnehmers, Herrn.... , sei von einem grob fahrlässigen Verschulden gegen sich selbst auszugehen.
12Im Übrigen wird auf den Inhalt der beiderseitigen Schriftsätze nebst Anlagen sowie der Terminsprotokolle verwiesen.
13Entscheidungsgründe:
14I.
15Die Klage ist begründet. Die Klägerin kann gemäß §§ 3 f. EFZG, 115 Abs. 1 SGB X von der Beklagten aus übergegangenem Recht Zahlung der zunächst Herrn ... für den Zeitraum 29.11.-30.12.2011 zustehenden Entgeltfortzahlung in Höhe von 1.303,36 EUR verlangen. Der Anspruch ist gemäß § 115 Abs. 1 SGB X deswegen auf die Klägerin übergegangen, weil diese an Herrn .... für den genannten Zeitraum entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen (§§ 44 ff. SGB V) Krankengeld in dieser Höhe geleistet hat.
161) Der Anspruch der Klägerin auf Entgeltfortzahlung ist nicht aufgrund der in § 15 BRTV geregelten Ausschlussfristen verfallen. Beide Stufen der Ausschlussfrist wurden bereits durch die Kündigungsschutzklage des Herrn ... gewahrt. Zudem ist es der Beklagten aufgrund ihres Einredeverzichts vom 5.3.2012 nach den Grundsätzen von Treu und Glauben (§ 242 BGB) verwehrt, sich auf den Verfall der Ansprüche zu berufen.
17a) Beide Stufen der tariflichen Ausschlussfrist wurden bereits durch die Klageerhebung des Herrn ... gegen die ihm von der Beklagten erklärte Kündigung gewahrt.
18aa) Ein Arbeitgeber kann gegenüber einem Sozialleistungsträger, auf den ein Anspruch auf Arbeitsentgelt übergegangen ist, dieselben Einwendungen geltend machen wie vor dem Übergang gegen den Arbeitnehmer (BAG v. 19.2.2003 - 4 AZR 168/02, juris-Rz. 35; v. 17.4.1986 - 2 AZR 308/85, juris-Rz. 45). Rechtshandlungen des Arbeitnehmers zur Erhaltung des Entgeltanspruchs – wie etwa die Klageerhebung in Hinblick auf Ausschlussfristen - wirken zu Gunsten des Sozialleistungsträgers (BAG v. 19.2.2003 - 4 AZR 168/02, juris-Rz. 38; Kasseler Kommentar/Kater, 77. Ergänzungslieferung 2013, § 115 SGB X Rz. 40).
19bb) Die Erhebung einer Kündigungsschutzklage wahrt tarifliche Ausschlussfristen zur schriftlichen Geltendmachung nach ständiger Rechtsprechung für solche Ansprüche, die für den Arbeitgeber erkennbar mit dem Fortbestand des Arbeitsverhältnisses im Normalfall verbunden sind (BAG v. 17.11.2009 - 9 AZR 745/08, Rz. 26; v. 14.12.2005 - 10 AZR 70/05, Rz. 24; LAG Niedersachsen v. 30.11.2012 - 6 Sa 513/12, juris-Rz. 27). Im Nachgang zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 1.12.2010 (Az. 1 BvR 1682/07) hat das Bundesarbeitsgericht darüber hinaus zu Recht entschieden, dass ein Arbeitnehmer mit Erhebung einer Bestandsschutzklage die von deren Ausgang abhängigen Vergütungsansprüche "gerichtlich geltend" macht und damit auch die zweite Stufe einer tariflichen Ausschlussfrist wahrt (BAG v. 9.9.2012 - 5 AZR 627/11).
20cc) Die streitgegenständlichen Entgeltfortzahlungsansprüche für den Zeitraum 29.11.-30.12.2011 setzen zuvörderst das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses zwischen Herrn ... und der Beklagten in diesem Zeitraum voraus. Sie treten an Stelle des bei unwirksamer fristloser Kündigung grundsätzlich geschuldeten Annahmeverzuglohns (§ 615 Satz 1 BGB).
21dd) Durch seine Kündigungsschutzklage hat Herr ... die Ausschlussfrist zur schriftlichen und gerichtlichen Geltendmachung auch seiner von der Wirksamkeit der Kündigung abhängenden Entgeltfortzahlungsansprüche gewahrt. Dies obwohl – wie die Einwände der Beklagten zeigen – nicht nur der Bestand des Arbeitsverhältnisses, sondern im nunmehrigen Prozess auch weitere Anspruchsvoraussetzungen seines Entgeltfortzahlungsanspruchs streitig waren.
22(1) Den Wertungen des Bundesverfassungsgerichts in seiner genannten Entscheidung (v. 1.12.2010 - 1 BvR 1682/07) folgend kann der nach Abschluss des Kündigungsrechtsstreit entstehende Streit über weitere Anspruchsvoraussetzungen eines vom Ausgang dieses Prozesses abhängigen Zahlungsanspruchs nicht ohne Weiteres dazu führen, dass der Arbeitnehmer zur Wahrung einer tariflichen Ausschlussfrist seine Ansprüche noch während des laufenden Kündigungsschutzverfahrens gerichtlich geltend machen müsste. Denn auch das würde – jedenfalls für die zweite Stufe einer solchen Ausschlussfristenklausel – aufgrund der daraus folgenden Notwendigkeit zur separaten klageweisen Geltendmachung dieser Ansprüche und des dadurch erhöhten Kostenrisikos - zu einer unverhältnismäßigen Beeinträchtigung der Rechtsschutzmöglichkeiten des Arbeitnehmers in Bezug auf die Kündigung führen. Der Streitwert des gerichtlichen Verfahrens würde infolge der Erhöhung durch die – auch vom Ausgang des Kündigungsrechtsstreits abhängigen - Zahlungsansprüche unter Umständen weit über die vom Gesetzgeber in § 42 Abs. 3 Satz 1 GKG festgelegte Beschränkung auf ein Vierteljahresentgelt erhöht.
23(2) Deshalb hindert nach Auffassung der Kammer etwa das nachfolgende Bestreiten einer tatsächlich vorliegenden Arbeitsunfähigkeit durch den Arbeitgeber nicht, dass der Arbeitnehmer bereits durch die Kündigungsschutzklage die tarifliche Ausschlussfrist zur gerichtlichen Geltendmachung von Entgeltfortzahlungsansprüchen wahrt, die bei Unwirksamkeit der Kündigung für die Zeit nach Zugang der (fristlosen) Kündigung bzw. nach Auslaufen der Kündigungsfrist bestehen. Gleiches gilt, wenn das Tatbestandsmerkmal des § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG „ohne Verschulden“ nachträglich in Streit gerät. Denn bei bestehender krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit kann das Bestehen eines Entgeltfortzahlungsanspruchs – bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen (vgl. § 3 Abs. 3 EFZG) – als „Normalfall“ angesehen werden.
24Macht der Arbeitgeber nicht schon parallel zum Streit über die Wirksamkeit der Kündigung den Einwand geltend, ein Entgeltfortzahlungsanspruch scheide wegen des Verschuldens des Arbeitnehmers an der Arbeitsunfähigkeit aus, ist parallel zur Kündigungsschutzklage eine klageweise Geltendmachung nicht erforderlich. Denn für den Arbeitnehmer ist dann – anders als in dem vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fall des Eingruppierungsstreits (vgl. BAG v. 14.12.2005 - 10 AZR 70/05, Rz. 25) – nicht erkennbar, dass der Entgeltfortzahlungsanspruch nicht nur wegen des Streits über den Bestand des Arbeitsverhältnisses streitig ist.
25(3) Wurde durch die Kündigungsschutzklage des Herrn ... bereits die zweite Stufe der tariflichen Ausschlussfrist aus § 15 BRTV gewahrt, ist auch damit die erste Stufe gewahrt.
26b) Jedenfalls in Bezug auf die Wahrung der zweiten Stufe der Verfallfrist ist es der Beklagten zudem verwehrt, sich auf den Verfall des Entgeltfortzahlungsanspruchs zu berufen. Denn die Beklagte hat gegenüber der Klägerin mit Schreiben vom 5.3.2012 rechtswirksam auf die Einrede des Verfalls verzichtet.
27aa) Ein Schuldner ist nach den Grundsätzen von Treu und Glauben (§ 242 BGB) gehindert, sich auf eine Ausschlussfrist zu berufen, wenn er die zur Fristversäumung führende Untätigkeit des Gläubigers veranlasst hat. Das wird angenommen, wenn der Schuldner durch positives Tun oder durch pflichtwidriges Unterlassen dem Gläubiger die Geltendmachung des Anspruchs oder die Einhaltung der Frist erschwert oder unmöglich gemacht hat bzw. an objektiven Maßstäben gemessen den Eindruck erweckt hat, der Gläubiger könne darauf vertrauen, dass der Anspruch auch ohne Wahrung einer tariflichen Ausschlussfrist erfüllt werde (vgl. BAG v. 18.8.2011 - 8 AZR 187/10, Rz. 46; v. 10.10.2002 - 8 AZR 8/02, juris-Rz. 37; Hess. LAG v. 13.8.2012 - 16 Sa 1718/11, juris-Rz. 28). Dies gilt insbesondere im Fall eines Verzichts auf die Geltendmachung einer tariflichen Ausschlussfrist (vgl. BAG v. 17.4.1986 - 2 AZR 308/85, juris-Rz. 52 f.; LAG Rheinland-Pfalz v. 15.12.2011 - 10 Sa 543/11, juris-Rz 45; ArbG Dortmund v. 18.8.2011 - 3 Ca 1733/11, juris-Rz. 68).
28bb) Dadurch dass die Beklagte den offensichtlich von der Klägerin vorformulierten Verzicht auf die „Einrede des Lohnverfalls“ unterschrieben an die Klägerin zurückgesandt hat, ist es ihr nach Treu Glauben verwehrt, sich auf die in diesem Zeitpunkt noch nicht abgelaufene Frist zur Wahrung der zweiten Stufe der Verfallfrist aus § 15 Ziff. 2 BRTV zu berufen. Denn angesichts der Erklärung, „für den Fall, dass das Arbeitsverhältnis durch […] Vergleich verlängert wird“, gegenüber der Klägerin auf die Einrede des Lohnverfalls zu verzichten, konnte die Klägerin davon ausgehen, dass die Beklagte ihr bei späterem Streit über die Entgeltfortzahlungsansprüche des Herrn Löder die Ausschlussfrist nicht entgegen halten würde. Es ist davon auszugehen, dass sie deshalb von einer unmittelbaren Klageerhebung noch vor Beendigung des Kündigungsrechtsstreits abgesehen hat. Die Ansprüche hingen von der Wirksamkeit der Kündigung (als fristlose Kündigung) ab. Die Formulierung „Lohnverfall“ deckt nach Auffassung der Kammer bei verständiger Würdigung (§§ 133, 157 BGB) auch Lohnersatzleistungen wie die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.
292) Dem Entgeltfortzahlungsanspruch steht nicht der Einwand des Verschuldens an der Arbeitsunfähigkeit (vgl. § 3 Abs. 1 EFZG) entgegen.
30a) Der Arbeitnehmer der Beklagten, Herr... , war im Zeitraum vom 29.11.2011 bis 30.12.2011 in stationärer Behandlung und unstreitig arbeitsunfähig erkrankt. Die stationäre Behandlung war ausweislich des zur Gerichtsakte gereichten sozialmedizinischen Gutachtens (Anlage zum SS v. 22.5.2013, Bl. 60 ff. der Gerichtsakte) aufgrund einer akuten Alkoholintoxikation mit Vigilanzminderung (Koma) und Beatmungspflichtigkeit notwendig (vgl. S. 3 des Gutachtens). Die Gutachterin kommt am 14.5.2013 zu dem Schluss, dass bei Herrn ... „zweifelsfrei“ eine langjährige, chronische Alkoholkrankheit mit typischen Folgeerkrankungen bestehe und bewertet den Alkoholexzess vom 23.11.2011 als Rückfall. Die Beklagte ist dem Vortrag der bei Herrn ... bestehenden Alkoholabhängigkeit zuletzt nicht mehr entgegen getreten.
31b) Die Arbeitsunfähigkeit des Herrn ... vom 29.11.2011 bis zum 30.12.2011 war nicht deshalb als selbst verschuldet anzusehen, weil die zugrunde liegende Alkoholabhängigkeit verschuldet herbeigeführt wurde. Abweichend von den durch das Bundesarbeitsgericht aufgestellten Grundsätzen hält die Kammer dafür, dass es auf die Frage des Verschuldens an der der aktuellen Arbeitsunfähigkeit zugrunde liegenden Alkoholabhängigkeit nicht ankommt.
32aa) In ständiger Rechtsprechung erkennt das Bundesarbeitsgericht Alkoholabhängigkeit als Krankheit an. Generell soll einen Arbeitnehmer kein Schuldvorwurf treffen, wenn er infolge seiner Abhängigkeit gegen arbeitsvertragliche Pflichten verstößt (zuletzt BAG v. 20.12.2012 - 2 AZR 32/11, Rz. 14). Entsprechend soll ein Verschulden des Arbeitnehmers an einer alkoholbedingten Arbeitsunfähigkeit grundsätzlich ausscheiden, wenn der Arbeitnehmer alkoholabhängig ist (vgl. BAG v. 1.6.1983 - 5 AZR 536/80, juris-Rz. 17). Der Senat führt in seiner Entscheidung aus, dass die körperliche und psychische Abhängigkeit vom Alkohol, die es dem Patienten nicht mehr erlaube, mit eigener Willensanstrengung vom Alkohol loszukommen, ein Verschulden des Erkrankten an der alkoholbedingten Arbeitsunfähigkeit ausschließe. Schuldhaft im Sinne der Lohnfortzahlungsbestimmungen könne ein Arbeitnehmer deshalb nur vor Eintritt der (Grund-) Erkrankung handeln. Schuldhaft handelt der Arbeitnehmer, der gröblich gegen die von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhaltensweise verstößt (BAG v. 11.11.1987 - 5 AZR 497/86, juris-Rz. 14).
33Zur Frage des Verschuldens hinsichtlich der Alkoholabhängigkeit revidiert der Senat in seiner Entscheidung vom 1.6.1983 ausdrücklich seine bis dahin vertretene Auffassung, dass diese in der Regel als selbstverschuldet anzusehen sei mit der Folge, dass der Arbeitnehmer für das Gegenteil darlegungs- und beweisbelastet sei. Aufgrund neuerer medizinischer Erkenntnisse kommt das Gericht zu dem Schluss, dass es keinen Erfahrungssatz dahingehend gebe, eine Alkoholabhängigkeit sei in der Regel selbstverschuldet. Entsprechend bleibe es bei der grundsätzlichen Darlegungs- und Beweislastverteilung dahingehend, dass der Arbeitgeber das Verschulden des Arbeitnehmers für die Alkoholabhängigkeit darzulegen und ggf. zu beweisen habe (vgl. BAG v. 1.6.1983 - 5 AZR 536/80, juris-Rz. 23 ff., 31 f., v. 11.11.1987 - 5 AZR 497/86, juris-Rz. 14; v. 27.5.1992 – 5 AZR 297/91, juris-Rz. 16, 19).
34Diese Grundsätze sollen auch für den Fall gelten, dass sich der alkoholabhängige Arbeitnehmer vor seiner aktuellen Erkrankung bereits einer intensiven stationären Entwöhnungsbehandlung unterzogen habe. Allerdings gehe es dann nicht mehr allein darum, ob er die Entstehung seiner Alkoholabhängigkeit verschuldet hat oder nicht, sondern nunmehr vor allem darum, ob er sich ein Verschulden an der wiederholten Erkrankung entgegenhalten lassen müsse oder nicht (BAG v. 11.11.1987 - 5 AZR 497/86, juris-Rz. 15). Der Arbeitnehmer, der eine Entziehungskur durchgemacht hat, kenne die Gefahren des Alkohols für sich sehr genau. Er sei bei der Behandlung eingehend darauf hingewiesen und weiter dringend ermahnt worden, in Zukunft jeden Alkoholgenuss zu vermeiden. Werde er nach erfolgreicher Beendigung einer Entwöhnungskur und weiter nach einer längeren Zeit der Abstinenz dennoch wieder rückfällig, so spreche die Lebenserfahrung dafür, dass er die ihm erteilten dringenden Ratschläge missachte und sich wieder dem Alkohol zugewandt habe. Dieses Verhalten würde im Allgemeinen den Vorwurf eines "Verschuldens gegen sich selbst" begründen (BAG v. 11.11.1987 - 5 AZR 497/86, juris-Rz. 16). Es sei dem alkoholabhängigen Arbeitnehmer dagegen nicht zum Vorwurf zu machen, wenn er sich bei dem Rückfall in einem Zustand befand, in dem er auf sein Verhalten wegen mangelnder Steuerungsfähigkeit willentlich keinen Einfluss haben nehmen können (v. 27.5.1992 – 5 AZR 297/91, juris-Rz. 23).
35Allerdings treffe den Arbeitnehmer die (Neben-) Pflicht zur Mitwirkung an der Aufklärung der Ursachen der Erkrankung. Dem Arbeitgeber sei es kaum möglich, die für die Entstehung der Krankheit erheblichen Umstände, die aus dem Lebensbereich des Arbeiters herrührten, im Einzelnen darzulegen. Deshalb müsse der Arbeitnehmer diese dem Arbeitgeber auf Verlangen offenbaren. Erst danach könne sich der Arbeitgeber darüber schlüssig werden, ob er zur Entgeltfortzahlung verpflichtet sei oder nicht. Verletze der Arbeitnehmer seine Mitwirkungspflichten, gehe das zu seinen Lasten (vgl. BAG v. 1.6.1983 - 5 AZR 536/80, juris-Rz. 33; v. 7.8.1991 - 5 AZR 410/90, juris-Rz. 12).
36bb) Auf diese Rechtsprechung stützt die Beklagte – die zu den Ursachen der Alkoholabhängigkeit ihres ehemaligen Arbeitnehmers nichts vorzutragen weiß – ihre Verteidigung und ist der Auffassung, dass aufgrund des fehlenden Mitwirkens der Anspruchstellerseite an der Aufklärung der Abhängigkeitsursachen von einem anspruchsausschließenden Verschulden auszugehen sei.
37cc) In der Literatur sind die vom Bundesarbeitsgericht aufgestellten Grundsätze weitgehend anerkannt. Zur Frage des Verschuldens bei Suchterkrankungen wird der Arbeitnehmer als zur Mitwirkung verpflichtet angesehen. Komme er dieser Verpflichtung nicht nach, sei von einem Verschulden gegen sich selbst auszugehen. Das Risiko der Unaufklärbarkeit trage allerdings der Arbeitgeber (MüKo/Müller-Glöge, 6. Aufl., § 3 EFZG Rz. 43; ebenso MüHdbArbR/Schlachter, 3. Aufl., § 73 Rz. 46 f.; ErfK/Dörner/Reinhard, 13. Aufl., § 3 EFZG Rz. 27; HWK/Schliemann, 5. Aufl., § 3 EFZG Rz. 62; DFL/Vossen, 5. Aufl., § 3 EFZG Rz. 33). Allerdings wird teilweise betont, dass es auch beim „Rückfall“ keinen generellen Erfahrungssatz gebe, der den Schluss auf ein Eigenverschulden des Arbeitnehmers rechtfertige (MüHdbArbR/Schlachter, § 73 Rz.47; ErfK/Dörner/Reinhard, § 3 EFZG Rz. 27; Künzl, NZA 1998, 122 [127]; Fleck/Körkel, BB 1995, 722 [723]).
38dd) Nach Auffassung der Kammer kommt es nicht auf die Frage an, ob Herr ... seine Alkoholabhängigkeit selbst verschuldet hat oder nicht.
39(1) Die Frage des Verschuldens eines alkoholabhängigen Arbeitnehmers an seiner Suchterkrankung ist nur dann im Sinne von § 3 Abs. 1 EFZG relevant, wenn es sich zugleich unmittelbar auf die Ursachen der aktuellen Arbeitsunfähigkeit bezieht [dazu unter (a)]. Dies wird regelmäßig nicht der Fall sein und ist es auch vorliegend nicht (dazu unter [b]). Das Verschulden an dieser „Grunderkrankung“ ist zudem regelmäßig nicht justitiabel [dazu unter (c)].
40(a) § 3 Abs. 1 EFZG knüpft an das (fehlende) Verschulden des Arbeitnehmers an der Arbeitsunfähigkeit an. In den Fällen, in denen nicht der schwer bestimmbare Zustand der Abhängigkeit, sondern eine mittelbar hieraus resultierende akute Erkrankung oder Behandlungsbedürftigkeit Ursache der fehlenden Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers ist, ist nach Auffassung der erkennenden Kammer im Rahmen des § 3 Abs. 1 EFZG mithin allein ein etwaiges Verschulden des Arbeitnehmers bezogen auf diese Ursachen der Arbeitsunfähigkeit relevant.
41Das heißt, dass im konkreten Einzelfall zu prüfen ist, welche Umstände zu einem Alkoholmissbrauch mit anschließender Arbeitsunfähigkeit geführt haben. Es ist dann sowohl vorstellbar, dass bei wertender Beurteilung ein im Rahmen des § 3 Abs. 1 EFZG beachtliches Verschulden ausscheidet, etwa weil der Arbeitnehmer unter dem Einfluss seiner Grunderkrankung selbst unter zumutbarer Anspannung seiner Erkenntnis- und Willenskräfte nicht in der Lage gewesen wäre, den Alkoholkonsum zu vermeiden. Ebenso ist jedoch vorstellbar, dass den Arbeitnehmer insoweit ein erhebliches Verschulden gegen sich selbst trifft, etwa weil er sich aufgrund seiner Krankheitsvorgeschichte und nach ausreichender Aufklärung grob fahrlässig in eine Situation begeben hat, welche die unabweisbar oder jedenfalls für ihn erkennbare hohe Gefahr eines Rückfalls barg (vgl. etwa die Überlegungen bei Bengelsdorf, NZA 1999, 1304 [1307 f.]; ErfK/Dörner/Reinhard, § 3 EFZG Rz. 27 aE).
42Dagegen stellt eine Gesetzesauslegung dahingehend, dass es auf das Verschulden bei der Entstehung der Grunderkrankung ankommt, regelmäßig eine die Verschuldensfrage mit Blick auf die für materielle Gesetze zu fordernde Regelungsklarheit und -eindeutigkeit (Art. 20 Abs. 3 GG) problematische Vorverlagerung auf (bloß) mittelbare Ursachen und Verschuldensbeiträge dar. Lediglich, wenn der Umstand der Alkoholabhängigkeit selbst die maßgebliche Ursache für die Arbeitsunfähigkeit darstellt (etwa wegen der allein schon daraus resultierenden stationären Behandlungsbedürftigkeit), kann sich die Verschuldensfrage unmittelbar bezogen auf die Verantwortlichkeit des Arbeitnehmers an der Suchterkrankung stellen.
43(b) Der streitgegenständliche Entgeltfortzahlungsanspruch wurde durch eine akute Alkoholintoxikation des schon langjährig alkoholabhängigen Arbeitnehmers der Beklagten ausgelöst. Die Arbeitsunfähigkeit im Zeitraum 29.11.2011 bis 30.12.2011 war durch die zahlreichen aus der Anlage zum Klägerschriftsatz vom 21.2.2013 ersichtlichen Krankheitszustände (vgl. Bl. 51 ff. der Gerichtsakte) verursacht. Für die Frage des Verschuldens im Sinne von § 3 Abs. 1 EFZG kommt es mithin auf den Verursachungsbeitrag des Arbeitnehmers an diesen konkreten Ursachen seines Ausfalls, nicht dagegen auf sein Verschulden hinsichtlich der langjährig bestehenden Alkoholabhängigkeit an.
44(c) Die Kammer geht zudem davon aus, dass die Ursachen einer Alkoholabhängigkeit vielfältig, regelmäßig aus der Privat- oder Intimsphäre des Arbeitnehmers herrührend und nach Verursachungsbeiträgen oftmals kaum zu bestimmen sind (vgl. insoweit die Darstellung zu den vielen möglichen Ursachen von Rückfällen bei Alkoholerkrankten: Fleck/Körkel, BB 1995, 722 [724 f.]; zweifelnd hinsichtlich der Möglichkeit eines Verschuldens: Künzl, NZA 1998, 122 [126]). Entsprechend scheint der Kammer die auf diese Ursachen zielende Verschuldensfrage nicht mit einer für die objektive Rechtsfindung notwendigen Eindeutigkeit zu beantworten zu sein, was Zweifel in Hinblick auf die Vereinbarkeit der von der herrschenden Meinung vertretenen Auslegung von § 3 Abs. 1 EFZG mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) aufwirft. Aus Sicht der Kammer ist zudem die bei Zugrundelegung dieser Rechtsansicht ggf. erforderlich werdende umfängliche Sachverhaltsaufklärung einem seine Entgeltfortzahlungspflicht überprüfenden Arbeitgeber ebenso wenig zumutbar (vgl. Gottwald, NZA 1997, 635 [637]: „kaum darzulegend“) wie sie im Wege des förmlichen Gerichtsverfahrens aufklärbar wäre. Dies gilt insbesondere für zeitlich lang zurückliegende Sachverhaltsmomente. Eine entsprechende Aufklärung dürfte nicht zuletzt regelmäßig im Widerspruch zu dem für das arbeitsgerichtliche Verfahren in § 9 Abs. 1 ArbGG (auch für Nicht-Bestandsschutzstreitigkeiten) gesetzlich festgelegte Gebot der Verfahrensbeschleunigung stehen.
45ee) Anzeichen für ein nach § 3 Abs. 1 EFZG beachtliches Verschulden des Arbeitnehmers an der Arbeitsunfähigkeit im streitgegenständlichen Zeitraum sind nicht erkennbar. Die Beklagte hat keine Indizien vorgetragen, welche für ein grob fahrlässiges Verschulden des Herrn ... an seinem Alkoholmissbrauch am 23.11.2011 und der folgenden Arbeitsunfähigkeit sprechen. Nach Auffassung der Kammer - insoweit in Übereinstimmung mit der dargestellten herrschenden Meinung – hätte es der Beklagten oblegen, zumindest Anzeichen für ein entsprechendes Verschulden des Arbeitnehmers darzulegen. Denn allein der Umstand, dass es sich bei dem Geschehen vom 23.11.2011 möglicherweise um einen „Rückfall“ im Sinne der zitierten Rechtsprechung gehandelt haben mag, bildet noch kein ausreichendes Indiz für ein entsprechendes Verschulden (vgl. Nachweis bei LAG Berlin-Brandenburg v. 17.8.2009 - 10 Sa 506/09, juris-Rz. 66 zur über 50%tigen Rückfallquote, ebenso: Fleck/Körkel, BB 1995, 722 [727]). Die Beklagte hat nach eigenem Bekunden ihres Geschäftsführers ohne Kenntnis der Umstände des Alkoholmissbrauchs die Entgeltfortzahlung verweigert. In der Folge hat sie auch – mit Blick auf die bestehende obergerichtliche Rechtsprechung folgerichtig – auch nur versucht, Näheres zu den Ursachen der Alkoholabhängigkeit (und nicht des Alkoholmissbrauchs vom 23.11.2011) zu erfahren. Damit hat sie jedenfalls ausreichende Indizien für ein grob fahrlässiges Verschulden des Herrn ... an der Arbeitsunfähigkeit ab dem 29.11.2011 nicht vorgetragen. Es kann dahinstehen, ob und inwieweit Herr .... gegenüber der Beklagten auch in Hinblick auf die Ursachen hierfür auskunftspflichtig gewesen wäre und ob eine erfolglose Nachfrage über dessen (ehemaligen) Prozessbevollmächtigten insoweit zu einer Verschiebung der Darlegungslast führen konnte. Denn eine konkrete Nachfrage nach den Ursachen des Sturztrunkes am 23.11.2011 ist soweit erkennbar nicht erfolgt.
463) Die übrigen Voraussetzungen des Entgeltfortzahlungsanspruchs sowie seine Höhe sind unstreitig.
47II.
48Die Beklagte hat als unterliegende Partei gemäß § 46 Abs. 2 ArbGG i.V.m. § 91 Abs. 1 S.1 ZPO die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
49III.
50Der Streitwert war gemäß § 61 Abs. 1 ArbGG im Urteil festzusetzen und ist nach dem Wert des geltend gemachten Anspruchs bemessen.
51IV.
52Die Berufung war nach § 64 Abs. 3 Nr. 3 ArbGG zuzulassen. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung.
53a) Dies ist der Fall, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von einer klärungsfähigen und klärungsbedürftigen Rechtsfrage abhängt und die Klärung entweder von allgemeiner Bedeutung für die Rechtsordnung ist oder wegen ihrer tatsächlichen Auswirkungen die Interessen zumindest eines größeren Teils der Allgemeinheit berührt. Die aufgeworfene Rechtsfrage muss sich in einer unbestimmten Vielzahl weiterer Fälle stellen können und deshalb das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berühren (BAG v. 15.10.2012 - 5 AZN 1958/12, Rz. 13).
54b) Die Frage, ob es abweichend von den im Urteil des Bundesarbeitsgericht vom 1.6.1983 (Az. 5 AZR 536/80) Grundsätzen für die Frage des Verschuldens einer alkoholbedingten Arbeitsunfähigkeit nicht auf ein etwaiges Verschulden des Arbeitnehmers in Bezug auf seine Alkoholabhängigkeit ankommt, hat grundsätzliche Bedeutung. Es ist nicht erkennbar, dass der Kläger vor dem Vorfall am 23.11.2011 eine intensive stationäre Entwöhnungsbehandlung durchlaufen hätte, so dass es auf die für diesen Fall vom Senat aufgestellten Grundsätze (vgl. Urteil v. 11.11.1987 - 5 AZR 497/86, juris-Rz. 15) nicht ankommt. Angesichts der gerichtsbekannt hohen Zahl von alkoholabhängigen Arbeitnehmern ist davon auszugehen, dass sich die aufgeworfenen Rechtsfragen in einer unbestimmten Vielzahl weiterer Fälle stellen können und damit die Interessen der Allgemeinheit berührten.
55RECHTSMITTELBELEHRUNG
56Gegen dieses Urteil kann von der beklagten Partei Berufung eingelegt werden. Für die klagende Partei ist gegen dieses Urteil kein Rechtsmittel gegeben.
57Die Berufung muss innerhalb einer Notfrist* von einem Monat schriftlich beim
58Landesarbeitsgericht Köln
59Blumenthalstraße 33
6050670 Köln
61Fax: 0221-7740 356
62eingegangen sein.
63Die Notfrist beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens mit Ablauf von fünf Monaten nach dessen Verkündung.
64Die Berufungsschrift muss von einem Bevollmächtigten unterzeichnet sein. Als Bevollmächtigte sind nur zugelassen:
65- 66
1 Rechtsanwälte,
- 67
2 Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern sowie Zusammenschlüsse solcher Verbände für ihre Mitglieder oder für andere Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder,
- 68
3 juristische Personen, deren Anteile sämtlich im wirtschaftlichen Eigentum einer der in Nummer 2 bezeichneten Organisationen stehen, wenn die juristische Person ausschließlich die Rechtsberatung und Prozessvertretung dieser Organisation und ihrer Mitglieder oder anderer Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder entsprechend deren Satzung durchführt, und wenn die Organisation für die Tätigkeit der Bevollmächtigten haftet.
Eine Partei, die als Bevollmächtigte zugelassen ist, kann sich selbst vertreten.
70* Eine Notfrist ist unabänderlich und kann nicht verlängert werden.
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Referenzen
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