Beschluss vom Arbeitsgericht Reutlingen - 2 BV 5/06

Tenor

Es wird festgestellt, dass der Arbeitgeber (Beteiligte Ziff.2) verpflichtet ist, den Betriebsrat (Antragsteller) vor der Einstellung von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen (Ein-Euro-Jobbern) nach § 99 BetrVG zu beteiligen.

Gründe

 
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Betriebsrat ein Mitwirkungsrecht bei der Einstellung von sogenannten Ein-Euro-Jobbern zusteht.
Der Arbeitgeber (Beteiligte Ziff.2) ist ein gemeinnütziger Verein und hat nach seiner Satzung den Zweck, Maßnahmen und Einrichtungen zu fördern, die eine wirksame Hilfe für Menschen mit Behinderung und alte Menschen bedeuten. Er betreibt mit rund 1.200 Arbeitnehmern u.a. eine Körperbehindertenschule, Schulkindergärten sowie Einrichtungen für alte Menschen. Der Antragsteller (Beteiligte Ziff.1) ist der im Betrieb des Arbeitgebers gebildete Betriebsrat.
Der Arbeitgeber setzt in seinem Betrieb regelmäßig eine Vielzahl erwerbsfähiger, arbeitsloser Hilfebedürftiger (sog. Ein-Euro-Jobber) ein, deren Auswahl nach entsprechenden schriftlichen Vermittlungsvorschlägen der Agentur für Arbeit auf Grund der vom Arbeitgeber geführten Vorstellungsgespräche erfolgt. Eine Beteiligung des Betriebsrats nach § 99 BetrVG vor der Tätigkeitsaufnahme erfolgt nicht.
Der Betriebsrat ist der Auffassung, der Einsatz der Ein-Euro-Jobber stelle eine nach § 99 BetrVG mitbestimmungspflichtige Einstellung dar. Unabhängig von konkret zu entscheidenden Einzelfällen bestehe ein Bedürfnis zur Klärung dieser Streitfrage, weil der Arbeitgeber regelmäßig Beschäftigungen von Ein-Euro-Jobbern vornehme und dabei der Ansicht sei, dass eine Beteiligung des Betriebsrats nicht erfolgen müsse.
Der Betriebsrat beantragt:
Es wird festgestellt, dass der Beteiligte Ziff.2 verpflichtet ist, den Antragsteller vor der Einstellung von sogenannten 1-Euro-Jobbern (Zusatzjobbern) nach § 99 BetrVG zu beteiligen.
Der Arbeitgeber beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
Der Arbeitgeber meint, bei der Beschäftigung von Personen in Arbeitsgelegenheiten nach § 16 Abs.3 Satz 2 SGB II handele es sich nicht um eine Einstellung i.S.v. § 99 BetrVG. Die Ein-Euro-Jobber seien nur 6-12 Monate tätig und würden gerade nicht wie Arbeitnehmer in den Betrieb eingegliedert.
Ihnen solle ein Wiedereinstieg in das Berufsleben ermöglicht werden. Sie erledigten Tätigkeiten, die über den normalen Arbeitsbedarf hinausgingen. Bei ihrem Einsatz handele sich um eine sozialrechtliche Maßnahme, die nicht zu einem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats führe. Ausreichend sei es, wenn - wie unstreitig geschehen - der Betriebsrat darüber informiert worden sei, dass Ein-Euro-Jobber im Unternehmen tätig seien. Ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 99 BetrVG scheide auch deswegen aus, weil zwar Vorstellungsgespräche mit den "Bewerbern" geführt würden, eine Auswahlentscheidung angesichts der sozialrechtlichen Vorgaben aber zumindest gemindert sei.
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Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze und Anlagen, die Gegenstand des Anhörungstermins vor der Kammer waren, sowie auf die Sitzungsniederschriften vom 17.10.2006 und 18.01.2007 verwiesen.
II.
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1. Der Antrag ist zulässig.
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a. Das erforderliche Feststellungsinteresse liegt vor. Im Beschlussverfahren kann das Bestehen, der Inhalt oder der Umfang eines Mitbestimmungsrechts losgelöst von einem konkreten Ausgangsfall geklärt werden, wenn die Maßnahme, für die ein Mitbestimmungsrecht in Anspruch genommen wird, häufiger im Betrieb auftritt und sich auch zukünftig jederzeit wiederholen kann. Eine gerichtliche Entscheidung ist in der Lage, das betreffende Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten umfassend zu klären und seinen Inhalt auch für die Zukunft hinreichend konkret festzustellen (vgl. BAG AP Nr.36 zu § 95 BetrVG 1972). Da der Arbeitgeber regelmäßig Ein-Euro-Jobber zeitlich begrenzt beschäftigt und für sie entsprechende Einsatzmöglichkeiten eingerichtet hat, kann sich die "Einstellung" eines Ein-Euro-Jobbers jederzeit wiederholen. Der Zulässigkeit des Antrags steht auch nicht entgegen, dass der Betriebsrat sein Ziel mit einem Leistungsantrag erreichen könnte. Ein Antrag nach § 101 BetrVG könnte sich nur auf bereits erfolgte "Einstellungen" von Ein-Euro-Jobbern beziehen und wäre somit nicht geeignet, ein Mitbestimmungsrecht nach § 99 BetrVG für die zukünftige Beschäftigung dieses Personenkreises zu klären.
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b. Der Betriebsrat ist antragsbefugt. Er reklamiert ein ihm nach seiner Auffassung zustehendes Mitbestimmungsrecht nach § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG .
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2. Der Antrag ist auch begründet. Dem Betriebsrat steht ein Mitbestimmungsrecht nach § 99 BetrVG zu, wenn der Arbeitgeber in seinem Betrieb erwerbsfähige Hilfebedürftige i.S.d. § 16 Abs.3 S.2 SGB II beschäftigt.
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a. In dem Unternehmen des Arbeitgebers sind mehr als 20 wahlberechtigte Arbeitnehmer tätig. Der Arbeitgeber hat daher nach § 99 Abs.1 Satz 1 BetrVG vor jeder Einstellung die Zustimmung des Betriebsrats einzuholen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kommt es für den Begriff der Einstellung i.S.d. § 99 Abs. 1 BetrVG nicht entscheidend auf das Rechtsverhältnis an, in dem die im Betrieb tätigen Personen zum Arbeitgeber stehen. Vielmehr löst die Eingliederung dieser Personen in den Betrieb das Mitbestimmungsrecht aus. Der Arbeitgeber muss (zumindest) die für ein Arbeitsverhältnis typischen Weisungen über den Arbeitseinsatz treffen. Das Arbeitsverhältnis der Personen kann auch zu einem Dritten bestehen (vgl. BAG AP Nr. 5 zu § 99 BetrVG 1972 Einstellung). Die Anwendung des § 99 BetrVG kommt auch in Betracht, wenn die fraglichen Personen überhaupt nicht in einem Arbeitsverhältnis zum Arbeitgeber stehen (für Selbständige BAG AP Nr. 35 zu § 99 BetrVG 1972; für Personen, die im Betrieb eine Ausbildung erhalten BAG AP Nr. 73 zu § 99 BetrVG 1972) oder in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis stehen (für Zivildienstleistende BAG AP Nr. 35 zu § 99 BetrVG 1972 Einstellung).
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b. Nach diesen Grundsätzen hat hier der Betriebsrat mitzubestimmen. Für die Anwendung des § 99 BetrVG kommt es nicht darauf an, dass gem. § 16 Abs.3 Satz 2, 2.Hs SGB II Arbeiten eines erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung kein Arbeitsverhältnis begründen. Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 99 Abs. 1 BetrVG dient vornehmlich den Interessen der schon vorhandenen Belegschaft. Deren mögliche Gefährdung beruht auf der tatsächlichen Eingliederung eines neuen Mitarbeiters und hängt nicht davon ab, auf welcher Rechtsgrundlage dieser tätig werden soll (vgl. BAG AP Nr.43 zu § 99 BetrVG 1972 Einstellung). Entscheidend ist, dass die Ein-Euro-Jobber wie Arbeitnehmer eingesetzt werden, weisungsgebunden sind und in die betriebliche Arbeitsorganisation eingegliedert werden (vgl. FESTL, BetrVG, 23.Aufl., § 99 Rdnr. 51 a; DKK-Kittner, 9.Aufl., § 99 Rdnrn.13, 39; Zwanziger, AuR 2005, 8 <14>; Engels, NZA 2007, 8 <11>). Insoweit ist auch zwischen den Beteiligten nicht streitig, dass Ein-Euro-Jobber mit dem angestellten Personal unmittelbar zusammenarbeiten, in den Arbeitsablauf integriert sind und die vom Arbeitgeber zur Ausführung ihrer Arbeit erforderlichen Weisungen erhalten. Überwiegend werden sie für Fahrtätigkeiten und für Hilfstätigkeiten im Pflege- und Betreuungsbereich eingesetzt und dienen damit dem Betriebszweck. Sie werden beschäftigt, um den arbeitstechnischen Zweck gemeinsam mit den anderen im Betrieb des Arbeitgebers beschäftigten Arbeitnehmern zu verwirklichen. Ihrer Eingliederung in die betriebliche Arbeitsorganisation steht entgegen der Ansicht des Arbeitgebers die zeitliche Begrenzung der Zuweisung durch den Grundsicherungsträger nicht entgegen, weil dem Begriff der "Einstellung" kein zeitlicher Aspekt innewohnt.
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Der Betriebsrat hat nach § 99 BetrVG bei einer Einstellung unabhängig davon mitzubestimmen, in welchem zeitlichen Umfang der Einzustellende tätig werden soll. Anders als § 95 Abs.3 BetrVG für die Versetzung enthält § 99 BetrVG für die Einstellung keine zeitliche Mindestgrenze. Es bedürfen daher auch Einstellungen für eine kurze Zeit der Zustimmung des Betriebsrats (vgl. BAG AP Nr. 40 zu § 99 BetrVG 1972). Soweit der Arbeitgeber darauf hinweist, dass sich Rechte und Pflichten der Ein-Euro-Jobber aus sozialrechtlichen Regeln entsprechend der mit dem Grundsicherungsträger geschlossenen Eingliederungsvereinbarung (§ 15 Abs.1 S.1 SGB II) oder einem eine Vereinbarung ersetzenden Verwaltungsakt (§ 15 Abs.1 S.6 SGB II) ergeben, steht auch dieser Gesichtspunkt dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nicht entgegen. Der konkrete Einsatz eines oder mehrerer Ein-Euro-Jobber unterliegt gleichwohl dem Weisungsrecht des Arbeitgebers. Der Arbeitgeber bleibt auch in seiner Entscheidung frei, mit welchem "zugewiesenen" Ein-Euro-Jobber er ein Beschäftigungsverhältnis begründen will. So ist auch im Streitfall zwischen den Beteiligten unstreitig, dass der Arbeitgeber vor der Beschäftigung von Ein-Euro-Jobbern Vorstellungsgespräche führt und auf diese Weise die Möglichkeit zur Personalauswahl hat. Diese vom Arbeitgeber vorgenommene Personalauswahl betrifft aber die Interessen der im Betrieb vorhandenen Arbeitnehmer, deren Schutz das Mitbestimmungsrecht nach § 99 BetrVG dient, wie sich aus § 99 Abs. 2 Nr. 3 und 6 BetrVG ergibt. Nach § 99 Abs.1 S.1 BetrVG hat der Arbeitgeber gegenüber dem Betriebsrat die vorgeschriebenen Informations- und Auskunftspflichten betreffend die Person eines jeden Ein-Euro-Jobbers zu erfüllen sowie unter Vorlage der erforderlichen Unterlagen in jedem Einzelfall Auskunft über die Auswirkungen der Beschäftigung von Ein-Euro-Jobbern auf Betrieb und Belegschaft zu geben hat. Dem Mitbestimmungsrecht steht daher auch nicht entgegen, dass der Betriebsrat sich mit der Beschäftigung von Ein-Euro-Jobbern grundsätzlich einverstanden erklärt hat und eine entsprechende positive Stellungnahme gegenüber dem Arbeitgeber zur Vorlage beim Grundsicherungsträger abgegeben hat (Engels, NZA 2007, 8 <11>).
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c. Soweit abweichend von der hier vertretenen Ansicht für den öffentlichen Bereich ein Mitbestimmungsrecht bei der Besetzung von Arbeitsgelegenheiten gemäß § 16 Abs.3 S.2 SGB II verneint wird (vgl. OVG Rheinland-Pfalz v.17.05.2006 - 5 A 11752/05 - PersVG 2006,458 m.w.N.), ist darauf hinzuweisen, dass die Mitbestimmung nach dem BetrVG und dem Personalvertretungsrecht unterschiedliche Ansatzpunkte hat und die Einstellung im betriebsverfassungsrechtlichen und im personalvertretungsrechtlichen Sinne nicht deckungsgleich verstanden werden müssen. Die für den personalvertretungsrechtlichen Einstellungsbegriff geforderten Voraussetzungen sind für den Einstellungsbegriff des Betriebsverfassungsrechts nicht maßgeblich (vgl. BAG AP Nr.18 zu § 99 BetrVG 1972 Einstellung).
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3. Eine Kostenentscheidung war nicht zu treffen; die Entscheidung ergeht gemäß § 2 Abs. 2 GKG gerichtskostenfrei.

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