Urteil vom Arbeitsgericht Solingen - 1 Ca 1520/11
Tenor
1.Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 42.000,00 € brutto zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 02.04.2012 zu zahlen.
2.J. Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3.Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin zu 47% und die Beklagte zu 65%.
4.Streitwert für das Schlussurteil: 61.860,75 €
1
T a t b e s t a n d :
2Die Parteien streiten noch über einen Anspruch auf Nachteilsausgleich nach § 113 Abs. 3 BetrVG.
3Die 45-jährige Klägerin war seit dem 15.10.1991 bei der Beklagten als Einkäuferin tätig. Ihr Jahresbruttogehalt betrug etwa 46.000,00 €. Bei der Beklagten, die bis September 2011 regelmäßig mehr als 20 Arbeitnehmer beschäftigte, besteht ein Betriebsrat. Die Klägerin war bis zu ihrem Ausscheiden stellvertretende Betriebsratsvorsitzende.
4Am 30.08.2011 fassten die Gesellschafter der Beklagten den Beschluss, den von der Beklagten unterhaltenen Baubetrieb stillzulegen und hielten schriftlich fest, dass das Bauunternehmen bis spätestens zum 31.03.2012 geschlossen werden solle. Am 05.09.2011 wurden der Betriebsratsvorsitzende und die stellvertretende Betriebsratsvorsitzende von der Beklagten über den Stilllegungsbeschluss informiert. Am 06.09.2011 fand eine Betriebsratssitzung statt, in der die Beklagte dem Betriebsrat die unternehmerische Entscheidung näher erläuterte und außerdem darauf hinwies, dass nach ihrer Auffassung für die von der Stilllegung betroffenen Mitarbeiter eine "Auffanglösung" erreicht werden könnte, indem bereits akquirierte Aufträge, die von der Beklagten nichtmehr ausgeführt werden könnten, an Wettbewerber übertragen würden und diese den größten Teil der Mitarbeiter in ein Beschäftigungsverhältnis übernehmen sollten. Zudem sei geplant, nach Abschluss des Verfahrens 75% der verbleibenden Erträge an die Mitarbeiter auszuschütten. Der Betriebsrat wandte sich im Anschluss an die Sitzung am 08.09.2011 an die jetzige Prozessbevollmächtigte der Klägerin, Frau Rechtsanwältin A.-S., um sich anwaltlich beraten zu lassen.
5Am 14.09.2012 hielt der Betriebsrat eine Betriebsratssitzung ab, in der beschlossen wurde, dass die Gespräche und Verhandlungen anlässlich der von der Beklagten geplanten Betriebsschließung unter Hinzuziehung der bereits kontaktierten Rechtsanwältin erfolgen sollten. Diese informierte die Beklagte noch am selben Tag per E-Mail über ihre Mandatierung und unterbreitete ihr ein Angebot zum Abschluss einer Pauschalhonorarvereinbarung in Höhe von insgesamt 41.000,00 €. In der E-Mail heißt es auszugsweise wie folgt:
6"[ ]
7Leider müssen die Kosten nicht nur dem Grunde, sondern auch der Höhe nach vereinbart werden, bevor wir tätig werden können.
8[ ]
9Ich habe deswegen die Vergütungsvereinbarung auch schon vorbereitet, die Sie ebenfalls angefügt finden. Sobald uns diese unterzeichnet vorliegt, werden wir die Tätigkeit zügig aufnehmen. [ ]"
10Ebenfalls am 14.09.2011 unterrichtete die Beklagte den Betriebsrat nach § 17 Abs. 2 KSchG über die von ihr beabsichtigte Massenentlassung und überreichte Entwürfe eines Interessenausgleichs sowie eines Sozialplans, die als Verhandlungsgrundlage dienen sollten.
11Zu einer Honorarvereinbarung zwischen der Beklagten und der Rechtsanwältin des Betriebsrats kam es in der Folgezeit nicht. Die Beklagte lehnte die Vereinbarung über ein Pauschalhonorar von 41.000,00 € ab und unterbreitete mit E-Mail vom 19.09.2011 einen Gegenvorschlag, der jedoch erheblich von den Vorstellungen der Rechtsanwältin des Betriebsrats abwich. Diese teilte daher am 20.09.2011 zunächst nur mit, sie werde sich wegen des Honorarvorschlags in angemessener Zeit melden. In der E-Mail heißt es darüber hinaus:
12"Ich möchte gerne richtig stellen, dass zu keiner Zeit meinerseits mitgeteilt worden ist, dass der Betriebsrat nur die Verhandlungen zum Abschluss eines Interessenausgleichs und Sozialplans eintreten wird, wenn im Vorfeld eine Vereinbarung über das Honorar getroffen worden ist [ ]"
13Ebenfalls am 20.09.2011 hörte die Beklagte den Betriebsrat gem. § 102 BetrVG zu den betriebsbedingten Kündigungen aller bei ihr beschäftigten Arbeitnehmer schriftlich an. In den Anhörungsschreiben führt die Beklagte aus, dass im Hinblick auf die in der Gesellschafterversammlung beschlossene Schließung des Geschäftsbetriebs der Bauunternehmung sämtliche mit dem Unternehmen bestehende Arbeitsverhältnisse betriebsbedingt gekündigt werden müssten. Ein Stillegungszeitpunkt wird nicht genannt. Die Beklagte weist in den Anhörungsschreiben darauf hin, dass beabsichtigt sei, unmittelbar nach Abschluss des Anhörungsverfahrens die Kündigung auszusprechen. Der Betriebsrat werde gebeten, innerhalb einer Frist von einer Woche seine Stellungnahme bzw. etwaige Bedenken/einen beabsichtigten Widerspruch schriftlich darzulegen.
14Am 23.09.2011 hielt der Betriebsrat daraufhin eine außerordentliche Betriebsratssitzung ab, in der er den Beschluss fasste, eine einstweilige Verfügung auf Unterlassung der Umsetzung der beschlossenen Betriebsratsanhörung einzuleiten und mit der Durchführung des einstweiligen Verfügungsverfahrens die von ihm bereits für die Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen beauftragte Rechtsanwältin A.-S. zu betrauen. Diese reichte noch am selben Tag eine entsprechende Antragsschrift beim Arbeitsgericht T. ein.
15Mit Beschluss vom 29.09.2011 (Az.: 1 BVGa 2 /11) gab das Arbeitsgericht Solingen der Beklagten auf, es zu unterlassen, im Rahmen der beabsichtigten Betriebsänderung in Form der Stilllegung des Betriebs in Solingen ihren Arbeitnehmern gegenüber betriebsbedingte Kündigungen auszusprechen oder betriebsbedingte Aufhebungsverträge anzubieten, solange die Verhandlungen mit dem Betriebsrat über den Abschluss eines Interessenausgleichs nicht abgeschlossen oder in der Einigungsstelle gescheitert sind. Die Entscheidung wurde der Beklagten am 04.10.2011 zugestellt. Auf die Beschwerde der Beklagten änderte das Landesarbeitsgericht Düsseldorf den Beschluss des Arbeitsgerichts Solingen ab und wies den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurück (Az.: 10 TaBVGa 7/11).
16Ebenfalls am 29.09.2011 erstattete die Beklagte bei der Agentur für Arbeit die Massenentlassungsanzeige. Nachdem die Agentur für Arbeit das Vorliegen einer ordnungsgemäßen Massenentlassungsanzeige bestätigt hatte, fertigte die Beklagte für alle Arbeitnehmer mit Ausnahme der schwerbehinderten Mitarbeiter, für deren Kündigungen noch keine Zustimmung des Integrationsamtes vorlag, die Kündigungsschreiben aus und stellte diese am 30.09.2011 zu.
17Mit einem auf den 30.09.2011 datierten Schreiben kündigte die Beklagte auch das mit der Klägerin bestehende Arbeitsverhältnis ordentlich zum 31.03.2012.
18Nach Ausspruch der Kündigungen versuchte die Beklagte, einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat herbeizuführen. Da die Verhandlungen nur sehr schleppend voran kamen, beantragte die Beklagte schließlich am 07.12.2011 beim Arbeitsgericht Solingen die Einsetzung einer Einigungsstelle zum Abschluss eines Interessenausgleichs (Az.: 4 BV 24/11). Die Einigungsstelle wurde mit Beschluss vom 14.12.2011 eingesetzt und trat am 03.04.2012 zusammen. Zum Abschluss eines Interessenausgleichs kam es nicht.
19Mit ihrer am 21.10.2011 beim Arbeitsgericht Solingen eingegangenen Klage hat sich die Klägerin zunächst gegen die Kündigung gewandt und zudem einen Weiterbeschäftigungsanspruch geltend gemacht. Mit Schriftsatz vom 07.03.2012 hat sie die Klage erweitert und zusätzlich die Zahlung des 13. Monatsgehalts für das Jahr 2011 beantragt und einen Anspruch auf Zahlung eines Nachteilsausgleichs geltend gemacht. Gleichzeitig hat sie den Kündigungsschutzantrag sowie den Weiterbeschäftigungsantrag zurück genommen. Der Schriftsatz ist der Beklagten am 02.04.2012 zugestellt worden.
20Die Klägerin ist der Auffassung, dass ein an sie zu zahlender Nachteilsausgleich den Betrag von 61.860,75 € brutto nicht unterschreiten sollte. Bei der Berechnung sei ein Bruttomonatsgehalt von insgesamt 4.124,05 € zu berücksichtigen. Bei diesem Betrag handelt es sich um die Summe aus dem laufenden Bruttomonatsgehalt, dem anteiligen Urlaubsgeld und dem anteiligen 13. Monatsgehalt. Außerdem sei das Ausmaß der Verletzung der betriebsverfassungsrechtlichen Pflichten durch die Beklagte zu berücksichtigen, die von Anfang an nicht beabsichtigt habe, die Beteiligungsrechte des Betriebsrats zu wahren. Dies ergebe sich zum einen aus dem zeitlichen Ablauf der Durchführung der geplanten Betriebsänderung und zum anderen aus der Tatsache, dass die Beklagte sich über den Beschluss des Arbeitsgerichts Solingen vom 29.09.2011 hinweggesetzt habe. Auch aus einer E-Mail der Bevollmächtigten der Beklagten vom 13.09.2011 gehe hervor, dass schon zu diesem Zeitpunkt geplant gewesen sei, die Betriebsänderung im Zweifel auch ohne eine vorherige Einigung mit dem Betriebsrat über einen Interessenausgleich durchzuführen.
21In der mündlichen Verhandlung vom 24.04.2012 hat die Beklagte den Antrag auf Zahlung des 13. Monatsgehalts anerkannt. Auf Antrag der Klägerin ist daraufhin ein entsprechendes Teilanerkenntnisurteil erlassen worden.
22Die Klägerin beantragt nunmehr nur noch,
23die Beklagte zu verurteilen, an sie gem. § 113 Abs. 3 BetrVG einen Nachteilsausgleich zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, der einen Betrag von 61.860,75 € brutto aber nicht unterschreiten sollte.
24Die Beklagte beantragt,
25die Klage abzuweisen.
26Sie meint, der Klägerin stehe kein Anspruch auf die geltend gemachte Zahlung eines Nachteilsausgleichs zu. Ein Anspruch der Klägerin sei bereits deshalb ausgeschlossen, weil sie, die Beklagte, ausreichende Versuche zur Verhandlung eines Interessenausgleichs mit dem Betriebsrat unternommen habe. Das Zustandekommen eines Interessenausgleichs sei allein an einem offensichtlichen Verzögerungsverhalten des Betriebsrats gescheitert. Dieser habe zu erkennen gegeben, dass er auch in einem Einigungsstellenverfahren nicht zum Abschluss eines Interessenausgleichs bereit gewesen sei. In einem solchen Fall sei die Anrufung der Einigungsstelle entbehrlich. Zudem sei eine sofortige Schließung des Betriebs aufgrund ihrer schwierige wirtschaftlichen unausweichlich gewesen; ein Hinausschieben der Stilllegung zum Zweck des Versuchs eines Interessenausgleichs hätte nach ihrer Auffassung den betroffenen Arbeitnehmern nur weitere Nachteile gebracht, da die Fortführung des Betriebes bis zum Abschluss des Verfahrens nach § 112 BetrVG weitere Betriebskosten verursacht hätte, die sich negativ auf das Sozialplanvolumen ausgewirkt hätten.
27Jedenfalls bestehe ein Nachteilsausgleichsanspruch nicht in der geltend gemachten Höhe. Bei der Bemessung des Betrages sei zunächst zu berücksichtigen, dass ihr allenfalls geringfügige Verstöße gegen betriebsverfassungsrechtliche Pflichten vorgeworfen werden könnten, da sie mehrfach versucht habe, Interessenausgleichsverhandlungen zu führen, die jedoch an der Blockadehaltung des Betriebsrats gescheitert seien. Darüber hinaus sei der von der Klägerin erlittenen Nachteil gering, da sie bereits eine neue Arbeitsstelle gefunden habe. Außerdem müsse bei der Bemessung des Nachteilsausgleichs ihre angespannte wirtschaftliche Situation berücksichtigt werden.
28Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die wechselseitigen Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf den sonstigen Akteninhalt Bezug genommen.
29E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
30A.
31Die Klage ist zulässig aber nur zum Teil begründet.
32I.
33Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung von 43.0000,00 € brutto gem. § 113 Abs. 3 BetrVG, denn sie ist aufgrund einer Betriebsänderung entlassen worden, ohne dass hierüber ein Interessenausgleich geschlossen oder von der Beklagten hinreichend versucht worden wäre.
341.
35Die Beklagte hat eine mitbestimmungspflichtige Betriebsänderung im Sinne der §§ 111, 112 BetrVG durchgeführt. Sie hat durch Gesellschafterbeschluss vom 30.08.2011 entschieden, den Beschäftigungsbetrieb der Klägerin stillzulegen. Darin liegt eine Betriebsänderung im Sinne des § 111 S. 3 Nr. 1 BetrVG. Die Klägerin ist infolge der Umsetzung dieses Beschlusses entlassen worden. Dabei kommt es vorliegend nicht darauf an, ob die von der Beklagten ausgesprochene Kündigung wirksam war, denn dem Arbeitnehmer steht ein Nachteilsausgleich auch dann zu, wenn er eine unwirksame Kündigung akzeptiert (Oetker, GK-BetrVG, 9. Auflage 2010, § 113 Rn. 63).
362.
37Die Beklagte hat vor Ausspruch der Kündigungen aller Arbeitnehmer und damit vor Beginn der Durchführung der geplanten Betriebsänderung keinen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat geschlossen und auch keinen ausreichenden Versuch unternommen, einen Interessenausgleich herbeizuführen.
38a)
39Eine Betriebsänderung ist gem. § 111 S. 1 BetrVG zwischen den Betriebsparteien mit dem Ziel einer Einigung über einen Interessenausgleich zu beraten. Sinn und Zweck dieser Beratungen bestehen darin, sich nach Möglichkeit auf eine Maßnahme zu verständigen, die für die betroffenen Arbeitnehmer keine oder nur geringere Nachteile mit sich bringt als die Betriebsänderung in der zunächst vom Arbeitgeber geplanten Form. Um dieses Ziel zu erreichen, sieht § 111 BetrVG iVm. § 112 BetrVG ein gestuftes Verfahren vor. Es beginnt mit der Information des Betriebsrats über die geplante Betriebsänderung und setzt sich fort mit den Beratungen der Betriebsparteien über die Einzelheiten und die Durchführung der Betriebsänderung. Es endet gem. § 112 Abs. 2 S. 2 BetrVG mit der Anrufung der Einigungsstelle, falls die Betriebsparteien nicht selbst eine Einigung über einen Interessenausgleich erzielen können.
40b)
41Ein wirksamer Interessenausgleich nach dem gesetzlich vorgesehenen Verfahren ist zwischen den Parteien nicht zustande gekommen. Die Beklagte hat den Betriebsrat zwar am 05.09.2011 und 06.09.2011 über die geplante Betriebsänderung unterrichtet. Beratungen über die Einzelheiten der Durchführung der Betriebsänderung haben jedoch nicht stattgefunden. Erst recht ist es nicht zum Abschluss eines schriftlich niederzulegenden Interessenausgleichs gekommen.
42c)
43Die Beklagte hat auch nicht in ausreichendem Maß versucht, zu einem Interessenausgleich mit dem Betriebsrat zu kommen.
44aa)
45Wenn zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat kein wirksamer Interessenausgleich zustande kommt, muss der Arbeitgeber vor der Durchführung der Betriebsänderung alle Möglichkeiten einer Einigung über den Interessenausgleich ausschöpfen. Ihn trifft dabei die Obliegenheit, die Einigungsstelle anzurufen. Tut er dies nicht, ist er zur Zahlung eines Nachteilsausgleichs verpflichtet. Dies folgt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts aus dem Schutzzweck des § 113 Abs. 3 BetrVG. Diese Vorschrift schützt das Interesse der von einer Betriebsänderung betroffenen Arbeitnehmer mittelbar durch die Sicherung des Verhandlungsanspruchs des Betriebsrats. Dieser umfasst nach § 112 Abs. 2 BetrVG auch die Durchführung eines Einigungsstellenverfahrens. In diesem Verfahren erhalten die Betriebspartner letztmals Gelegenheit, unter Mitwirkung eines unparteiischen Vorsitzenden Alternativen zur geplanten Betriebsänderung zu erörtern oder Modifikationen zu prüfen, die für die betroffenen Arbeitnehmer weniger nachteilige Folgen haben (BAG 20.11.2001 - 1 AZR 97/01 - juris Rn. 15; 16.08.2011 - 1 AZR 44/10 - juris Rn. 11). Zwar kann die Betriebsänderung letztlich ohne Einigung der Betriebsparteien nach den Vorstellungen des Arbeitgebers durchgeführt werden. Dennoch ist das Einigungsstellenverfahren zum Schutz der Belange der betroffenen Arbeitnehmer sinnvoll und nicht etwa bloße Förmelei (BAG 20.11.2001 - 1 AZR 97/01 - juris Rn. 15).
46bb)
47Entgegen der Auffassung der Beklagten war die Anrufung der Einigungsstelle vorliegend nicht entbehrlich.
48Ein vorzeitiger und nicht zur Sanktion des § 113 BetrVG führender Abbruch der Verhandlungen um einen Interessenausgleich ohne Anrufung der Einigungsstelle kommt nur ausnahmsweise und allenfalls dann in Betracht, wenn der Betriebsrat bereits in den Verhandlungen mit dem Unternehmer zu erkennen gegeben hat, dass er auch im Rahmen der von § 112 Abs. 2 und 3 zur Verfügung gestellten Verfahren nicht zu einem Interessenausgleich bereit sein wird (Oetker, GK-BetrVG, 9. Auflage 2010, § 113 Rn. 53). Dafür, dass ein solcher Fall vorliegend gegeben ist, gibt es keine Anhaltspunkte. Zwar mag nach der E-Mail der Rechtsanwältin des Betriebsrats vom 14.09.2011 bei der Beklagten der Eindruck entstanden sein, der Betriebsrat werde mit ihr vor Abschluss einer Honorarvereinbarung einen Interessenausgleich nicht weiter verhandeln. Jedoch hat Frau Rechtsanwältin A.-S. mit E-Mail vom 20.09.2011 klargestellt, dass die weiteren Verhandlungen nicht von einer im Vorfeld getroffenen Honorarvereinbarung abhängig sein sollten. Selbst wenn es auch nach dieser E-Mail zu weiteren Schwierigkeiten bei terminlichen Absprachen gekommen sein sollte, konnte die Beklagte daraus nicht schließen, dass der Betriebsrat Interessenausgleichsverhandlungen generell ablehnte. Dass die ins Stocken geratenen Gespräche auch unter einem neutralen Vorsitzenden in einer Einigungsstelle nicht zum Abschluss eines Interessenausgleichs geführt hätten, ist nicht ersichtlich. Insbesondere kann die Beklagte hierfür auch nicht auf die im April 2012 vor der Einigungsstelle gescheiterten Verhandlungen verweisen. Aus dem Umstand, dass der Betriebsrat ein halbes Jahr nach Ausspruch der die von der Beklagten geplante Betriebsänderung umsetzenden Kündigungen nicht mehr zum Abschluss eines Interessenausgleichs bereit war, lässt keinen Rückschluss auf seine Haltung im September 2011 zu, als die Verhandlungen noch mit dem Ziel, den Ausspruch von Kündigungen zu vermeiden oder die Folgen der unternehmerische Entscheidung der Beklagten in anderer Weise für die Arbeitnehmer abzumildern, hätten geführt werden können. Da die Beklagte die Einigungsstelle auch ohne Einverständnis des Betriebsrats einsetzen lassen konnte - was sie letztlich im Dezember 2011 auch tat - war die Anrufung der Einigungsstelle vor Durchführung der Betriebsänderung auch zumutbar.
49Die Beklagte kann für sich auch nicht in Anspruch nehmen, dass eine Anrufung der Einigungsstelle entbehrlich war, weil der damit verbundene Zeitverlust mit weiteren Nachteilen für die Arbeitnehmer verbunden gewesen wäre. Zu Unrecht beruft sich die Beklagte in diesem Zusammenhang auf das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 23.01.1979 (1 AZR 64/76). Der zitierten Entscheidung lag eine Fallgestaltung zugrunde, in welcher die Arbeitgeberin bereits vor der Betriebsstilllegung nicht mehr in der Lage war, die fälligen Gehälter zu zahlen, die Banken die Kredite gekündigt und die Lieferanten ihre unter Eigentumsvorbehalt gelieferten Waren zurückgefordert hatten, die Arbeitgeberin zudem völlig überschuldet war und die Arbeitnehmer für ihre Arbeitsleistung keine Gegenleistung mehr erwarten konnten. In diesem Ausnahmefall hat das Bundesarbeitsgericht die Ausschöpfung des zur Herbeiführung eines Interessenausgleichs in § 112 Abs. 2 BetrVG vorgesehenen Verfahrens als leere Formalität angesehen, die den Arbeitnehmern weitere Nachteile gebracht hätten. Ein vergleichbarer Fall liegt auch nach dem Sachvortrag der Beklagten nicht vor. Allein die Gefahr, dass sie eine zeitlichen Verzögerung bewirkt, die zu weiteren Betriebskosten und in der Folge zu einem geringeren Sozialplanvolumen führt, kann die Durchführung des gesetzlich vorgesehenen Verfahrens zum Abschluss eines Interessenausgleichs nicht entbehrlich machen. Andernfalls würden die Beteiligungsrechte des Betriebsrats erheblich beschnitten und § 113 Abs. 3 BetrVG käme nur selten zur Anwendung. Dies würde dem Schutzzweck der Norm, die sicherstellen soll, dass die Betriebspartner Alternativen zur geplanten Betriebsänderung erörtern, nicht gerecht. Dass die von der Beklagten beschlossenen völlige Betriebsstillegung zum 31.03.2012 anders als in dem vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fall nicht alternativlos war, ergibt sich im Übrigen aus dem Protokoll zur Sitzung der Einigungsstelle vom 03.04.2012 (Blatt 359 ff. der Akten).
503.
51Nach alldem steht fest, dass die Klägerin gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung eines Nachteilsausgleichs im Sinne des § 113 Abs. 3 BetrVG iVm. § 113 Abs. 1 BetrVG hat. Bei der Festsetzung der Höhe des Nachteilsausgleichs waren - entgegen der Auffassung der Beklagten - die wirtschaftlichen Verhältnisse des Unternehmens nicht zu berücksichtigen, denn dies widerspräche dem Sanktionscharakter des § 113 BetrVG (vgl. BAG 20.11.2001 - 1 AZR 97/01 - juris Rn. 21; 22.07.2003 - 1 AZR 541/02 - juris Rn. 27). Den Umstand, dass die Klägerin bereits ein neues Arbeitsverhältnis begründet hat, hat die Kammer nicht veranlasst, Abschläge bei der Berechnung des an ihn zu zahlenden Betrags vorzunehmen, da davon auszugehen ist, dass Arbeitnehmer selbst bei einer unmittelbaren Anschlussbeschäftigung zahlreiche Nachteile erleiden. Bei den Überlegungen der Kammer stand insbesondere die Erwägung im Vordergrund, dass die Klägerin in dem neuen Arbeitsverhältnis zunächst keinen Kündigungsschutz genießt. Zudem ist die Kammer bei der Bemessung des Nachteilsausgleichs von einer Pflichtverletzung mittlerer Intensität ausgegangen. Die Beklagte hat den Betriebsrat zunächst von der geplanten Betriebsänderung unterrichtet und ihm auch den Entwurf eines Interessenausgleichs, der als Verhandlungsbasis dienen sollte, vorgelegt und damit das Beteiligungsverfahren eingeleitet. Soweit es bei den Verhandlungen anschließend zu Verzögerungen gekommen ist, die dem Betriebsrat zuzurechnen sind, konnte dies nicht zu einer Verringerung des der Klägerin zuzusprechenden Betrages führen, denn letztlich hat sich auf der anderen Seite die Beklagte vorsätzlich über die Beteiligungsrechts des Betriebsrats hinweggesetzt, indem sie mit der Durchführung der geplanten Betriebsänderung begann, ohne einen Interessenausgleich ausreichend versucht zu haben. Vor diesem Hintergrund hat die Kammer pro Beschäftigungsjahr ½ Bruttomonatsgehalt im Rahmen des ihr gem. § 113 BetrVG eingeräumten Ermessens für angemessen erachtet. Bei der Berechnung wurde das laufende Bruttomonatsgehalt der Klägerin zuzüglich des auf den Monat umgerechneten anteiligen 13. Monatsgehalts und des anteiligen Urlaubsgeldes zugrunde gelegt.
52II.
53Der ausgeurteilte Zinsanspruch der Klägerin ergibt sich aus den §§ 288, 291 BGB.
54III.
55Soweit die Klägerin einen den ausgeurteilten Betrag übersteigenden Nachteilsausgleich fordert, ist die Klage unbegründet und war insoweit abzuweisen.
56B.
57Den Streitwert hat das Gericht gemäß den §§ 61 Abs. 1 ArbGG, 3 ZPO im Urteil festgesetzt.
58Die Kostenentscheidung beruht auf § 46 Abs. 2 ArbGG, §§ 92 Abs. 1 S. 1, 269 Abs. 3 S. 2 ZPO. Die Klägerin trägt die Kosten, soweit sie die Klage zurückgenommen hat; die Beklagte trägt die Kosten, soweit sie die Klageforderung anerkannt hat. Hinsichtlich des von der Klägerin geltend gemachten Nachteilsausgleichs waren die Kosten verhältnismäßig zu teilen.
59RECHTSMITTELBELEHRUNG
60Gegen dieses Urteil kann von jeder Partei Berufung eingelegt werden.
61Die Berufung muss innerhalb einer Notfrist* von einem Monat schriftlich beim
62Landesarbeitsgericht Düsseldorf
63Ludwig-Erhard-Allee 21
6440227 Düsseldorf
65Fax: 0211-7770 2199
66eingegangen sein.
67Die Notfrist beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens mit Ablauf von fünf Monaten nach dessen Verkündung.
68Die Berufungsschrift muss von einem Bevollmächtigten unterzeichnet sein. Als Bevollmächtigte sind nur zugelassen:
691.Rechtsanwälte,
702.Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern sowie Zusammenschlüsse solcher Verbände für ihre Mitglieder oder für andere Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder,
713.juristische Personen, deren Anteile sämtlich im wirtschaftlichen Eigentum einer der in Nr. 2 bezeichneten Organisationen stehen, wenn die juristische Person ausschließlich die Rechtsberatung und Prozessvertretung dieser Organisation und ihrer Mitglieder oder anderer Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder entsprechend deren Satzung durchführt, und wenn die Organisation für die Tätigkeit der Bevollmächtigten haftet.
72Eine Partei, die als Bevollmächtigte zugelassen ist, kann sich selbst vertreten.
73* Eine Notfrist ist unabänderlich und kann nicht verlängert werden.
74Dr. Hempel
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
This content does not contain any references.