Beschluss vom Arbeitsgericht Stuttgart - 21 BV 175/94

Tenor

1. Herr Dr. W., Richter am Arbeitsgericht Stuttgart, Kammern Ludwigsburg, wird zum Vorsitzenden einer Einigungsstelle "Interessenausgleich anlässlich der geplanten Elektronikfertigung des Produkts Heatronic III in B./P.l" bestellt.

2. Die Zahl der von jeder Seite zu benennenden Beisitzer wird auf zwei Beisitzer festgesetzt.

 

Gründe

 
I.
Der Antragsteller begehrt mit seinem Antrag Einrichtung einer Einigungsstelle zur Herbeiführung eines Interessenausgleichs sowie Festsetzung der Zahl der Beisitzer.
Die Beteiligte Ziff. 2 in der Rechtsform einer GmbH hat ihren Betriebssitz der J. B. in W.. Der Beteiligte Ziff. 1 ist der dort gebildete Betriebsrat. Im Betrieb in W. sind ca. 1.000 Arbeitnehmer beschäftigt. Im Betrieb gibt es eine Elektronikfertigung. Dort sind ca. 130 Arbeitnehmer tätig. Das Produkt "Heatronic" (künftig: HT) II ist Kernstück der Elektronikfertigung in W..
Die Antragsgegnerin hat sich entschlossen, das Nachfolgeprodukt für HT II, nämlich die Produktlinie HT III, in B./P., produzieren zu lassen. Die Vorbereitungen für den Neuanlauf der Elektronikfertigung in B. befinden sich bereits in Vorbereitung. Die unternehmerische Entscheidung zur Produktion des Nachfolgeprodukts HT II, nämlich die Produktion von HT III in B. ist bereits beschlossen. Die Produktionslinie HT II am Standort W. soll nach wie vor produziert werden. Eine konkrete Unternehmerentscheidung, wie künftig weiterhin mit der Produktlinie HT II verfahren werden soll, insbesondere im Hinblick auf die betroffenen Arbeitsplätze, hat die Antragsgegnerin noch nicht gefasst.
Die Antragsgegnerin hat eine vertrauliche Stückzahlenprognose für die Elektronik 2003 bis 2007 mit Stand 28.03.2003 getroffen. Insoweit wird auf ABl. 5 Bezug genommen. Daraus ergibt sich, dass mit dem Anlaufen der HT III im Jahr 2004 diese Stückzahlen sich kontinuierlich bis zum Jahr 2007 erhöhen und die geplanten Stückzahlen für die HT II pro Jahr sich bis zum Jahr 2007 in Bezug auf das Jahr 2004 mehr als 50 % reduzieren. Eine aktuelle vertrauliche Stückzahlenplanung mit Stand 14.07.2003 geht von einer deutlich geringeren Steigerung der HT III und einer im Jahr 2005 und 2006 nur unmerklich verminderten Stückzahl der HT II aus. Im Jahr 2007 ist nach dieser Prognose vom 14.07.2003 die HT II Produktion bezüglich der Stückzahlen von 2006 auf 2007 ca. halbiert.
Nachdem auf Antrag des Antragstellers die Antragsgegnerin es abgelehnt hat, bezüglich der Neuproduktion von HT III in B. mit dem in W. bestehenden Betriebsrat einen Interessenausgleich abzuschließen, hat der Betriebsrat in seiner Sitzung vom 14.05.2004 beschlossen, die Einigungsstelle durch gerichtliches Bestellungsverfahren anzurufen.
Der Antragsteller meint, die Einigungsstelle sei nicht offensichtlich unzuständig. Durch die Neuproduktion von HT III in B. als Nachfolgemodell des Auslaufmodells HT II werde es zu Auswirkungen auf die Arbeitsplätze in W. im Bereich Elektronikfertigung HT II kommen, auch wenn der zeitliche Rahmen heute nicht absehbar sei. Selbst wenn der Betriebsteil HT II in W. nicht komplett stillgelegt werden würde, sondern in eingeschränktem Umfang weiter bestehen bliebe, läge eine interessenausgleichspflichtige Einschränkung eines wesentlichen Betriebsteils vor. Auch seien bei einer Betroffenheit von ca. 130 Beschäftigten die 5-%-Grenze nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes erfüllt.
Da es sich bei der Angelegenheit um eine komplexe wirtschaftliche Betriebsänderung handele, wolle sich der Betriebsrat vorbehalten, einen außergerichtlichen wirtschaftlichen Fachmann hinzuzuziehen, daneben einen Rechtsanwalt und von seiten der Belegschaft bzw. des Betriebsrats zwei Beisitzer, so dass die Anzahl von vier Beisitzern erforderlich sei.
Der Antragsteller beantragt zuletzt:
1. Herr Dr. W., Richter am Arbeitsgericht Stuttgart, Kammern Ludwigsburg, wird zum Vorsitzenden einer Einigungsstelle zur Herbeiführung eines Interessenausgleiches anlässlich der geplanten Verlagerung der Elektronikfertigung nach B./P. bestellt.
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2. Die Zahl der von jeder Seite zu benennenden Beisitzer wird auf vier, davon jeweils höchstens zwei außerbetriebliche Beisitzer, festgesetzt.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
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den Antrag abzuweisen.
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Die Antragsgegnerin meint, die Einigungsstelle sei offensichtlich unzuständig. Die mit dem streitgegenständlichen Antrag in Anspruch genommenen Mitbestimmungsrechte im Sinne der §§ 111 ff. BetrVG bestünden nicht. Zwar habe die Geschäftsleitung der Antragsgegnerin beschlossen, in B. ein neues Produkt Heatronic III zu produzieren. Dieser Beschluss stelle jedoch eine reine Investitionsentscheidung und damit eine mitbestimmungsfreie Unternehmerentscheidung dar. Bezüglich der Produktlinie HT II am Standort W. liege keine Betriebsänderung im Sinne des § 111 BetrVG vor. Ob und in welcher Form und in welchem Ausmaß welche Teile der Belegschaft in W. im Bereich HT II von der Neuproduktion in P. betroffen sein könnten, sei derzeit völlig offen und nicht absehbar.
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Die Unternehmerentscheidung bezüglich der Neuproduktion des Typ´s HT III in P. habe somit derzeit keinerlei Auswirkungen im Sinne des § 111 BetrVG auf die Produktion HT II in W.. Insbesondere stelle die Neuproduktion HT III in P. keine Verlagerung im Sinne von § 111 BetrVG dar. Dass sich nachteilige Folgen im Sinne von § 111 BetrVG durch die Neuproduktion in P. auf 130 Mitarbeiter der HT II Produktion ergeben sollen, sei seitens der Antragsgegnerin weder geplant noch entschieden und damit reine Spekulation. Es bestünden weder abgeschlossene Planungen, geschweige denn eine entsprechende unternehmerische Entscheidung über eine Betriebseinschränkung oder Betriebsstilllegung oder sonstige Betriebsänderungen des Standorts W..
15 
Bezüglich der Anzahl der Beisitzer meint die Antragsgegnerin, aufgrund der im Vorfeld bereits ausführlichen Sach- und Rechtslageerörterungen seien zwei Beisitzer für jede Seite angemessen und ausreichend.
II.
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Der Antrag ist zulässig und Antrag Ziff. 1 in vollem Umfang, Antrag Ziff. 2 bezüglich zwei Beisitzer je Seite begründet. Der Vorsitzende Richter am Arbeitsgericht Stuttgart, Kammern Ludwigsburg, Herr Dr. W., ist als Einigungsstellenvorsitzender antragsgemäß zu bestellen.
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Vorliegend hat der Antragsteller einen Antrag nach § 98 Abs. 1 ArbGG i.V.m. § 76 Abs. 2 Satz 2 und 3 BetrVG gestellt.
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1. Der Antrag Ziff. 1 ist begründet. Nach § 98 ArbGG kann ein Antrag nur dann zurückgewiesen werden, wenn die Einigungsstelle offensichtlich unzuständig ist. Dies wäre nur dann der Fall, wenn offensichtlich ist, dass das vom Betriebsrat in Anspruch genommene Mitbestimmungsrecht nicht gegeben ist, d.h., wenn bei fachkundiger Beurteilung durch das Gericht sofort erkennbar ist, dass ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates in der fraglichen Angelegenheit unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt in Frage kommt und die Zuständigkeit der Einigungsstelle als möglich erscheint (BAG v. 06.12.1983, AP Nr. 7 zu § 87 BetrVG 1972 Überwachung; Germelmann/Matthes, Arbeitsgerichtsgesetz, 4. Aufl., § 98 RdNr. 11).
19 
Eine offensichtliche Unzuständigkeit ist nur dann bspw. gegeben, wenn die Streitigkeit zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat sich auf einen offenkundig nicht mitbestimmungspflichtigen Tatbestand bezieht oder wenn die Einigungsstelle zumindest derzeit noch nicht zuständig ist. Eine offensichtliche Unzuständigkeit wäre auch dann gegeben, wenn die Betriebsänderung bereits vollzogen wäre, somit eine künftige Regelung aufgrund vollzogener Betriebsänderung nicht mehr möglich ist.
20 
Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben. Eine offensichtliche Unzuständigkeit der Einigungsstelle liegt vorliegend nicht vor.
21 
Der Antragsteller begehrt mit seinem Antrag die Errichtung einer Einigungsstelle im Hinblick auf die Auswirkungen der Neuproduktion von HT III in B. auf den von ihm vertretenen Standort B. J. in W.. Insoweit ist der Antrag des Antragstellers auszulegen. Danach ist es nicht offensichtlich, dass in der Neuproduktion von HT III in B. für den Standort W. keine wesentliche Betriebseinschränkung im Sinne des § 111 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 BetrVG vorliegt.
22 
Die unternehmerische Entscheidung der Produktion eines Nachfolgeproduktes hat zwangsläufig und denknotwendig Auswirkungen auf das Vorgängerprodukt. Dies hat die Antragsgegnerin auch selbst eingeräumt und durch ihre vertraulichen Unterlagen bezüglich der Stückzahlentwicklung selbst dokumentiert. Auch die Antragsgegnerin geht danach offensichtlich davon aus, dass die Neuproduktion eines Nachfolgeproduktes zwangsläufig zu einem Rückgang der Stückzahlen für das Vorgängerprodukt führt. Danach bedeutet der Rückgang der Stückzahlen von HT II für die Produktion in W. auch einen Rückgang des Arbeitskräftebedarfs. Zwar ist der Antragsgegnerin zuzugestehen, dass vorliegend sehr wage Planungen vorliegen und diese sich, wie sich aus den unterschiedlichen Stückzahlplanungen ergeben, auch deutlich verändern. Tatsache ist jedoch, dass bereits mit der unternehmerischen Entscheidung der Neuproduktion und des Neuanlaufs von HT III in B. sich mit dieser unternehmerischen Entscheidung - wenn auch mit einem langfristigen Planungshorizont - unmittelbare und nicht nur mittelbare Auswirkungen für die HT II Produktion in W. ergeben. Alles Andere wäre wirklichkeitsfremd und widerspräche den eigenen Planungsunterlagen der Antragsgegnerin. Dass sich die Auswirkungen für HT II unter Umständen erst im Jahr 2007 ergeben, widerspricht nicht einem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bereits im Vorfeld. Es ist auch nicht offensichtlich so, dass sich die Beklagte erst in der Vorüberlegungsphase befindet und sich die Planung noch nicht auf konkrete Maßnahmen verdichtet hätte. Vielmehr befindet sich die Beklagte bereits in der Planungsphase auch bezüglich der unmittelbaren Auswirkungen der Neuproduktion von HT III auf HT II. Dem widerspricht nicht, dass die Beklagte noch nicht konkret plant, ob diesem Rückgang an Stückzahlen in W. dadurch begegnet wird, dass Arbeitsplätze durch Kündigungen abgebaut werden, umstrukturiert wird oder versetzt wird. Gerade diese konkreten Planungen sollen vom Betriebsrat von Anfang an mitbegleitet werden. Ansonsten liefe der Betriebsrat Gefahr, vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden, so dass die Antragsgegnerin dem Antrag auf Errichtung einer dann zu bildenden Einigungsstelle mit dem Argument widersprechen könnte, dass die Betriebsänderungen bereits durchgeführt seien, die Einigungsstelle somit offensichtlich unzuständig sei.
23 
Zwar ist der Antragsgegnerin zuzugestehen, dass nicht jede Neuproduktion eines Produktes in einem anderen Betrieb eine Betriebsänderung im Sinne des § 111 BetrVG für einen mittelbar davon betroffenen Betrieb darstellt. Handelt es sich bei den Auswirkungen aber um direkte, unmittelbare und zwingende Auswirkungen, wie bei der Entscheidung eines weltweit tätigen Unternehmens bezüglich der Produktion des direkten, das Vorgängerprodukt ablösenden Nachfolgeproduktes, ist es in diesem Fall nicht offensichtlich ausgeschlossen, dass ein Mitbestimmungsrecht im Sinne einer Betriebsänderung im Sinne einer Einschränkung eines Betriebsteils gegeben ist.
24 
Auch das Argument der Antragsgegnerin, bei der Entscheidung der Neuproduktion von HT III in B. handele es sich um eine freie unternehmerische Entscheidung, führt nicht zu einer offensichtlichen Unzuständigkeit der Einigungsstelle. Jede Betriebsänderung stellt eine unternehmerische freie Entscheidung dar. Trotzdem sieht das Gesetz vor, dass vor einer Betriebsänderung im Rahmen der Interessenausgleichsverhandlungen der Betriebsrat zu beteiligen ist, auch wenn er die Maßnahmen der Antragsgegnerin letztendlich nicht durch einen Spruch der Einigungsstelle insoweit verhindern kann.
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Die Einigungsstelle ist auch nicht deshalb offensichtlich unzuständig, weil die Betriebsänderung bereits durchgeführt worden wäre. Bei der geplanten Betriebsänderung für den Betriebsrat W. handelt es sich nämlich nicht um die Entscheidung der Neuproduktion von HT III in B.. Insoweit wäre die Einigungsstelle tatsächlich offensichtlich unzuständig, da die Betriebsänderung bereits erfolgt ist. Die Betriebsänderung für den Betriebsrat W. im vorliegenden Fall sind die unmittelbaren Auswirkungen auf die Produktion von HT II in W..
26 
Handelt es sich bei den unmittelbaren Auswirkungen möglicherweise um eine Betriebseinschränkung für W., ist diese für den Betrieb in W. auch wesentlich, da 130 Arbeitnehmer betroffen sind, der vom Bundesarbeitsgericht aufgestellte Schwellenwert von 5 % bei einer Mitarbeiterzahl von 1.000 somit überschritten ist.
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2. Soweit der Antragsteller die von jeder Seite zu benennende Anzahl der Beisitzer auf vier beantragt hat, ist der Antrag nur in Höhe von zwei Beisitzern pro Seite begründet. Art und Umfang der möglicherweise bestehenden Betriebsänderung, sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht, gebieten es nicht, von der regelmäßigen Beisitzerzahl von zwei pro Seite abzuweichen. Da das Gericht an den Antrag bezüglich der Bestimmung der Zahl der Beisitzer nicht gebunden ist, ist der Antrag auch nicht teilweise abzuweisen (Germelmann/Matthes, a.a.O., RdNr. 30).
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Nicht zu entscheiden im vorliegenden Fall ist die Frage, ob die Einigungsstelle zuständig ist.

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