Urteil vom Anwaltsgerichtshof NRW - 1 AGH 26/15
Tenor
1.)
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Dem Kläger bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages leistet.
Der Geschäftswert wird auf 50.000 Euro festgesetzt.
2.)
Die aufschiebende Wirkung der Klageerhebung wird wiederherge-stellt.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Der Geschäftswert wird auf 10.000 Euro festgesetzt.
1
Tatbestand
2Der am ##.##.1968 geborene Kläger war zunächst (seit 2003) im Bezirk der Rechts-anwaltskammer L zugelassen. Am ##.##.2013 wurde er Mitglied der Rechtsan-waltskammer E. Der Kläger betreibt seine Kanzlei in X. Er trug früher zeitweilig den Nachnamen S.
3Mit Urteil vom 15.08.2012 verwarnte das Amtsgericht Köln den Kläger wegen Untreue (rechtskräftig). Hintergrund der Verurteilung war eine unterlassene Weiter-leitung von Mandantengeldern an das Ausländeramt. Der Anwaltsgerichtshof des Landes Nordrhein-Westfalen (2. Senat) verurteilte den Kläger mit Urteil vom 04.04.2014 (rechtskräftig seit dem 05.08.2014) zu einem zweijährigen Tätig-keitsverbot auf dem Gebiet des Strafrechts. Gegenstand des Urteils war neben dem soeben geschilderten Untreuefall ein weiterer – vom 2. Senat als Untreue gewerteter, aber strafrechtlich nicht abgeurteilter – Fall (Nichtweiterleitung von Versiche-rungsgeldern an den Mandanten) sowie zwei weitere berufsrechtliche Verstöße. Trotz der Untreue meinte der 2. Senat von einem an sich gebotenen Berufsverbot absehen zu können, weil die persönliche Lebenssituation des Klägers die Taten in milderem Licht hätten erscheinen lassen (seine Frau betrieb „animal hording“, was offenbar zu katastrophalen Lebensumständen geführt hat, es folgte Trennung und Scheidung; die Tiere seien aber inzwischen weggegeben worden, die Trennung und Scheidung seien seit mehreren Jahren vollzogen; eine Gefährdung für die Allge-meinheit bestehe nicht mehr, der Kläger habe sich in X eine neue Existenz aufgebaut).
4Mit Bescheid vom 29.05.2015 hat die Beklagte die Zulassung des Klägers aus den Gründen von § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO widerrufen und die sofortige Vollziehung der Widerrufsverfügung nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO angeordnet. Dem war Folgendes Verfahren vorausgegangen:
51. Anhörung zum Widerruf (die Frage des Sofortvollzugs wird darin nicht erwähnt): Schreiben der Beklagten vom 06.06.2014.
62. Schreiben des Klägers an die Beklagte vom 07.07.2014: Darin werden die schlechten finanziellen Verhältnisse eingeräumt, meinte aber, die Perspektive zur Konsolidierung zu haben. Eine Gefährdung von Interessen von Rechtssuchenden sei auszuschließen, da auf den von ihm praktizierten Gebieten (Ausländer-, Familien und Wirtschaftsrecht) Andergeldzahlungen selten seien.
73. Ruhendstellung des Widerrufsverfahrens und Fristsetzung zum Nachweis der Forderungserledigung/Ratenzahlungsvereinbarung bis zum 01.12.2014.
84. Bitte des Klägers an die Beklagte um Fristverlängerung wegen Kranken-hausaufenthalts, 01.12.2014.
95. E-mail der Beklagten, Fristverlängerung bis zum 02.03.2015.
106. E-mail des Klägers an die Beklagte vom 01.03.2015 m.d.B. um weitere Fristverlängerung wegen Krankheit.
117. E-mail der Beklagten an Kläger vom 05.03.2015 mit Fristverlängerung bis zum 19.03.2015.
128. E-mail des Klägers an Beklagte m.d.B. um letzte Fristverlängerung aus gesundheitlichen Gründen bis Ende März 2015.
139. Schreiben der Beklagten an den Kläger am 12.05.2015: Es wird darin darauf hingewiesen, dass am 20.05.2015 über den Widerruf entschieden werden wird und anheimgestellt, zuvor auf die Rechte aus der Zulassung zu verzichten.
1410. Schreiben des Klägers an Beklagte vom 20.05.2015: Er habe versucht, seine Verhältnisse zu regeln, die Gesundheit habe ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Eine allumfassende detaillierte Stellungnahme könne er deswegen noch nicht vorliegen. Ihm seien passable Umsatzzahlen im Jahr 2014 gelungen. Das Ende des strafrechtlichen Tätigkeitsverbots lasse auf eine Besserung hoffen. Er bitte um letztmalige Fristverlängerung von 30.06.2015.
1511. Widerruf der Zulassung und Sofortvollzug beschlossen am 20.05.2015.
16Der Widerrufsbescheid stützt sich auf eine beigefügte Forderungsaufsstellung in der auch zahlreiche Eintragungen im Zentralen Schuldnerverzeichnis enthalten sind (vier unter dem früheren Nachnamen des Klägers „S“, weitere zehn unter dem jetzigen Nachnamen und Geburtsnamen „Y“). Der Kläger habe die gewichtigen Indizien für den Vermögensverfall nicht ausräumen können.
17Bzgl. des Sofortvollzuges wird ausgeführt, dass dessen Anordnung dringend geboten sei, da der Kläger strafrechtlich wegen Untreue verurteilt worden sei und der AGH in einem weiteren Fall die Untreue festgestellt habe. Es bestünden daher erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass sich die besondere Gefahr für wichtige Gemeinschafts-güter bzw. für Rechtssuchende bereits realisiert habe. Darüber hinaus bestünde aufgrund der wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers jederzeit die Möglichkeit, dass Fremdgelder von weiteren Zwangsmaßnahmen erfasst würden. Angesichts der Höhe der titulierten Forderungen sei zu erwarten, dass sich Vollstreckungsversuche auf jeden greifbaren Vermögenswert erstreckten, so dass auch beruflich anvertraute Vermögenswerte gefährdet seien. Anhaltspunkte für eine bevorstehende und abschließende Konsolidierung gebe es nicht. Die Interessenabwägung falle daher zu Lasten des Klägers aus.
18Der Widerrufsbescheid ist dem Kläger am 01.06.2015 zugestellt worden. Wegen der Einzelheiten wird auf die Kopie des Bescheides nebst Anlagen, Bl. 18 ff. d.A., ver-wiesen.
19Gegen den Widerrufsbescheid und die Anordnung des Sofortvollzuges wendet sich der Kläger mit seiner Anfechtungsklage (nebst Antrag zum einstweiligen Rechts-schutz) vom 08.06.2015, die am selben Tage beim Anwaltsgerichtshof eingegangen ist.
20Der Kläger räumt die Eintragungen im Schuldnerverzeichnis ein. Er räumt auch ein, am 03.07.2014 die Vermögensauskunft abgegeben zu haben. Es lägen aber keine Indizien für eine Gefährdung der Interessen der Rechtssuchenden vor. Sein An-spruch auf rechtliches Gehör sei verletzt worden, da die Widerrufsentscheidung überraschend gekommen sei, ohne dass er zuvor darauf hingewiesen worden sei, dass weitere Fristverlängerung nicht gewährt werde. Er habe auf eine weitere Fristverlängerung vertrauen dürfen. Ihm sei durch die Entscheidung die Gelegenheit genommen worden, ihm günstige Tatsachen vorzutragen. Er habe mit zwei Gläubigern Ratenzahlungsvereinbarungen abgeschlossen, deren Einhaltung ihm aber dann im Winter 2014 aufgrund seiner Erkrankung nicht mehr möglich gewesen sei.
21Bzgl. des Antrages zum vorläufigen Rechtsschutz meint der Kläger, dass konkrete Gefahren für die Interessen von Rechtssuchenden nicht vorlägen. Die Beklagte habe die Gefahr mit Sachverhalten aus dem Jahre 2010 und 2011 begründet, die schon
22– wie auch die Vorbelastungen – bereits bei der ersten Anhörung des Klägers im Juni 2014 bekannt gewesen seien. Trotzdem sei damals nicht sofort der Widerruf nebst Sofortvollzug herbeigeführt worden. Auch sei seit 2010 nichts mehr passiert, was auf eine konkrete Gefährdung hindeuten könnte.
23Wegen der Einzelheiten des klägerischen Vortrags wird auf die Klageschrift nebst Anlagen sowie den Schriftsatz vom 03.08.2015 und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 21.08.2015 verwiesen.
24Der Kläger beantragt,
25den Bescheid aufzuheben und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Zulassungswiderruf anzuordnen.
26Die Beklagte beantragt,
27die Klage abzuweisen und den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung zurückzuweisen.
28Die Akten ##### waren in Kopie beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
29Entscheidungsgründe
30I. Klage
31Die Anfechtungsklage des Klägers gegen den Bescheid der Beklagten ist ohne Vorverfahren (§ 68 VwGO, § 110 JustizG NW) zulässig (§ 42 VwGO, §§ 112 Abs. 1, 112 c Abs. 1 BRAO), aber unbegründet und deshalb abzuweisen.
32Gemäß § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO ist die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft zu wider-rufen, wenn der Rechtsanwalt in Vermögensverfall geraten ist, es sei denn, die Interessen der Rechtsuchenden werden dadurch nicht gefährdet.
331.
34Ein Vermögensverfall liegt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. nur BGH, Beschluss vom 08.10.2010 – AnwZ (B) 11/09 m.w.N.) vor, wenn der Rechtsanwalt in ungeordnete, schlechte finanzielle Verhältnisse geraten ist, die er in absehbarer Zeit nicht ordnen kann und außer Stande ist, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Beweisanzeichen für einen Vermögensverfall sind dabei die Erwirkung von Schuldtiteln und fruchtlose Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gegen den Rechtsanwalt. Nach § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO wird darüber hinaus der Vermögensverfall vermutet, wenn der Rechtsanwalt in das vom Vollstreckungsgericht zu führen-de Schuldnerverzeichnis (§ 882b ZPO) eingetragen ist.
35Maßgeblicher Zeitpunkt, auf den abzustellen ist, ist der Zeitpunkt des Abschlusses des behördlichen Widerrufsverfahrens (BGH, Urteil vom 29.06.2011, AnwZ (BRFG) 11/10 = NJW 2011, 3234).
36Die Vermutung entfällt, wenn die Eintragung wieder gelöscht ist (BT-Drs. 11/3253 S. 20). Die Vermutungswirkung muss aber nur zum Zeitpunkt der Widerrufsent-scheidung bestehen (BGH, Beschl. v. 08.12.2010 – AnwZ(B) 119/09).
37Ungeordnete Vermögensverhältnisse liegen auch dann nicht mehr vor, wenn eine Ratenzahlungsvereinbarung getroffen wurde und der Schuldner der Ratenzahlung nachkommt und keine weiteren Vollstreckungshandlungen mehr gegen ihn erfolgen und wenn die Gläubiger in absehbarer Zeit befriedigt werden können (BGH NJW 2005, 1271).
38Hier bestand zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerrufsbescheids eine Vielzahl von Eintragungen im Zentralen Schuldnerverzeichnis. Die Vermutungswirkung greift also ein. Bisher ist es dem Kläger gelungen, die Forderungen zu tilgen oder wenigstens zu tragfähigen Ratenzahlungsvereinbarungen zu gelangen.
39Ob es einen Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör darstellt, dass die Beklagte die Eintragungen im Schuldnerverzeichnis unter dem Namen „Y“ sowie die Eintragungen in der Forderungsliste Nr.9 ff. zum Gegenstand des Widerrufsbescheids gemacht hat, obwohl diese im ursprünglichen Anhörungs-schreiben nicht enthalten waren, kann im vorliegenden Zusammenhang dahinstehen, da alleine schon die vier Eintragungen unter dem Nachnamen „S“, die teils fünf-stellige Summen betreffen, die Vermutungswirkung begründen.
40Kein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör liegt darin, dass die Beklagte am 20.05.2015 den Widerruf beschlossen hat, ohne zuvor auf die Nicht-gewährung einer weiteren Fristverlängerung hinzuweisen. Die letzte gesetzte Frist war abgelaufen (19.03.2015). Der Kläger war mit Schreiben der Beklagten vom 12.05.2015 auf die anstehende Entscheidung hingewiesen worden. Damit konnte die Beklagte entscheiden. Dass der Kläger gesundheitsbedingt überhaupt nicht in der Lage gewesen wäre, zuvor sachlich Stellung zu nehmen, trägt er selbst nicht vor. Vielmehr heißt es in seinem Schreiben vom 20.05.2015, dass er seit Ende März/Anfang April 2015 wieder voll einsatzfähig gewesen sei. Den Abschluss getroffener und eingehaltener Ratenzahlungsvereinbarungen bzgl. der diversen Zahlungsverpflichtungen oder deren Erfüllung hätte er dann schon vortragen können. Das hat er in seinem Schriftsatz vom 20.05.2015 aber gerade nicht getan. Dass dem Kläger aufgrund unterbliebener weiterer Fristverlängerungen eventuell die Möglich-keit genommen wurde, seine Vermögensverhältnisse zu ordnen, ist keine Frage des rechtlichen Gehörs.
412.
42Anhaltspunkte dafür, dass ungeachtet des Vermögensverfalls die Interessen der Rechtsuchenden nicht gefährdet waren, waren bei Erlass des Widerrufsbescheides nicht erkennbar. Der Vermögensverfall führt regelmäßig zu einer derartigen Gefährdung, insbesondere im Hinblick auf den Umgang des Rechtsanwalts mit Fremdgeldern und den darauf möglichen Zugriff seiner Gläubiger. Im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Widerrufsbescheides war nicht sichergestellt, dass der Kläger keinen Zugriff zum Fremdgeld hatte oder aus sonstigen Gründen eine Gefährdung nicht vorlag.
43II. Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO
44Der zulässige Antrag des Klägers auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klageerhebung ist auch begründet.
451.
46Ein Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung (die Beklagte hat die sofortige Vollziehung des Widerrufs angeordnet; der etwas anders formulierte Antrag des Klägers ist als Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung aus-zulegen) ist nach § 80 Abs. 5 VwGO i.V.m. § 112c BRAO statthaft. In der Haupt-sache ist die Anfechtungsklage, die hier auch erhoben wurde, der zutreffende Rechtsschutz. Der Anwaltsgerichtshof ist zur Entscheidung nach den genannten Vorschriften als Gericht der Hauptsache berufen. Eines vorherigen Antrages an die Beklagte, die Anordnung des Sofortvollzuges zurückzunehmen, bedurfte es nicht (vgl. Kopp/Schenke, 20. Aufl., § 80 Rdn. 138).
472.
48Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist auch begründet. Der Anwaltsgerichtshof hat zunächst die formelle und materielle Rechtmäßigkeit der Vollziehungsanordnung zu überprüfen und – im Falle, dass diese rechtmäßig war – eine eigene originäre Ent-scheidung über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung zu treffen (Kopp/Schenke a.a.O., § 80 Rdn. 147).
49Im vorliegenden Fall war die Anordnung des Sofortvollzuges formell und materiell rechtswidrig.
50a) In formeller Hinsicht ist die Anordnung des Sofortvollzuges rechtswidrig, weil die
51– jedenfalls im vorliegenden konkreten Fall - notwendige Anhörung des Klägers zur Frage des Sofortvollzuges unterblieben ist.
52Es ist umstritten, ob es der Anhörung (§ 28 VwVfG direkt oder analog i.V.m. § 32 BRAO) zur Frage des Sofortvollzuges bedarf (vgl. Kopp/Schenke a.a.O., § 80 Rdn. 82). Die ganz h.M. verneint eine Anhörungspflicht. § 28 VwVfG sei nicht direkt anwendbar, da die Anordnung der sofortigen Vollziehung kein Verwaltungsakt sei. Eine analoge Anwendung scheide schon deswegen aus, weil § 80 VwGO ab-schließende Regelungen zur Anordnung der sofortigen Vollziehung enthalte (vgl. nur: OVG Lüneburg NVwZ-RR 2007, 348; Schoch/Schneider/Bier, Verwaltungsgerichts-ordnung, 28. Ergänzungslieferung 2015, § 80 Rdn. 258 f.). Nur dort, wo eine besondere Grundrechtsrelevanz oder eine Überraschungsentscheidung vorliege (letzteres wird z. B. angenommen bei nachträglicher Anordnung der sofortigen Vollziehung ohne Anhörung, vgl. Schoch/u.a. a.a.O.), sei eine vorherige Anhörung erforderlich. Einer Anhörung bedurfte es jedenfalls im vorliegenden Fall, weil er eine besondere Grundrechtsrelevanz wegen der berufsrechtlich existenziellen Ent-scheidung (die Ausübung des Berufes des Rechtsanwalts ist mit Widerruf und Sofortvollzug sofort untersagt) und wegen möglicher irreparabler Schäden durch die sofortige Vollziehbarkeit (vgl. BVerfG NJW 2010, 2268) aufweist und gleichzeitig die Anordnung des Sofortvollzuges bei vorher rund einjährigem Zuwarten mit einer Entscheidung aus Sicht des Klägers durchaus überraschend erscheint. Er musste bei diesem vorangegangenen Verhalten der Beklagten keineswegs mehr mit der An-ordnung eines Sofortvollzuges rechnen. Dass die Beklagte von der Verurteilung erst am 20. April 2015 von der Verurteilung durch den Anwaltsgerichtshof erfahren haben will, ändert daran nichts, zumal dann immer noch ein Zeitraum von einem Monat bis zur Widerrufsentscheidung zur Verfügung gestanden hätte, um eine Anhörung durchzuführen.
53b) In materieller Hinsicht muss die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten angeordnet worden sein (§ 80 Abs. 2 S. 4 VwGO). Die Anordnung der sofortigen Vollziehung muss im überwiegen-den öffentlichen Interesse zur Abwehr konkreter Gefahren für die Rechtsuchenden oder die Rechtspflege geboten sein (BGH, Beschluss vom 16. Juli 2001 – AnwZ (B) 61/00 –, juris). Dies ist hier nicht erkennbar.
54Zwar sollen eine gestellte, berufsbezogene Strafanzeige (BGH NJW-RR 2003, 1642, 1643) bzw. eine berufsbezogene strafrechtliche Verurteilung im Strafbefehlswege bzw. anhängige Strafverfahren (BGH, Beschluss vom 16. Juli 2001 – AnwZ (B) 61/00 –, juris) das überwiegende öffentliche Interesse zur Abwehr konkreter Gefahren begründen können. Diese Voraussetzungen liegen hier an sich vor. Der Kläger ist einmal wegen Untreue strafrechtlich verurteilt worden. Den vom 2. Senat fest-gestellten zweiten Untreuevorwurf muss man zwar unter tatsächlichen Gesichts-punkten berücksichtigen, man darf ihn jedoch nicht mit der strafrechtlichen Be-wertung der Untreue nach § 266 StGB beurteilen, da dies ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung aus Art. 6 EMRK darstellen würde. Die Unschuldsvermutung wird verletzt, „wenn die Äußerung eines Amtsträgers, die eine einer Straftat an-geklagte Person betrifft, die Auffassung widerspiegelt, sie sei schuldig, sofern diese Person nicht entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen schuldig gesprochen worden ist“ (EGMR JR 2014, 533 RZ 46). Bzgl. der zweiten Tat ist der Kläger aber nie von einem dafür zuständigen Strafgericht der Untreue für schuldig befunden worden. Der Anwaltsgerichtshof wiederum ist nicht zur Feststellung strafrechtlicher Schuld sondern nur zur Feststellung disziplinarischer Verstöße berufen. Insoweit verstößt die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung gegen die Unschuldsvermutung, wenn dort formuliert ist: „In einer weiteren Angelegenheit hatten Sie sich ebenfalls der Untreue gem. § 266 StGB schuldig gemacht …“.
55Die Abwägung der Beklagten leidet vor allem aber daran, dass sie die günstige Prognose, die der 2. Senat des Anwaltsgerichtshofes dem Kläger ausgesprochen hat und welche diesen bewogen hat, ausnahmsweise von einem Berufsverbot abzu-sehen, völlig außen vorlässt und nicht berücksichtigt. Es bestehen hier durchaus Anhaltspunkte dafür, dass ein Ausnahmefall vorliegt. Schließlich wäre auch zu erörtern gewesen, dass es seit den o.g. Vorwürfen zu einer konkreten Gefährdung von Fremdgeldern über Jahre hinweg nicht mehr gekommen ist, jedenfalls solches nicht bekannt geworden ist. Dies alles erschüttert die Indizwirkung einer straf-rechtlichen Verurteilung – wegen eines einzigen Falles der Untreue - für das Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses am Sofortvollzug nachhaltig.
56III. Nebenentscheidungen
571. Klage
58Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 112c BRAO, 154 VwGO und §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11 ZPO. Der Streitwert folgt aus § 194 Abs. 2 BRAO.
59Ein Anlass, die Berufung nach § 124 VwGO, § 112 c Abs. 1 BRAO zuzulassen, besteht nicht.
60Weder weist die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierig-keiten auf noch hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung (§§ 124 a Abs. 1 Satz 1, 124 Abs. 2 Nr. 2 und 3 VwGO); die entscheidungserheblichen Fragen sind in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geklärt. Die hier entschiedenen Rechts-fragen betreffen lediglich obergerichtlich geklärte Zulässigkeitsfragen.
61Ein Fall der Divergenz nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO ist ebenfalls nicht gegeben, weil das Urteil des Senats tragend weder von der Rechtsprechung des Bundes-gerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des Bundesverfassungsgerichts oder des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes abweicht.
622. Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO
63Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 112c BRAO, 154 VwGO. Bei der Festsetzung des Streitwertes hat der Senat die Vorläufigkeit der Entscheidung berücksichtigt.
64Rechtsmittelbelehrung
65Die Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO ist unanfechtbar (§§ 146, 152 VwGO, 112c Abs. 1 S. 2 BRAO). Im Übrigen gilt:
66Gegen dieses Urteil kann innerhalb eines Monats nach Zustellung des voll-ständigen Urteils schriftlich die Zulassung der Berufung beantragt werden. Der Antrag ist bei dem Anwaltsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen, Heßlerstraße 53, 59065 Hamm, zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Bundesgerichtshof, Herrenstraße 45 a, 76133 Karlsruhe, einzureichen. Die Berufung ist nur zuzulassen,
671. wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
682. wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
693. wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
704. wenn das Urteil von einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
715. wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
72Vor dem Anwaltsgerichtshof und dem Bundesgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevoll-mächtigte vertreten lassen. Das gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bundesgerichtshof eingeleitet wird. Als Bevoll-mächtigte sind Rechtsanwälte und Rechtslehrer an einer deutschen Hoch-schule im Sinne des Hochschulrahmengesetzes mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Ferner sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) bezeichneten Personen und Organisationen als Bevollmächtigte zugelassen. Ein nach dem Vorstehenden Vertretungsberechtigter kann sich selbst vertreten; es sei denn, dass die sofortige Vollziehung einer Widerrufsverfügung angeordnet und die auf-schiebende Wirkung weder ganz noch teilweise wiederhergestellt worden ist. Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammen-schlüsse können sich durch eigene Beschäftigte mit Befähigung zum Richter-amt oder durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt anderer Behör-den oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammen-schlüsse vertreten lassen.
73Die Festsetzung des Streitwerts ist unanfechtbar.
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Referenzen
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