Urteil vom Bundesarbeitsgericht (6. Senat) - 6 AZR 948/08
Tenor
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1. Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Thüringer Landesarbeitsgerichts vom 5. September 2008 - 8 Sa 476/07 - wird zurückgewiesen.
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2. Der Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Tatbestand
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Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer vom beklagten Insolvenzverwalter erklärten ordentlichen Kündigung.
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Der 1952 geborene Kläger war bei der Schuldnerin seit 1990 als Arbeitnehmer beschäftigt. Am 3. November 2006 stellte die Schuldnerin Insolvenzantrag. Durch Beschluss vom 6. November 2006 bestellte das Amtsgericht Erfurt den Beklagten zum vorläufigen Insolvenzverwalter.Die Schuldnerin zeigte mit Zustimmung des Beklagten im Schreiben vom 20. November 2006 gegenüber der Agentur für Arbeit die beabsichtigte Entlassung von 19 ihrer insgesamt 59 Arbeitnehmer an. Der Kläger war von dieser Massenentlassungsanzeige erfasst. Als vorgesehenen Entlassungszeitpunkt für den Kläger gab sie den 30. April 2007 an. Tatsächlich lief die Kündigungsfrist auch bei einer Kündigung noch im November 2006 erst am 31. Mai 2007 ab. Die abweichende Angabe gegenüber der Agentur für Arbeit beruhte auf einem Schreibversehen. Die Agentur für Arbeit setzte im Bescheid vom 24. November 2006 vorbehaltlich der Tatsache, dass im Betrieb kein Betriebsrat bestehe, die Sperrfrist auf die Zeit vom 23. November 2006 bis zum 22. Dezember 2006 fest. Die Amtszeit des Betriebsrats der Schuldnerin hatte im Mai 2006 geendet. Eine im November 2006 durchgeführte Betriebsratswahl war nichtig.
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Die Schuldnerin kündigte unter dem 23. November 2006 19 Arbeitnehmern. Das Arbeitsverhältnis des Klägers kündigte sie zum 31. Mai 2007. Das dagegen eingeleitete Kündigungsschutzverfahren ist nach § 240 ZPO unterbrochen.
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Die Schuldnerin zeigte - wiederum mit Zustimmung des Beklagten - mit Schreiben vom 18. Dezember 2006 bei der Agentur für Arbeit die beabsichtigte Entlassung der verbliebenen 40 Arbeitnehmer an. Von dieser Massenentlassungsanzeige war der Kläger unstreitig nicht erfasst. Die Agentur für Arbeit setzte mit Bescheid vom 8. Januar 2007 die Sperrfrist auf die Zeit vom 19. Dezember 2006 bis zum 18. Januar 2007 fest.
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Am 22. Dezember 2006 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Dieser kündigte am 28. Dezember 2006 36 Arbeitnehmern und nach Zustimmung des Integrationsamtes den vier schwerbehinderten Arbeitnehmern der Schuldnerin im Januar 2007. Das Arbeitsverhältnis des Klägers kündigte er ordentlich mit Schreiben vom 9. Januar 2007 zum 30. April 2007, nachdem er von der gegen die erste Kündigung erhobenen Kündigungsschutzklage des Klägers Kenntnis erlangt hatte. Eine Massenentlassungsanzeige erstattete der Beklagte bezüglich dieser Kündigung, gegen die sich der Kläger mit seiner am 30. Januar 2007 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage wendet, nicht. Zwischenzeitlich ist das Arbeitsverhältnis jedenfalls durch eine weitere Kündigung des Beklagten zum 30. November 2007 beendet worden.
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Der Kläger hat vorgetragen, die Kündigung des Beklagten vom 9. Januar 2007 sei unwirksam, weil es insoweit an der erforderlichen Massenentlassungsanzeige fehle. Dieser Mangel könne auch nicht durch § 18 Abs. 4 KSchG geheilt werden. Dieser Vorschrift komme nach der Änderung der Rechtsprechung zum Entlassungsbegriff keine praktische Bedeutung mehr zu. Jedenfalls sei die tatsächliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses maßgeblich. Die Kündigung vom 9. Januar 2007 hätte das Arbeitsverhältnis aber erst nach Ablauf der bis zum 22. März 2007 laufenden Freifrist beenden können. Im Übrigen seien die Massenentlassungsanzeigen der Schuldnerin auch inhaltlich nicht ordnungsgemäß und damit nicht rechtswirksam erfolgt.
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Der Kläger hat zuletzt beantragt
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festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung des Beklagten vom 9. Januar 2007 nicht aufgelöst wird.
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Der Beklagte hat zur Begründung seines Klageabweisungsantrags vorgetragen, er habe vor Ausspruch der Kündigung vom 9. Januar 2007 keine erneute Massenentlassungsanzeige erstatten müssen. Diese Kündigung sei noch von der Massenentlassungsanzeige vom 20. November 2006 gedeckt. § 18 Abs. 4 KSchG sei auch nach der geänderten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum Entlassungsbegriff nicht bedeutungslos geworden. Diese Vorschrift verlange nur, dass die Kündigung innerhalb der Freifrist erklärt werde. Die Freifrist gelte damit insbesondere für den Fall der Nachkündigung im eröffneten Insolvenzverfahren.
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Das Arbeitsgericht hat die Klage nach Durchführung einer Beweisaufnahme zur Entscheidung des Beklagten, den Betrieb stillzulegen, abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung des Klägers der Klage stattgegeben. Mit seiner vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision erstrebt der Beklagte die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.
Entscheidungsgründe
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Die Revision ist unbegründet. Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist durch die Kündigung des Beklagten vom 9. Januar 2007 nicht zum 30. April 2007 aufgelöst worden, weil der Beklagte vor Erklärung dieser Kündigung keine erneute Massenentlassungsanzeige nach § 17 KSchG erstattet hat.
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I.1. Der Beklagte konnte zwar das Arbeitsverhältnis des Klägers mit der Kündigungsfrist des § 113 Satz 2 InsO zum 30. April 2007 kündigen, obwohl bereits die Schuldnerin das Arbeitsverhältnis mit seiner Zustimmung durch Schreiben vom 23. November 2006 unter Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist zum 31. Mai 2007 gekündigt hatte(vgl. BAG 13. Mai 2004 - 2 AZR 329/03 - BAGE 110, 331, 333). Bei dieser Nachkündigung war er jedoch uneingeschränkt an die in §§ 17 f. KSchG geregelten Pflichten gebunden (KR/Weigand 9. Aufl. §§ 113, 120 - 124 InsO Rn. 46; vgl. allgemein für die Pflichten aus §§ 17 f. KSchG BSG 5. Dezember 1978 - 7 RAr 32/78 - BB 1979, 1666).
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2. Gem. § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KSchG ist ein Arbeitgeber verpflichtet, der Agentur für Arbeit Anzeige zu erstatten, bevor er in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern mehr als fünf Arbeitnehmer innerhalb von 30 Kalendertagen entlässt. Diese Voraussetzungen waren bei der Kündigung vom 9. Januar 2007 erfüllt.
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Unter Entlassung iSv. § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG ist bei unionsrechtskonformer Auslegung unter Beachtung der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen - MERL(ABl. EG Nr. L 225 vom 12. August 1998 S. 16) die Erklärung der Kündigung des Arbeitsverhältnisses zu verstehen (BAG 23. März 2006 - 2 AZR 343/05 - BAGE 117, 281; Senat 13. Juli 2006 - 6 AZR 198/06 - BAGE 119, 66). Davon ausgehend war - was auch der Beklagte im Grundsatz nicht in Zweifel zieht - die Kündigung vom 9. Januar 2007 anzeigepflichtig. Die Schuldnerin hatte mit Schreiben vom 28. Dezember 2006 36 der verbliebenen 40 Arbeitnehmer gekündigt. Die Kündigung des Klägers vom 9. Januar 2007 erfolgte weniger als 30 Tage danach. Der gesetzliche Schwellenwert des § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KSchG war damit auch dann überschritten, wenn kein einheitlicher Stilllegungsbeschluss vorgelegen haben sollte und deshalb die nach der ersten Kündigungswelle verbliebenen 40 Arbeitnehmer zu der den Betrieb kennzeichnenden Belegschaftsstärke geworden wären (vgl. BAG 13. April 2000 - 2 AZR 215/99 - zu III 1 b der Gründe, AP KSchG 1969 § 17 Nr. 13 = EzA KSchG § 17 Nr. 9).
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II. Entgegen der Auffassung des Beklagten entband ihn die von der Schuldnerin erstattete Massenentlassungsanzeige vom 20. November 2006, von der der Kläger erfasst war, nicht von der Verpflichtung, vor Erklärung der Kündigung vom 9. Januar 2007 eine erneute Massenentlassungsanzeige zu erstatten. Die durch eine ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige gem. § 17 KSchG eröffnete Kündigungsmöglichkeit war mit der Erklärung der Kündigung der Schuldnerin vom 23. November 2006 verbraucht. Für jede weitere Kündigung war eine neue Massenentlassungsanzeige erforderlich, sofern wie bei der Kündigung vom 9. Januar 2007 die Voraussetzungen des § 17 Abs. 1 KSchG erfüllt waren. Aus § 18 Abs. 4 KSchG folgt nichts anderes.
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1. Zwar entfaltet eine vom Schuldner mit Zustimmung des vorläufigen schwachen Insolvenzverwalters erstattete ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige nach Insolvenzeröffnung in der Regel für den Insolvenzverwalter weiterhin Wirkung. Dieser ist in die Arbeitgeberstellung der nach § 108 Abs. 1 Satz 1 InsO fortbestehenden Arbeitsverhältnisse eingerückt(vgl. zu dieser Rechtsstellung des Insolvenzverwalters Senat 5. Februar 2009 - 6 AZR 110/08 - Rn. 15, AP TVG § 1 Tarifverträge: Bau Nr. 308 = EzA TVG § 4 Bauindustrie Nr. 136; zur Wirkung der vom Betriebsveräußerer erstatteten Massenentlassungsanzeige für den Erwerber im Falle des § 613a BGB KR/Weigand 9. Aufl. § 17 KSchG Rn. 72; APS/Moll 3. Aufl. § 17 KSchG Rn. 95 mwN).
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2. Dies gilt jedoch nur, solange die angezeigte Kündigung noch nicht erklärt worden ist.
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a) Der Beklagte musste allerdings vor Ausspruch der Kündigung vom 9. Januar 2007 das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG nicht durchführen. Die im November 2006 durchgeführte Betriebsratswahl war nichtig. Der Betriebsrat hat damit rechtlich nie existiert(ErfK/Koch 10. Aufl. § 19 BetrVG Rn. 14; Fitting 25. Aufl. § 19 Rn. 6). Der Beklagte blieb jedoch verpflichtet, die Anzeigepflichten gegenüber der zuständigen Arbeitsverwaltung ordnungsgemäß zu erfüllen. Dies hat er unterlassen.
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b) Unter dem Begriff der „Entlassung“ in § 17 KSchG und in § 18 Abs. 1 und 2 KSchG ist aufgrund der unionsrechtlichen Vorgaben des EuGH(27. Januar 2005 - C-188/03 - [Junk] Rn. 47 f., Slg. 2005, I-885) die Erklärung der Kündigung zu verstehen. Eine Kündigung kann darum schon unmittelbar nach Eingang der Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit erklärt werden. Die betroffenen Arbeitnehmer dürfen allerdings nicht vor Ablauf der Fristen des § 18 Abs. 1 bzw. Abs. 2 KSchG ausscheiden (BAG 6. November 2008 - 2 AZR 935/07 - Rn. 25 ff., AP KSchG 1969 § 18 Nr. 4 = EzA KSchG § 18 Nr. 1). Ob auch in § 18 Abs. 4 KSchG der Begriff der „Entlassung“ unionsrechtskonform dahin auszulegen ist, dass darunter die Kündigungserklärung zu verstehen ist, kann dahinstehen (ebenso offengelassen von BAG 6. November 2008 - 2 AZR 935/07 - Rn. 29, aaO). Jedenfalls lässt sich dieser Norm bei unionsrechtskonformer Auslegung entgegen der Auffassung der Revision nicht das Recht entnehmen, ein nach einer ordnungsgemäßen Massenentlassungsanzeige gekündigtes Arbeitsverhältnis innerhalb der Freifrist des § 18 Abs. 4 KSchG ein weiteres Mal zu kündigen, wenn diese zweite Kündigung wie hier im zeitlichen Zusammenhang von 30 Tagen mit einer weiteren Massenentlassung erklärt wird. Anderenfalls liefe der von §§ 17 f. KSchG verfolgte Zweck leer, Massenentlassungen zu vermeiden oder deren Folgen zu mildern (vgl. für Art. 2 der MERL EuGH 10. September 2009 - C-44/08 - [Akavan Erityisalojen Keskusliitto AEK ua.] Rn. 46, EzA EG-Vertrag 1999 Richtlinie 98/59 Nr. 3; zum bei richtlinienkonformer Berücksichtigung der MERL im Vordergrund der §§ 17 f. KSchG stehenden individuellen Schutz der betroffenen Arbeitnehmer APS/Moll 3. Aufl. Vor §§ 17 ff. KSchG Rn. 12; vgl. auch KR/Weigand 9. Aufl. § 17 KSchG Rn. 8; ErfK/Kiel 10. Aufl. § 17 KSchG Rn. 2). Die Verpflichtungen, die der Arbeitgeber bei Massenentlassungen einzuhalten hat, würden bei einer derartigen Auslegung gegenüber den nach der Richtlinie einzuhaltenden Anforderungen verringert. Eine solche Auslegung verbietet das Gebot der unionsrechtskonformen Anwendung des nationalen Rechts (vgl. EuGH 16. Juli 2009 - C-12/08 - [Mono Car Styling] Rn. 54 ff., EzA EG-Vertrag 1999 Richtlinie 98/59 Nr. 2).
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aa) Nach Art. 3 Abs. 1 MERL hat der Arbeitgeber der zuständigen Behörde alle beabsichtigten Massenentlassungen schriftlich anzuzeigen. § 17 KSchG verpflichtet den Arbeitgeber, der Agentur für Arbeit Anzeige zu erstatten, bevor er die in § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3 KSchG genannte Anzahl der Arbeitnehmer innerhalb von 30 Kalendertagen entlässt. Sowohl die Richtlinie als auch das diese umsetzende nationale Recht stellen also darauf ab, ob durch die beabsichtigten Kündigungen die Schwellenwerte überschritten werden, die die Pflichten nach Art. 2 bis 4 der MERL bzw. §§ 17 f. KSchG auslösen. Sie verlangen in jedem Fall, in dem dies der Fall ist, eine eigenständige Anzeige für alle von der Massenentlassungsanzeige erfassten Arbeitnehmer.
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bb) Diese Verpflichtung entspricht auch dem dargelegten Sinn und Zweck der MERL, Massenentlassungen zu vermeiden oder jedenfalls ihre Zahl zu beschränken bzw. ihre Folgen zu mildern. Dazu ist zum einen den Arbeitnehmern als Gemeinschaft mit Art. 2 der MERL ein kollektiv ausgestaltetes Recht auf Information und Konsultation eingeräumt worden(vgl. EuGH 16. Juli 2009 - C-12/08 - [Mono Car Styling] Rn. 42, EzA EG-Vertrag 1999 Richtlinie 98/59 Nr. 2). Zum anderen soll nach Art. 4 Abs. 2 der MERL die zuständige Behörde, dh. die Agentur für Arbeit, in die Lage versetzt werden, nach Lösungen für die durch die beabsichtigten Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen. Dafür steht ihr die Frist des Art. 4 Abs. 1 der MERL, dh. nach dem nationalen Recht die in der Regel 30 Tage betragende Frist des § 18 Abs. 1 KSchG, zur Verfügung (EuGH 27. Januar 2005 - C-188/03 - [Junk] Rn. 47 f., Slg. 2005, I-885). Sollen diese Zwecke erfüllt werden, muss vor jeder Kündigungsentscheidung das in der Richtlinie vorgesehene und durch § 17 KSchG in nationales Recht umgesetzte Konsultationsverfahren durchgeführt werden, sofern ein beteiligungsfähiges Gremium besteht, und die erforderliche Anzeige gegenüber der zuständigen Behörde erfolgen. Der Agentur für Arbeit muss die Möglichkeit verbleiben, hinsichtlich der konkreten Kündigung innerhalb der Frist des § 18 Abs. 1 KSchG Lösungen für die durch die beabsichtigte Massenentlassung aufgeworfenen Probleme zu finden.
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cc) Die Schuldnerin hat nach Anzeige der im November 2006 beabsichtigten Massenentlassung von ihrer dadurch eröffneten Kündigungsmöglichkeit Gebrauch gemacht. Entgegen der Auffassung des Beklagten berechtigte ihn § 18 Abs. 4 KSchG nicht dazu, innerhalb der Freifrist eine weitere, an sich massenentlassungsanzeigepflichtige Kündigung ohne Erstattung einer solchen Anzeige zu erklären. Der Beklagte berücksichtigt bei seiner Argumentation nicht, dass, wie er selbst in der Revisionsbegründung formuliert, „die“ Kündigung innerhalb von 90 Tagen nach der erfolgten Massenentlassungsanzeige erklärt sein muss. Er weist selbst darauf hin, dass es keiner weiteren Aktivitäten der Arbeitsverwaltung bedarf, wenn der Arbeitgeber innerhalb dieser Frist nicht gekündigt hat und nach ihrem Ablauf keine weitere Massenentlassung vornimmt. Er blendet dabei aus, dass die Besonderheit des vorliegenden Falls darin besteht, dass nach der ersten Massenentlassungsanzeige die Kündigung erklärt worden ist und der Beklagte im zeitlichen Zusammenhang mit einer weiteren Massenentlassung dem Kläger unter Verkürzung der Kündigungsfrist ein weiteres Mal gekündigt hat. § 18 Abs. 4 KSchG verhindert Vorratsmeldungen bzw. -kündigungen (BAG 6. November 2008 - 2 AZR 935/07 - Rn. 29, AP KSchG 1969 § 18 Nr. 4 = EzA KSchG § 18 Nr. 1). Diese Vorschrift berechtigt den Arbeitgeber zu einer Kündigung ohne erneute Erstattung einer Massenentlassungsanzeige möglicherweise dann, wenn er zunächst von der Kündigung eines von einer Massenentlassungsanzeige erfassten Arbeitnehmers - etwa wegen der fehlenden Zustimmung einer Behörde - Abstand genommen hat, das Formerfordernis nachgeholt hat und nunmehr innerhalb der Freifrist kündigt. Sie berechtigt ihn aber nicht dazu, bereits erklärte, massenentlassungsanzeigepflichtige Kündigungen in der Freifrist zu wiederholen.
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dd) Daraus, dass die Schuldnerin aufgrund der Verwendung eines veralteten Formulars in der Massenentlassungsanzeige vom 20. November 2006 sowie in der Liste der zu entlassenden Arbeitnehmer den Termin der Beendigung der Arbeitsverhältnisse angegeben hat und dabei für den Kläger infolge eines, wie der Beklagte selbst vorträgt, „offensichtlichen Schreibversehens“ nicht den 31. Mai 2007, sondern den 30. April 2007, zu dem die Kündigung vom 9. Januar 2007 dann tatsächlich erklärt wurde, folgt nichts anderes. Ohne eine erneute Massenentlassungsanzeige konnte hinsichtlich der Nachkündigung ungeachtet der versehentlich richtigen Angabe des beabsichtigten Entlassungsdatums den mit §§ 17 f. KSchG verfolgten Zwecken nicht genügt werden. Die Sperrfrist des § 18 Abs. 1 KSchG hatte hinsichtlich der Massenentlassungsanzeige vom 20. November 2006 am 23. November 2006 begonnen und am 22. Dezember 2006 geendet. Diese Frist, die der Agentur für Arbeit für die „Lösung der durch die beabsichtigte Massenentlassung aufgeworfenen Probleme“(EuGH 27. Januar 2005 - C-188/03 - [Junk] Rn. 47 f., Slg. 2005, I-885) zur Verfügung stehen sollte, war im Zeitpunkt der Erklärung der Kündigung vom 9. Januar 2007 bereits verstrichen.
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III. Es kann wie in der bisherigen Rechtsprechung(BAG 29. November 2007 - 2 AZR 763/06 - Rn. 35, AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 95 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 79; Senat 13. Juli 2006 - 6 AZR 198/06 - Rn. 21, BAGE 119, 66; BAG 23. März 2006 - 2 AZR 343/05 - Rn. 32, BAGE 117, 281) offenbleiben, ob Kündigungen, die der Arbeitgeber erklärt, ohne zuvor die nach § 17 Abs. 1 KSchG erforderliche Massenentlassungsanzeige ordnungsgemäß vorzunehmen, stets unwirksam sind (in diesem Sinne KR/Weigand 9. Aufl. § 17 KSchG Rn. 101 ff.; ErfK/Kiel 10. Aufl. § 17 KSchG Rn. 36). In der Regel führt die Unterlassung der Massenentlassungsanzeige vor der Kündigung dazu, dass diese das Arbeitsverhältnis nicht auflösen kann und deshalb der Kündigungsschutzklage stattzugeben ist. Für eine besondere Sachverhaltsgestaltung, in der die Kündigung möglicherweise doch zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses führen könnte, zB wenn andere Kündigungen einvernehmlich „zurückgenommen” werden, so dass der Schwellenwert des § 17 Abs. 1 KSchG wieder unterschritten wird, oder wenn die Agentur für Arbeit auf eine nachträgliche Anzeige hin der Entlassung zustimmt (vgl. hierzu APS/Moll 3. Aufl. § 18 KSchG Rn. 50 mwN zum Streitstand; gegen jede Heilungsmöglichkeit KR/Weigand § 17 KSchG Rn. 104), besteht kein Anhaltspunkt. Deshalb konnte die Kündigung vom 9. Januar 2007 mangels der erforderlichen Massenentlassungsanzeige das Arbeitsverhältnis nicht auflösen, so dass der Kündigungsschutzklage stattzugeben war (Senat 13. Juli 2006 - 6 AZR 198/06 - Rn. 21, aaO).
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IV. Die Kostenentscheidung folgt hinsichtlich der erst- und zweitinstanzlichen Kosten aus § 91 Abs. 1 ZPO, hinsichtlich der Kosten der Revisionsinstanz aus § 97 Abs. 1 ZPO. Das Landesarbeitsgericht hat zwar der Kündigungsschutzklage unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts stattgegeben. Es hat dem Beklagten aber lediglich die Kosten der Berufung auferlegt. Über die Prozesskosten war gem. § 308 Abs. 2 ZPO von Amts wegen zu entscheiden (BGH 24. November 1980 - VIII ZR 208/79 - WM 1981, 46). Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Beklagte gem. § 97 Abs. 1 ZPO zu tragen.
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Fischermeier
Brühler
Spelge
D. Knauß
Matiaske
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