Urteil vom Bundesarbeitsgericht (1. Senat) - 1 AZR 44/10

Tenor

1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Nürnberg vom 19. November 2009 - 7 Sa 186/09 - teilweise aufgehoben, soweit das Landesarbeitsgericht die Beklagte zur Zahlung eines Betrages von 8.938,00 Euro brutto verurteilt hat.

2. In dem vorgenannten Umfang wird die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Weiden vom 22. Juli 2003 - 6 Ca 146/03 A - zurückgewiesen.

3. Die Kosten der Revision hat die Klägerin zu tragen. Die verbleibenden Kosten des Rechtsstreits haben die Klägerin zu 85 % und die Beklagte zu 15 % zu tragen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über einen Anspruch auf Nachteilsausgleich.

2

Die Klägerin war bei der Beklagten als Verkäuferin beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis endete nach einer Betriebsstilllegung der Filiale A durch betriebsbedingte Kündigung zum 30. Juni 2003.

3

Für die von der Beklagten durchgeführte Betriebsstilllegung wurde eine Einigungsstelle für den Abschluss eines Interessenausgleichs und die Aufstellung eines Sozialplans gebildet. In dieser haben die Betriebsparteien an zwei Tagen über die Stilllegungsabsicht der Beklagten verhandelt. Der Einigungsstellenvorsitzende stellte nach der Beratung über die geplante Betriebsschließung im Protokoll das Scheitern der Verhandlungen über einen Interessenausgleich fest. Einen förmlichen Beschluss fasste die Einigungsstelle nicht.

4

Mit ihrer Klage hat die Klägerin die Zahlung eines Nachteilsausgleichs verlangt. Sie hat die Auffassung vertreten, die Beklagte habe die Kündigung des Arbeitsverhältnisses ausgesprochen, ohne zuvor alle gesetzlichen Möglichkeiten zum Versuch eines Interessenausgleichs auszuschöpfen. Dies sei erst dann der Fall, wenn das Scheitern der Interessenausgleichsverhandlungen durch einen Beschluss der Einigungsstelle festgestellt worden sei.

5

Die Klägerin hat - soweit für die Revision noch von Bedeutung - beantragt,

        

die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin gem. § 113 Abs. 3 BetrVG einen Nachteilsausgleich, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, zu zahlen.

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Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.

7

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben und die Beklagte zur Zahlung von 8.938,00 Euro verurteilt. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.

Entscheidungsgründe

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Die Revision der Beklagten ist begründet. Die zulässige Klage ist in dem noch rechtshängigen Umfang unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Nachteilsausgleich nach § 113 Abs. 3 BetrVG. Die Beklagte hat die Schließung ihrer Filiale A erst nach einem ausreichenden Versuch eines Interessenausgleichs durchgeführt.

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1. Nach § 113 Abs. 3 iVm. Abs. 1 BetrVG kann ein Arbeitnehmer vom Unternehmer die Zahlung einer Abfindung verlangen, wenn der Unternehmer eine geplante Betriebsänderung nach § 111 BetrVG durchführt, ohne über sie einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben und infolge der Maßnahme Arbeitnehmer entlassen werden oder andere wirtschaftliche Nachteile erleiden. Der Anspruch aus § 113 Abs. 3 BetrVG dient vornehmlich der Sicherung des sich aus § 111 Satz 1 BetrVG ergebenden Verhandlungsanspruchs des Betriebsrats und schützt dabei mittelbar die Interessen der von einer Betriebsänderung betroffenen Arbeitnehmer. Er entsteht, sobald der Unternehmer mit der Durchführung der Betriebsänderung begonnen hat, ohne bis dahin einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben (BAG 30. Mai 2006 - 1 AZR 25/05 - Rn. 17, BAGE 118, 222).

10

2. Zwar hat die Beklagte mit der Filiale A den Betrieb eines Unternehmens mit mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern stillgelegt und damit eine Betriebsänderung iSd. § 111 Satz 1 und Satz 3 Nr. 1 BetrVG durchgeführt. Die Klägerin ist auch infolge der Stilllegung entlassen worden. Die Beklagte hat aber mit dem Betriebsrat vor der Durchführung der Betriebsänderung einen Interessenausgleich versucht iSv. § 113 Abs. 3 iVm. Abs. 1 BetrVG.

11

a) Der Arbeitgeber hat nach § 111 Satz 1 BetrVG in Unternehmen mit in der Regel mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern den Betriebsrat über geplante Betriebsänderungen, die wesentliche Nachteile für die Belegschaft oder erhebliche Teile der Belegschaft zur Folge haben können, rechtzeitig und umfassend zu unterrichten und die geplanten Betriebsänderungen mit dem Betriebsrat zu beraten. Anders als in den Angelegenheiten der zwingenden Mitbestimmung kann der Unternehmer die Betriebsänderung zwar ohne eine Einigung der Betriebsparteien nach seinen Vorstellungen durchführen. Das Gesetz verpflichtet ihn lediglich, mit dem Betriebsrat über den Abschluss eines Interessenausgleichs mit dem ernsthaften Willen einer Verständigung zu beraten. Der Unternehmer muss sich dazu mit den vom Betriebsrat vorgeschlagenen Alternativen zu der geplanten Betriebsänderung einlassen und argumentativ auseinandersetzen. Können sich die Betriebsparteien nicht auf einen Interessenausgleich verständigen, ist der Arbeitgeber gegenüber dem Betriebsrat zur Anrufung der Einigungsstelle verpflichtet. Die Betriebsparteien haben in dem Einigungsstellenverfahren letztmals Gelegenheit, unter Mitwirkung eines unparteiischen Vorsitzenden Alternativen zur geplanten Betriebsänderung zu erörtern oder Modifikationen zu prüfen, die für die betroffenen Arbeitnehmer weniger nachteilige Folgen haben (BAG 20. November 2001 - 1 AZR 97/01 - zu I 1 d der Gründe, BAGE 99, 377). Ein Anspruch auf Nachteilsausgleich besteht daher nicht, wenn die Betriebsparteien einen Interessenausgleich vereinbaren oder der Verhandlungsanspruch des Betriebsrats in dem Einigungsstellenverfahren erfüllt wird.

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b) Der Versuch eines Interessenausgleichs iSv. § 113 Abs. 3 iVm. Abs. 1 BetrVG setzt nicht voraus, dass die Einigungsstelle das Scheitern der Interessenausgleichsverhandlungen förmlich durch Beschluss feststellt. Hierfür spricht der Gesetzeswortlaut sowie der Normzweck des § 111 Satz 1 BetrVG.

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aa) Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 BetrVG ist zur Beilegung von Meinungsverschiedenheiten zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat bei Bedarf eine Einigungsstelle zu bilden. Zwar sieht das Gesetz in § 76 Abs. 3 und Abs. 5 BetrVG Regelungen über die Beschlussfassung der Einigungsstelle vor. Diese erfolgt außerhalb des freiwilligen Einigungsstellenverfahrens (§ 76 Abs. 6 BetrVG) nur in Angelegenheiten, in denen der Gesetzgeber eine solche Entscheidung zur Auflösung eines betriebsverfassungsrechtlichen Konflikts ausdrücklich vorgesehen hat. Für das auf den Abschluss eines Interessenausgleichs gerichtete Einigungsstellenverfahren hat er der Einigungsstelle eine solche Kompetenz nicht zugewiesen. § 112 Abs. 3 BetrVG sieht eine Entscheidung der Einigungsstelle über das Scheitern der Interessenausgleichsverhandlungen nicht vor. Satz 3 regelt nur die Unterzeichnung eines in der Einigungsstelle vereinbarten Interessenausgleichs durch ihren Vorsitzenden und die am Einigungsstellenverfahren Beteiligten. Das Gesetz beschränkt in § 112 Abs. 4 Satz 1 BetrVG die Entscheidung der Einigungsstelle auf die Aufstellung eines Sozialplans. Dies entspricht dem Inhalt der jeweils betroffenen Beteiligungsrechte. Das auf den Abschluss eines Interessenausgleichs gerichtete Einigungsstellenverfahren ist nicht auf eine autoritäre Auflösung der zwischen den Betriebspartnern bestehenden Meinungsverschiedenheiten über die beabsichtige Betriebsänderung gerichtet. Wegen des lediglich als Beratungsrecht ausgestalteten Beteiligungsrechts des Betriebsrats hinsichtlich der Durchführung der Betriebsänderung ist die Einigungsstelle insoweit auf eine moderierende Funktion zwischen den Betriebspartnern beschränkt, während der Betriebsrat bei der Aufstellung eines Sozialplans ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht hat, das durch einen Einigungsstellenspruch durchgesetzt werden kann.

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bb) Der Normzweck des § 111 Satz 1 BetrVG gebietet keine andere Auslegung.

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(1) Für die mit der individual-rechtlichen Sanktion des § 113 Abs. 3 BetrVG bewirkte Sicherung des Verhandlungsanspruchs des Betriebsrats bedarf es keiner förmlichen Entscheidung der Einigungsstelle über das Scheitern der Interessenausgleichsverhandlungen. Hat der Unternehmer den Betriebsrat über die beabsichtigte Betriebsänderung nur ungenügend unterrichtet oder sich nicht ausreichend mit dem Betriebsrat argumentativ auseinandergesetzt, liegt kein ausreichender Versuch eines Interessenausgleichs iSv. § 113 Abs. 3 BetrVG vor. Dies gilt auch bei einer vorzeitigen Durchführung der Betriebsänderung.

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(2) Eine verfahrensbeendende Entscheidung des Einigungsstellenverfahrens nach § 112 Abs. 2 BetrVG ist auch nicht aus Gründen der Rechtssicherheit oder Rechtsklarheit geboten. Gegenstand eines solchen Einigungsstellenspruchs wäre eine Rechtsfrage, über die von der Einigungsstelle außer in den im Gesetz vorgesehenen Fällen (zB § 37 Abs. 6 und Abs. 7, § 38 Abs. 2, § 109 BetrVG) keine Entscheidung mit Bindungswirkung für die Betriebspartner getroffen werden könnte (vgl. für einen von der Einigungsstelle getroffenen Zwischenbeschluss: BAG 22. November 2005 - 1 ABR 50/04 - Rn. 21, BAGE 116, 235; 28. Mai 2002 - 1 ABR 37/01 - zu B II 2 c aa [2] der Gründe, BAGE 101, 203). Weder die am Einigungsstellenverfahren Beteiligten noch die von der Betriebsänderung betroffenen Arbeitnehmer würden durch eine Entscheidung der Einigungsstelle über das Scheitern des Interessensausgleichs Gewissheit über die Erfüllung des Verhandlungsanspruchs aus § 111 Satz 1 BetrVG erlangen. Denn selbst bei einem entsprechenden Spruch bliebe ungeklärt, ob die Mehrheit der Einigungsstellenmitglieder zu Recht von einer ausreichenden Unterrichtung des Betriebsrats und Beratung der beabsichtigten Betriebsänderung ausgegangen ist.

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c) Danach ist die Klage unbegründet. Die Beklagte hat den Abschluss eines Interessenausgleichs über die Schließung der Filiale A ausreichend versucht. Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass in der Einigungsstelle Verhandlungen über den Abschluss eines Interessenausgleichs stattgefunden haben, die jedoch ergebnislos geblieben sind. Anhaltspunkte, dass die Beklagte dabei den Verhandlungsanspruch des Betriebsrats nicht erfüllt hat, sind weder ersichtlich noch von der Klägerin vorgetragen.

        

    Schmidt    

        

    Linck    

        

    Koch    

        

        

        

    Platow    

        

    Benrath    

                 

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