Beschluss vom Bundesarbeitsgericht (9. Senat) - 9 AZB 46/16

Tenor

1. Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 8. September 2016 - 4 Ta 67/16 (9) - aufgehoben.

2. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die Klägerin war bei der Beklagten vom 28. November 2011 bis zum 30. November 2013 mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden als examinierte Pflegefachkraft beschäftigt. Mit ihrer im März 2014 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat sie die Zahlung einer Vergütungsdifferenz iHv. 1.210,00 Euro brutto für den Monat November 2013 sowie die Erteilung einer Entgeltabrechnung für denselben Monat und eines qualifizierten Arbeitszeugnisses verlangt. Zugleich hat sie beantragt, ihr Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten zu bewilligen.

2

In dem von der Klägerin unter dem 16. April 2014 unterschriebenen Vordruck „Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse bei Prozess- oder Verfahrenskostenhilfe“ ist auf der letzten Seite ein vorgedruckter Text enthalten, der wie folgt lautet:

        

„…    

        

Mir ist auch bekannt, dass ich während des Gerichtsverfahrens und innerhalb eines Zeitraums von vier Jahren seit der rechtskräftigen Entscheidung oder der sonstigen Beendigung des Verfahrens verpflichtet bin, dem Gericht wesentliche Verbesserungen meiner wirtschaftlichen Lage oder eine Änderung meiner Anschrift unaufgefordert und unverzüglich mitzuteilen. … Ich weiß, dass die Bewilligung der Prozess- oder Verfahrenskostenhilfe bei einem Verstoß gegen diese Pflicht aufgehoben werden kann, und ich dann die gesamten Kosten nachzahlen muss.

3

Nachdem die Klägerin den Rechtsstreit mit Schriftsatz vom 28. April 2014 in der Hauptsache für erledigt erklärt und die Beklagte der Erledigungserklärung nicht binnen zwei Wochen seit deren Zustellung widersprochen hatte, hat das Arbeitsgericht durch Beschluss vom 22. Mai 2014 gemäß § 91a Abs. 1 Satz 1 iVm. Satz 2 ZPO der Beklagten die Kosten des Rechtsstreits auferlegt. Mit weiterem Beschluss vom selben Tag hat es der Klägerin ratenfreie Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten für den ersten Rechtszug bewilligt.

4

Im Überprüfungsverfahren hat das Arbeitsgericht die Klägerin mit einem an sie persönlich gerichteten Schreiben vom 20. Oktober 2015 aufgefordert, ihre aktuellen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse darzulegen. Dieses Schreiben gelangte mit dem Vermerk „Empfänger unbekannt“ wieder an das Arbeitsgericht zurück.

5

Nachdem eine anschließende Anfrage beim Kommunalen Kernmelderegister Sachsen ergeben hatte, dass die Klägerin bereits am 29. Juli 2014 umgezogen war, wurden die Klägerin und ihre Prozessbevollmächtigten vom Arbeitsgericht jeweils mit Schreiben vom 27. Oktober 2015 zu einer beabsichtigten Aufhebung der Prozesskostenhilfebewilligung nach § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO wegen unterlassener Mitteilung der Anschriftenänderung angehört. Die Klägerin ließ mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 30. Oktober 2015 erklären, dass sie versehentlich die Mitteilung der Anschriftenänderung versäumt habe, da ihr nach über einem Jahr die Belehrung zur Mitteilungsobliegenheit nicht mehr präsent gewesen sei. Sie bitte dieses Versehen zu entschuldigen und von einer Aufhebung der Prozesskostenhilfebewilligung abzusehen.

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Mit Beschluss vom 3. Dezember 2015, der den Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 11. Dezember 2015 zugestellt wurde, hob das Arbeitsgericht die Prozesskostenhilfebewilligung gemäß § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO auf. Hiergegen legte die Klägerin mit anwaltlichem Schriftsatz vom 23. Dezember 2015, beim Arbeitsgericht am selben Tag eingegangen, sofortige Beschwerde ein. Zur Begründung hat sie ausgeführt, sie habe zwar objektiv gegen ihre Verpflichtung verstoßen, die Änderung der Anschrift unverzüglich mitzuteilen. Dies sei jedoch - anders als vom Gesetz gefordert - weder absichtlich noch aus grober Nachlässigkeit geschehen. Ihr sei allenfalls einfache Fahrlässigkeit vorzuwerfen. Zudem müsse Berücksichtigung finden, dass sie ihre Kontaktdaten - auch ihre aktuelle Telefonnummer - bei ihren Prozessbevollmächtigten hinterlassen habe, sodass eine ungehinderte Kontaktaufnahme möglich gewesen und in weiterer Folge auch die aktuelle Anschrift mitgeteilt worden sei.

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Das Arbeitsgericht hat der sofortigen Beschwerde der Klägerin mit Beschluss vom 2. März 2016 nicht abgeholfen und sie dem Landesarbeitsgericht zur Entscheidung vorgelegt. Das Landesarbeitsgericht hat die sofortige Beschwerde mit Beschluss vom 8. September 2016 zurückgewiesen und die Rechtsbeschwerde zugelassen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Voraussetzungen des § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO lägen vor, da die Klägerin dem Gericht die Änderung ihrer Anschrift nicht unverzüglich mitgeteilt habe. Eine grobe Nachlässigkeit oder Absicht sei nicht erforderlich. Das Merkmal „unverzüglich“ enthalte bereits ein Verschuldensmoment. Es liege auch kein atypischer Fall vor, da die Klägerin ihrer Mitteilungspflicht bewusst nicht nachgekommen sei. Sie habe die Mitteilung vergessen oder ignoriert, weshalb nicht von einem geringen Verschulden ausgegangen werden könne. Dies gelte auch, soweit die Klägerin über ihre Prozessbevollmächtigten erreichbar gewesen sei, da dies den vom Gesetzgeber erkannten Regelfall darstelle. Die unterbliebene Mitteilung der neuen Anschrift über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr halte sich auch nicht im Rahmen einer zuzubilligenden Toleranzgrenze.

8

Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Rechtsbeschwerde, mit der sie geltend macht, die subjektiven Merkmale der Absicht bzw. der groben Nachlässigkeit in § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO bezögen sich sowohl auf die unrichtige Mitteilung als auch auf die unterbliebene Mitteilung der Anschriftenänderung. Im Übrigen sei sie über ihre Prozessbevollmächtigten auch im Überprüfungsverfahren stets erreichbar gewesen. Solange dies der Fall sei, gebe es keinen Anlass für die Sanktion nach § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO.

9

II. Die Rechtsbeschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet. Mit der vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung durfte die sofortige Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts vom 3. Dezember 2015 nicht zurückgewiesen werden. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 577 Abs. 3 ZPO). Auf der Grundlage der bislang vom Landesarbeitsgericht getroffenen Feststellungen ist der Senat allerdings an einer eigenen Sachentscheidung gehindert (§ 577 Abs. 5 ZPO). Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht als Beschwerdegericht zur erneuten Entscheidung (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO).

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1. Das Landesarbeitsgericht hat zu Unrecht angenommen, dass eine Aufhebung der Prozesskostenhilfebewilligung nach § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO bereits dann in Betracht kommt, wenn die Partei die Änderung ihrer Anschrift nicht unverzüglich mitgeteilt hat, ohne dass der Partei der Vorwurf der groben Nachlässigkeit oder der Absicht zu machen wäre.

11

a) Gemäß § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO in der seit dem 1. Januar 2014 geltenden Fassung soll das Gericht die Bewilligung der Prozesskostenhilfe aufheben, wenn die Partei entgegen § 120a Abs. 2 Satz 1 bis Satz 3 ZPO dem Gericht wesentliche Verbesserungen ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse oder Änderungen ihrer Anschrift absichtlich oder aus grober Nachlässigkeit unrichtig oder nicht unverzüglich mitgeteilt hat.

12

b) § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO ist dahin auszulegen, dass es für die Aufhebung der Prozesskostenhilfebewilligung nicht ausreicht, dass die Partei dem Gericht eine Änderung der Anschrift nicht unverzüglich mitgeteilt hat, sondern dass auch in diesem Falle ein qualifiziertes Verschulden der Partei in Form von Absicht oder grober Nachlässigkeit erforderlich ist. Die Partei muss demnach eine Anschriftenänderung absichtlich oder aus grober Nachlässigkeit nicht unverzüglich mitgeteilt haben (vgl. BAG 18. August 2016 - 8 AZB 16/16 - Rn. 11 ff. mit ausf. Begründung und mwN).

13

2. Entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts handelt eine Partei, die - wie die Klägerin - Prozesskostenhilfe in Anspruch nimmt, und damit auf Kosten der Allgemeinheit ihren Prozess geführt hat, und die - wie die Klägerin - darüber hinaus auf ihre Mitteilungspflichten nach § 120a Abs. 2 Satz 1 ZPO hingewiesen wurde, nicht schon dann grob nachlässig, wenn sie ihre daraus erwachsenen Verpflichtungen schlicht vergisst oder ihnen schlicht nicht nachkommt. Die schlichte Verletzung der in § 120a Abs. 2 Satz 1 ZPO bestimmten Mitteilungspflichten indiziert noch keine grobe Nachlässigkeit.

14

a) Die Verschuldensanforderung der groben Nachlässigkeit in § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO erfordert mehr als leichte Fahrlässigkeit, nämlich eine besondere Sorglosigkeit. Der Maßstab der groben Nachlässigkeit entspricht dem der groben Fahrlässigkeit. Danach handelt grob nachlässig nur derjenige, der die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nach den gesamten Umständen in ungewöhnlich hohem Maß verletzt und unbeachtet lässt, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss. Im Gegensatz zur einfachen Fahrlässigkeit muss es sich demnach bei einem grob nachlässigen Verhalten um ein auch in subjektiver Hinsicht unentschuldbares Verhalten handeln, das ein gewöhnliches Maß erheblich übersteigt (BAG 18. August 2016 - 8 AZB 16/16 - Rn. 24 mwN).

15

b) Die Entscheidung, ob im Einzelfall von einfacher Fahrlässigkeit oder grober Nachlässigkeit auszugehen ist, erfordert eine Abwägung aller objektiven und subjektiven Umstände. Geht es - wie hier - um die Frage, ob eine Partei ihre Verpflichtung, dem Gericht eine Anschriftenänderung von sich aus unverzüglich mitzuteilen, grob nachlässig oder lediglich leicht fahrlässig verletzt hat, kann vor dem Hintergrund, dass diese Pflicht dazu dient, die jederzeitige Erreichbarkeit der Partei durch das Gericht sicherzustellen, um dieses letztlich in die Lage zu versetzen, ohne weiter gehende aufwendige Ermittlungen ein Verfahren zur Änderung oder Aufhebung der Prozesskostenhilfebewilligung zu betreiben, im Rahmen der Abwägung auch von Bedeutung sein, wenn die Partei anderweitige Maßnahmen getroffen hat, um ihre jederzeitige Erreichbarkeit durch das Gericht sicherzustellen. Hierzu hat die Partei, die diesen Umstand berücksichtigt wissen möchte, substanziiert vorzutragen. Ein solcher Vortrag kann auch noch in der Beschwerdeinstanz erfolgen (BAG 18. August 2016 - 8 AZB 16/16 - Rn. 25 mwN).

16

3. Die Sache ist nicht zur Entscheidung reif (§ 577 Abs. 5 Satz 1 ZPO). Auf der Grundlage der bislang vom Landesarbeitsgericht getroffenen Feststellungen vermag der Senat nicht zu beurteilen, ob das Unterbleiben einer unverzüglichen Mitteilung der Anschriftenänderung auf grober Fahrlässigkeit oder Vorsatz beruhte.

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a) Entgegen der Annahme der Klägerin scheidet eine Anwendung von § 124 Abs. 1 Nr. 4 ZPO nicht bereits deshalb aus, weil sie durch ihre Prozessbevollmächtigten im Prozesskostenhilfebewilligungsverfahren vertreten wurde.

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Zwar haben auch nach Beendigung der Instanz bzw. des Hauptsacheverfahrens Zustellungen im Prozesskostenhilfeüberprüfungsverfahren jedenfalls dann gemäß § 172 ZPO an den Prozessbevollmächtigten zu erfolgen, wenn dieser die Partei im Prozesskostenhilfebewilligungsverfahren vertreten hat (BGH 8. Dezember 2010 - XII ZB 38/09 - Rn. 15 f.; vgl. auch BAG 19. Juli 2006 - 3 AZB 18/06 - Rn. 10 ff.). Dies führt aber nicht dazu, dass die Partei von ihren in § 120a Abs. 2 Satz 1 ZPO bestimmten Mitteilungspflichten befreit wäre. Nach § 120a Abs. 2 Satz 1 ZPO hat „die Partei“ „dem Gericht“ eine Änderung der Anschrift mitzuteilen. Über die Folgen eines Verstoßes gegen diese Verpflichtung ist „die Partei“ bei der Antragstellung im Antragsformular zu belehren (§ 120a Abs. 2 Satz 4 ZPO). Der Antragsteller muss - persönlich - im Antragsformular seine Kenntnis von den Mitteilungspflichten bestätigen. Zudem ist jede Änderung der Anschrift mitzuteilen, ohne dass es einer gesonderten Fristsetzung durch das Gericht oder sogar der Zustellung eines Aufforderungsschreibens bedürfte (vgl. BAG 18. August 2016 - 8 AZB 16/16 - Rn. 28 mwN).

19

b) Da das Landesarbeitsgericht bislang keine Feststellungen getroffen hat, die die Annahme grober Nachlässigkeit der Klägerin begründen könnten, ist der Senat an einer eigenen Sachentscheidung gehindert. Die Sache ist daher gemäß § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO zur erneuten Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.

        

    Brühler    

        

    Krasshöfer    

        

    Zimmermann    

        

        

        

        

        

        

                 

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