Urteil vom Bundesfinanzhof (3. Senat) - III R 47/08

Tatbestand

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I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) bezog für seinen am 25. Mai 1978 geborenen Sohn A bis zur Vollendung dessen 27. Lebensjahres im Mai 2005 laufend Kindergeld. Nach dem Abitur im Sommer 2000 begann A zunächst im Wintersemester 2000/2001 ein Studium mit Fachrichtung Maschinenwesen an der Technischen Universität X. Nach zwei Semestern wechselte er sowohl Universität als auch Fachrichtung und studierte ab dem Wintersemester 2001/2002 nun Volkswirtschaftslehre in Y. Zum Wintersemester 2004/2005 wechselte A abermals die Fachrichtung und begann ein Studium der Pädagogik, Soziologie und Politikwissenschaft.

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Der Kläger beantragte --unter Beifügung mehrerer Schreiben und ärztlicher Atteste-- die Fortzahlung des Kindergeldes für A über das 27. Lebensjahr hinaus und verwies darauf, sein Sohn leide seit Jahren unter Ängsten und Depressionen, die das Beenden einer Ausbildung bislang unmöglich gemacht hätten. Aufgrund der psychischen Erkrankung sei A nicht in der Lage, sich selbst zu unterhalten.

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Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) lehnte den Antrag durch Bescheid vom 26. Juli 2005 ab. Sowohl Einspruch als auch Klage blieben erfolglos.

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Mit der Revision rügt der Kläger die fehlerhafte Anwendung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitzeitraum geltenden Fassung (EStG).

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Der Kläger beantragt, das Urteil der Vorinstanz aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

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Die Familienkasse beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

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II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Finanzgericht --FG-- (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO).

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Der Senat kann auf der Grundlage der vom FG getroffenen Feststellungen nicht abschließend prüfen, ob A über sein 27. Lebensjahr hinaus als behindertes Kind i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu berücksichtigen ist und das FG den Kindergeldanspruch des Klägers deshalb zu Unrecht verneint hat. Das Fehlen ausreichender Feststellungen stellt einen materiell-rechtlichen Mangel des Urteils dar, der zur Aufhebung der Vorentscheidung führt (Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 27. April 1999 III R 21/96, BFHE 189, 255, BStBl II 1999, 670; vom 10. Juni 2008 VIII R 76/05, BFHE 222, 313, BStBl II 2008, 937).

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1. Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht für ein volljähriges Kind ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, und die Behinderung vor Vollendung des 27. (jetzt des 25.) Lebensjahres eingetreten ist.

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Die Behinderung muss --wie der Wortlaut eindeutig erkennen lässt ("wegen")-- nach den Gesamtumständen des Einzelfalles für die fehlende Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ursächlich sein. Dem Kind muss es daher objektiv unmöglich sein, seinen (gesamten) Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit zu bestreiten (Senatsurteil vom 19. November 2008 III R 105/07, BFHE 223, 365, BStBl II 2010, 1057, m.w.N.). Im Zusammenhang mit einem arbeitslosen behinderten Kind hat der Senat entschieden, dass nicht jede einfache Mitursächlichkeit ausreicht, sondern dass die Mitursächlichkeit der Behinderung vielmehr erheblich sein muss (Senatsurteil in BFHE 223, 365, BStBl II 2010, 1057). Die Frage, ob eine Behinderung für die mangelnde Fähigkeit des behinderten Kindes zum Selbstunterhalt in erheblichem Umfang mitursächlich ist, hat das FG unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu entscheiden (Senatsurteil in BFHE 223, 365, BStBl II 2010, 1057).

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2. In Anwendung der vorgenannten Grundsätze kann die Entscheidung des FG keinen Bestand haben.

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a) Das FG hat seiner Entscheidung nicht alle relevanten Umstände zugrunde gelegt. Es hat insbesondere nicht festgestellt, ob A (seelisch) behindert ist. Entgegen der Ansicht des FG kann diese Frage nicht dahinstehen. Die Schlussfolgerung des FG, der wiederholte Studienfachwechsel zeige die Leistungs- und Ausbildungsfähigkeit von A, kann ohne Feststellungen zu seinem Gesundheitszustand nicht getroffen werden.

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Auch die von dem FG für seine Entscheidung maßgebend herangezogene Stellungnahme der Reha/SB-Stelle der Agentur für Arbeit vom 2. Oktober 2006, in der diese durch schlichtes Ankreuzen bescheinigt, A sei in der Lage, eine arbeitslosenversicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden umfassende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des in Betracht kommenden Arbeitsmarkts auszuüben, lässt nicht den vom FG hieraus gezogenen Schluss zu, dies stehe der Annahme entgegen, dass A aufgrund einer Behinderung nicht zum Selbstunterhalt in der Lage sei. Ein Kind in Ausbildung ist typischerweise (noch) nicht zum Selbstunterhalt in der Lage. Insoweit kommt es in einem Fall wie dem vorliegenden allein darauf an, ob behinderungsbedingte Gründe den Abschluss der Berufsausbildung noch nicht zugelassen haben.

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Ist A zwar psychisch krank, nicht aber behindert, scheidet ein Kindergeldanspruch bereits aus diesem Grund aus. Liegt jedoch eine seelische Behinderung bei A vor, so ist es --je nach den konkreten Umständen hinsichtlich Form und Umfang-- möglich, dass die Behinderung allein oder zumindest in erheblichem Umfang mitursächlich für den wiederholten Studienfachwechsel und damit für die über die Vollendung des 27. Lebensjahres hinaus dauernde Ausbildung ist. Erst wenn das FG konkrete Feststellungen zum Gesundheitszustand und den Hintergründen der Studienfachwechsel getroffen hat, kann es beurteilen, ob eine mögliche seelische Behinderung die Ursache für den wiederholten Studienfachwechsel war oder ob dieser auf Gründen beruhte, die ihre Ursache nicht in einer etwaigen Behinderung des A hatten, beispielsweise weil ihm die zunächst gewählte Studienrichtung im Nachhinein nicht zusagte.

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b) Im zweiten Rechtsgang wird das FG deshalb zunächst festzustellen haben, ob und ggf. inwiefern A behindert ist.

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Der Nachweis der Behinderung kann dabei nicht nur durch Vorlage eines entsprechenden Schwerbehindertenausweises oder Feststellungsbescheids gemäß § 69 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) sowie eines Rentenbescheids erfolgen, sondern auch in anderer Form wie beispielsweise durch Vorlage einer Bescheinigung bzw. eines Zeugnisses des behandelnden Arztes oder auch eines ärztlichen Gutachtens erbracht werden (vgl. BFH-Urteil vom 16. April 2002 VIII R 62/99, BFHE 198, 567, BStBl II 2002, 738, m.w.N.; Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes, Stand 2011, 63.3.6.2 Abs. 1 Satz 2, BStBl I 2009, 1030, 1069, BStBl I 2011, 716). Ein Anscheinsbeweis reicht indessen nicht aus. Das FG soll dabei im Regelfall zur Erfüllung seiner Sachaufklärungspflicht ein ärztliches Gutachten einholen oder entsprechende Erkenntnisse durch Einvernahme der behandelnden Ärzte als Zeugen gewinnen (Senatsbeschluss vom 30. November 2005 III B 117/05, BFH/NV 2006, 540).

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c) Für den Fall, dass eine Behinderung vorliegt, wird das FG weiter die Hintergründe der Studienfachwechsel aufzuklären haben, um abschließend würdigen zu können, ob A sich nach Vollendung seines 27. Lebensjahres behinderungsbedingt noch in Ausbildung befand und deshalb nicht in der Lage war, sich selbst zu unterhalten. Kommt das FG zu dem Ergebnis, dass die fortdauernde Ausbildung letztlich auf anderen Umständen beruhte, hat es zu ermitteln, ob die Behinderung einer Erwerbstätigkeit, mittels derer A seinen gesamten Lebensbedarf (existenziellen Grundbedarf und behinderungsbedingten Mehrbedarf) hätte decken können, entgegenstand (vgl. hierzu Senatsurteil vom 22. Oktober 2009 III R 50/07, BFHE 228, 17, BStBl II 2011, 38).

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