Beschluss vom Bundesfinanzhof (3. Senat) - III B 209/11

Tatbestand

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I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) lebte bis Juni 2003 mit ihren beiden minderjährigen Kindern in Deutschland und verzog dann mit den Kindern --unter Beibehaltung einer inländischen Wohnung-- in die Vereinigten Staaten von Amerika (USA), wo die Kinder zumindest in der Zeit von September 2005 bis Juli 2006 die Schule besuchten. Ab August 2006 unterrichtete die Klägerin ihre Kinder selbst. Im Juni 2009 kehrte sie zusammen mit den Kindern nach Deutschland zurück.

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Mit bestandskräftigem Bescheid vom 2. August 2005 hob die Beklagte und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) die Kindergeldfestsetzung ab Juli 2005 auf. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland im Juni 2009 beantragte die Klägerin Kindergeld ab Juli 2005, was die Familienkasse für den Zeitraum bis Mai 2009 ablehnte. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.

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Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab, da nach seiner Auffassung die Kinder der Klägerin ihren inländischen Wohnsitz bei Würdigung der Gesamtumstände mit der Übersiedelung in die USA im Juni 2003 aufgegeben hatten.

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Zur Begründung ihrer Nichtzulassungsbeschwerde beruft sich die Klägerin auf das Vorliegen eines Verfahrensfehlers (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) sowie das Erfordernis einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Rechtsfortbildung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 FGO).

Entscheidungsgründe

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II. Die Beschwerde ist unbegründet und wird durch Beschluss zurückgewiesen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 FGO). Soweit die Beschwerdebegründung überhaupt den Darlegungserfordernissen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO entspricht, liegen die geltend gemachten Zulassungsgründe jedenfalls nicht vor.

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1. Ein Verfahrensfehler (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO), auf dem die Entscheidung des FG beruhen kann, ist nicht gegeben.

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a) Das FG konnte gemäß § 90 Abs. 2 FGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten hierzu übereinstimmend ihr Einverständnis erklärt hatten. Es musste entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin vorher weder eine Frist nach § 79b Abs. 2 FGO setzen noch einen "Verkündungstermin" bestimmen. Anders als im Zivilprozess befähigen Verzichtserklärungen der Verfahrensbeteiligten im finanzgerichtlichen Verfahren das Gericht grundsätzlich, "ohne Weiteres" im schriftlichen Verfahren zu entscheiden (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 15. Dezember 2008 VII B 24/08, BFH/NV 2009, 1124). Die Beteiligten des finanzgerichtlichen Verfahrens müssen deshalb von der eigenen (wirksamen) Verzichtserklärung an grundsätzlich, unabhängig von irgendwelchen Mitteilungen seitens des Gerichts und ohne Gelegenheit zu einer weiteren Äußerung, mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren rechnen. § 128 Abs. 2 Satz 2 der Zivilprozessordnung ist im Rahmen des § 90 Abs. 2 FGO nicht anwendbar (ständige Rechtsprechung des BFH, vgl. z.B. Urteil vom 2. April 1997 X R 21/94, BFH/NV 1997, 547; Beschluss vom 24. August 1998 XI B 126/97, BFH/NV 1999, 332).

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Daran, dass das FG ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte, ändert auch der Wechsel des Prozessbevollmächtigten nichts. Insbesondere ist hierin nach der Rechtsprechung des BFH keine wesentliche Änderung der Verfahrenslage zu erblicken, die einen --zudem ausdrücklich zu erklärenden-- Widerruf des Verzichts auf mündliche Verhandlung ausnahmsweise gerechtfertigt erscheinen lassen würde (vgl. BFH-Beschluss vom 26. April 2004 VII B 36/04, nicht veröffentlicht).

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b) Dadurch, dass das FG "bereits" am 10. Oktober 2011 entschieden hat, hat es den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes --GG--, § 96 Abs. 2 FGO) und auf ein faires Verfahren nicht verletzt.

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aa) Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist u.a. darauf gerichtet, die Beteiligten vor Überraschungen zu schützen. Hierdurch soll verhindert werden, dass ein Beteiligter mit dem Urteil von einem rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt "überfahren" wird, der dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit dem auch ein Kundiger nach dem bisherigen Verlauf nicht zu rechnen brauchte (z.B. BFH-Urteil vom 29. November 2000 X R 10/00, BFH/NV 2001, 627; vgl. auch BFH-Urteil vom 11. November 2008 IX R 14/07, BFHE 223, 308, BStBl II 2009, 309). Aus der Gewährleistung von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip ergibt sich zudem als allgemeines Prozessgrundrecht ein Anspruch auf ein faires Verfahren. Danach ist ein Richter u.a. zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (z.B. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26. April 1988  1 BvR 669/87 u.a., BVerfGE 78, 123).

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bb) Die Einzelrichterin hatte die Klägerin mit Schreiben vom 17. August 2011 über ihre damaligen Prozessbevollmächtigten zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts darum gebeten, bis zum 10. September 2011 u.a. durch geeignete Unterlagen für den Streitzeitraum Juli 2005 bis Mai 2009 nachzuweisen, wann sich die Kinder der Klägerin in Deutschland aufgehalten und ob sie während ihrer Aufenthalte eine Schule besucht hätten. Nach Kündigung und Niederlegung des Mandats übersandte das FG der Klägerin am 7. September 2011 eine Kopie der Aufklärungsverfügung und bat sie, hierzu bis zum 30. September 2011 Stellung zu nehmen. Auf das am 9. September 2011 bei Gericht eingegangene Schreiben der neuen Prozessbevollmächtigten, in dem diese um eine zweiwöchige Verlängerung der ursprünglichen (d.h. bis zum 10. September 2011 laufenden) Frist bat und ankündigte, unaufgefordert Stellung zu nehmen, teilte das FG mit Schreiben vom 12. September 2011 mit, dass die beantragte Fristverlängerung gewährt werde. Eine Reaktion der Prozessbevollmächtigten --insbesondere durch Bitte um eine weitere Verlängerung der Frist-- erfolgte zunächst weder innerhalb der von dieser beantragten zweiwöchigen Fristverlängerung noch bis zum Ablauf der der Klägerin zuvor bereits eingeräumten (längeren) Frist. Erst am 27. Oktober 2011 --und damit nach Absendung des abgefassten Urteils-- ging ein Schriftsatz mit dem Datum vom 11. Oktober 2011 beim FG ein.

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Angesichts des von den Beteiligten übereinstimmend erklärten Verzichts nach § 90 Abs. 2 FGO musste die Klägerin ab Oktober 2011 jederzeit mit einer Entscheidung der Einzelrichterin rechnen, zumal sie diese nicht um eine weitere Fristverlängerung gebeten hatte. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die der Klägerin bzw. ihrer neuen Prozessbevollmächtigten eingeräumte Frist zur Beantwortung der Fragen hinsichtlich der Aufenthalte und Schulbesuche der Kinder in Deutschland unangemessen kurz gewesen wäre. Durch die Nichtberücksichtigung des nach Absendung der Urteilsausfertigungen eingegangenen Vorbringens im Schriftsatz vom 11. Oktober 2011 ist der Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör ebenfalls nicht verletzt worden (vgl. hierzu Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 119 Rz 10c, m.w.N.).

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cc) Es ist weiter nicht erkennbar, dass die Entscheidung auf der Grundlage des materiell-rechtlichen Standpunkts des FG anders ausgefallen wäre, wenn dieses das Vorbringen der Klägerin in dem verspäteten Schriftsatz bei seiner Entscheidungsfindung noch hätte berücksichtigen können. In diesem Schriftsatz beruft sich die Klägerin im Wesentlichen auf ihren in Deutschland beibehaltenen Wohnsitz i.S. von § 8 der Abgabenordnung (AO). Die Kindergeldberechtigung der Klägerin nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) hat das FG jedoch nicht in Abrede gestellt. Vielmehr hat es die Klage allein deshalb abgewiesen, weil nach seiner Überzeugung die Kinder der Klägerin mit dem Umzug in die USA im Juni 2003 ihren --von dem der Klägerin nicht abhängigen-- Wohnsitz nach den Gesamtumständen des Falles aufgegeben hatten und somit nicht nach § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG berücksichtigt werden konnten. Hierzu hat die Klägerin im Schriftsatz vom 11. Oktober 2011 nicht weiter vorgetragen, insbesondere hat sie keine Umstände dargelegt, die für einen beibehaltenen Wohnsitz der Kinder sprechen könnten. Dass im Übrigen auch minderjährige Kinder nicht zwingend jeden Wohnsitz ihrer Eltern teilen, entspricht dabei der Senatsrechtsprechung (vgl. z.B. Urteil vom 7. April 2011 III R 77/09, BFH/NV 2011, 1351).

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Soweit die Klägerin --ohne dies näher auszuführen-- in ihrem verspäteten Schriftsatz noch auf die Ausnahme des § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a EStG verweist, ist ihr Vortrag unschlüssig. Zwar wird ein Kind nach § 63 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a EStG ausnahmsweise ohne eigenen Wohnsitz im Inland, in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem Staat, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Anwendung findet, berücksichtigt. Dies gilt aber nur, wenn das Kind im Haushalt eines nach § 1 Abs. 2 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtigen Berechtigten lebt. Eine unbeschränkte Einkommensteuerpflicht in diesem Sinn liegt wiederum bei einem deutschen Staatsangehörigen vor, der zum einen --anders als die Klägerin selbst geltend macht-- im Inland weder seinen Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat und der zum anderen zu einer inländischen juristischen Person des öffentlichen Rechts in einem Dienstverhältnis steht und dafür Arbeitslohn aus einer inländischen öffentlichen Kasse bezieht. Abgesehen davon, dass die Klägerin sich selbst auf ihren durchgehend vorhandenen Wohnsitz im Inland beruft, erzielte sie bis 2008 ausweislich ihrer vorgelegten Einkommensteuerbescheide nur Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung, nicht aber solche aus nichtselbständiger Arbeit. Letztere erzielte sie erst im Jahr 2009, als sie sich bereits wieder in Deutschland aufhielt.

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2. Soweit sich die Klägerin auf den Zulassungsgrund der Rechtsfortbildung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 FGO) beruft, kommt eine Revisionszulassung nicht in Betracht.

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a) Die Fortbildung des Rechts erfordert eine Zulassung der Revision nur, wenn über bisher ungeklärte abstrakte Rechtsfragen zu entscheiden ist (z.B. BFH-Beschluss vom 24. September 2009 IV B 126/08, BFH/NV 2010, 37). Der Streitfall muss z.B. Veranlassung geben, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen aufzustellen oder Gesetzeslücken rechtsschöpferisch auszufüllen (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 27. März 2006 VIII B 21/05, BFH/NV 2006, 1256). Dieser Zulassungsgrund stellt einen Spezialfall der grundsätzlichen Bedeutung i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO dar und setzt daher ebenfalls die Darlegung einer klärungsbedürftigen und klärbaren Rechtsfrage voraus (s. etwa BFH-Beschluss vom 20. Dezember 2005 X B 10/05, BFH/NV 2006, 777). An der Klärungsbedürftigkeit fehlt es, wenn die Rechtsfrage anhand der gesetzlichen Grundlagen und der bereits vorliegenden Rechtsprechung beantwortet werden kann und keine neuen Gesichtspunkte erkennbar sind, die eine erneute Prüfung und Entscheidung der Rechtsfrage durch den BFH geboten erscheinen lassen (vgl. etwa Senatsbeschluss vom 29. August 2011 III B 110/10, BFH/NV 2011, 2100). So verhält es sich hier.

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b) Die Klägerin hält die Rechtsfrage für klärungsbedürftig, ob Überlegungen zum Existenzminimum entscheidende Faktoren für die Auslegung des subjektiven Willens der Kindergeldberechtigten sind, den Wohnsitz eines Kindes zeitweise zu verlegen.

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aa) Der BFH hat die Grundsätze, nach denen sich bestimmt, ob jemand einen Wohnsitz (§ 8 AO) im Inland hat, durch langjährige Rechtsprechung geklärt (vgl. etwa Urteile vom 23. November 2000 VI R 107/99, BFHE 193, 558, BStBl II 2001, 294, m.w.N., und vom 28. April 2010 III R 52/09, BFHE 229, 270, BStBl II 2010, 1013).

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bb) Die Klägerin hat in ihrer Beschwerdebegründung keine Gesichtspunkte vorgetragen, die eine weitere Entscheidung des BFH zu diesem Problemkreis erfordern. Insbesondere ist geklärt, dass der steuerrechtliche Wohnsitzbegriff auf die tatsächliche Gestaltung abstellt (z.B. BFH-Beschluss vom 5. November 2001 VI B 219/00, BFH/NV 2002, 311) und insgesamt an äußerliche Merkmale anknüpft (vgl. Senatsurteil in BFH/NV 2011, 1351). Subjektive Momente sind unbeachtlich (vgl. Kruse in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 8 AO Rz 2). Maßgebend ist allein der objektive Zustand - das Innehaben einer Wohnung und die Umstände, die darauf schließen lassen, dass die Wohnung beibehalten und benutzt wird. Soweit sich die Klägerin deshalb in der Beschwerdebegründung (zudem erstmalig) auf ihre "finanzielle Not" als Motiv bzw. "Rechtfertigungsgrund" für die Übersiedlung in die USA beruft, kommt es hierauf demzufolge nicht an.

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