Urteil vom Bundesfinanzhof (1. Senat) - I R 76/11

Tatbestand

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I. Streitig ist, ob für eine in einem evangelischen Kindergarten als angestellte Erzieherin arbeitende und in Frankreich wohnende sog. Grenzgängerin für 2009 (Streitjahr) eine Freistellungsbescheinigung zu erteilen ist.

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Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine deutsche Staatsangehörige, hatte im Streitjahr ihren Wohnsitz in Frankreich. Der Wohnsitz befand sich innerhalb der sog. Grenzgänger-Zone gemäß Art. 13 Abs. 5 Buchst. b des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen und über gegenseitige Amts- und Rechtshilfe auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie der Gewerbesteuern und der Grundsteuern vom 21. Juli 1959 (BGBl II 1961, 398, BStBl I 1961, 343), zuletzt geändert durch das Zusatzabkommen vom 20. Dezember 2001 (BGBl II 2002, 2372, BStBl I 2002, 892) --DBA-Frankreich-- (i.V.m. dem Schreiben des Bundesministers der Finanzen vom 1. Juli 1985, BStBl I 1985, 310, für Besteuerungssachverhalte nach dem 1. Januar 2010: § 5 Abs. 1 der Verordnung zur Umsetzung von Konsultationsvereinbarungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik vom 20. Dezember 2010, BGBl I 2010, 2138, BStBl I 2011, 104, dort Anlage 2). Die Klägerin arbeitete im Streitjahr als Erzieherin in einem konfessionellen Kindergarten in X, einer deutschen Stadt, die ebenfalls zum Grenzgebiet i.S. des Art. 13 Abs. 5 Buchst. b DBA-Frankreich zählt. Arbeitgeberin war die Evangelische Kirche ….

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Die Klägerin beantragte in 2009 die Freistellung vom Lohnsteuerabzug aufgrund der Grenzgänger-Regelung des Art. 13 Abs. 5 DBA-Frankreich für das Streitjahr. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) lehnte den Antrag ab. Es sei Art. 14 Abs. 1 DBA-Frankreich anzuwenden, da es sich bei der Protestantischen Kirchengemeinde um eine Körperschaft des öffentlichen Rechts handele (Art. 140 des Grundgesetzes --GG-- i.V.m. Art. 137 Abs. 5 der Weimarer Reichsverfassung --WRV--). Die beim Finanzgericht (FG) zunächst als Verpflichtungsklage erhobene und später als Fortsetzungsfeststellungsklage fortgeführte Klage blieb erfolglos (FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27. Oktober 2011  6 K 2558/09, abgedruckt in Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2012, 182).

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Die Klägerin rügt die Verletzung materiellen Rechts und beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und festzustellen, dass die Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Bescheinigung über die Freistellung vom Lohnsteuerabzug vom 20. August 2009 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 28. Oktober 2009 rechtswidrig waren.

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Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

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II. Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat ohne Rechtsfehler erkannt, dass die Weigerung des FA, der Klägerin eine Freistellungsbescheinigung zu erteilen, nicht rechtswidrig war.

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1. Das FG hat zutreffend entschieden, dass die Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig ist (§ 100 Abs. 1 Satz 4 FGO), weil die Klägerin ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Ablehnung der Erteilung einer Freistellungsbescheinigung hat. Das berechtigte Interesse der Klägerin besteht unter dem Gesichtspunkt der Wiederholungsgefahr (vgl. allgemein Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 7. Juni 1989 X R 12/84, BFHE 157, 370, BStBl II 1989, 976; Senatsurteil vom 23. September 2008 I R 57/07, BFH/NV 2009, 390).

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2. Dem FG ist auch darin zuzustimmen, dass das FA nicht verpflichtet war, der Klägerin eine Freistellungsbescheinigung nach § 39b Abs. 6 des Einkommensteuergesetzes (EStG 2009) i.V.m. Art. 13 Abs. 5 DBA-Frankreich zu erteilen. Das Besteuerungsrecht für die von der Klägerin erzielten Einkünfte steht nicht Frankreich, sondern der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) zu.

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a) Die in Frankreich wohnende Klägerin ist in Deutschland mit ihren inländischen Einkünften aus ihrer hier ausgeübten nichtselbständigen Arbeit gemäß § 1 Abs. 4 i.V.m. § 49 Abs. 1 Nr. 4 EStG 2009 beschränkt einkommensteuerpflichtig. Nach Art. 13 Abs. 1 Satz 1 DBA-Frankreich steht das Besteuerungsrecht für Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit grundsätzlich dem Tätigkeitsstaat zu. Abweichend hiervon bestimmt Art. 13 Abs. 5 DBA-Frankreich, dass Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit von Personen, die im Grenzgebiet eines Vertragsstaates arbeiten und ihre ständige Wohnstätte, zu der sie in der Regel jeden Tag zurückkehren, im Grenzgebiet des anderen Vertragsstaates haben, nur in diesem anderen Staat besteuert werden. Die Klägerin erfüllt zwar diese Voraussetzungen. Die sog. Grenzgängerregelung des Art. 13 Abs. 5 DBA-Frankreich ist aber durch die Sonderregelung des Art. 14 Abs. 1 DBA-Frankreich ausgeschlossen (vgl. Senatsurteile vom 5. September 2001 I R 88/00, BFH/NV 2002, 623; in BFH/NV 2009, 390; s.a. Art. 13 Abs. 1 Satz 2 DBA-Frankreich).

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b) Nach Art. 14 Abs. 1 DBA-Frankreich können Gehälter, Löhne und ähnliche Vergütungen sowie Ruhegehälter, die einer der Vertragsstaaten, ein Land oder eine juristische Person des öffentlichen Rechts dieses Staates oder Landes an in dem anderen Staat ansässige natürliche Personen für gegenwärtige oder frühere Dienstleistungen in der Verwaltung oder in den Streitkräften zahlt, grundsätzlich nur in dem erstgenannten Staat besteuert werden. Diese Regelung greift im Streitfall ein.

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aa) Die Evangelische Kirche … ist eine juristische Person des öffentlichen Rechts mit der Folge, dass die von ihr gezahlten Arbeitsvergütungen dem Art. 14 Abs. 1 DBA-Frankreich unterfallen. Eine Einschränkung des in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 DBA-Frankreich zur Abgrenzung des objektiven Anwendungsbereichs verwendeten Begriffs kann weder aus dem Abkommenstext noch dem Abkommenszusammenhang oder einem üblichen Verständnis eines sog. Kassenstaatsprinzips abgeleitet werden.

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aaa) Der Abkommenstext erfasst u.a. eine "juristische Person des öffentlichen Rechtes dieses Staates oder Landes". Da der Begriff in dem Abkommen nicht ausdrücklich bestimmt wurde, ist ihm die Bedeutung beizumessen, die ihm nach der Rechtsordnung des sog. Anwenderstaats zukommt (Art. 2 Abs. 2 DBA-Frankreich). Eine juristische Person des öffentlichen Rechts ist eine Einrichtung, die als selbständiger Verwaltungsträger wirkt, aber außerhalb der durch die Behörden repräsentierten unmittelbaren Staatsgewalt steht (Wallenhorst in Wallenhorst/ Halaczinsky, Die Besteuerung gemeinnütziger Vereine, Stiftungen und der juristischen Personen des öffentlichen Rechts, 6. Aufl., Rz A 76). Die Religionsgesellschaften sind als Körperschaften des öffentlichen Rechts besonderer Art anerkannt; dabei wird ihr besonderer Auftrag als öffentliche Aufgabe der Erfüllung staatlicher Aufgaben gleichgestellt (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV; s.a. Wallenhorst, ebenda, Rz A 88). Dass die Evangelische Kirche … als Gliedkirche der Evangelischen Kirche in Deutschland nach diesem Maßstab eine juristische Person des öffentlichen Rechts ist, unterliegt keinem weiter gehenden Zweifel (s.a. BFH-Urteil vom 19. Februar 1998 IV R 38/97, BFHE 186, 42, BStBl II 1998, 509, m.w.N.).

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bbb) Der von den Vertragsstaaten in Kenntnis der Tragweite dieses Begriffs vereinbarte klare Abkommenswortlaut begrenzt sowohl ein ausweitendes als auch ein einengendes Verständnis des Begriffs der juristischen Person des öffentlichen Rechts. Auch die auf der Grundlage der Kirchenverträge besondere Rechtsstellung einer Kirche kann auf dieser Grundlage eine abkommensrechtliche Sonderbehandlung nicht erzwingen. Die Vertragsstaaten haben zwar offensichtlich eine Differenzierungsnotwendigkeit gesehen, diese aber abschließend in Art. 14 Abs. 3 DBA—Frankreich niedergelegt. Insoweit sind nur Zahlungen für Dienstleistungen, die im Zusammenhang mit einer auf Gewinnerzielung gerichteten gewerblichen Tätigkeit der juristischen Person des öffentlichen Rechts stehen, ausgeschlossen.

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Der Betrieb eines Kindergartens erfüllt diese Voraussetzungen nicht; und zwar unabhängig von der Frage, ob kirchliche Kindergärten wegen ihrer Nähe zum kirchlichen Verkündigungsauftrag (sog. pastorale Aufgabenwahrnehmung) dem öffentlichen oder dem sog. Hoheitsbereich jener Körperschaft zugeordnet werden können (so z.B. Oberfinanzdirektion Hannover, Verfügung vom 12. Oktober 2004, Der Betrieb 2004, 2612). Denn es ist weder ersichtlich noch wird es von den Beteiligten vorgetragen, dass der hier in Rede stehende Kindergarten im Streitjahr Gegenstand einer von Gewinnerzielungsabsicht getragenen gewerblichen Tätigkeit der Evangelischen Kirche … gewesen ist.

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ccc) Die mit dem "üblichen Verständnis" des sog. Kassenstaatsprinzips begründeten Einwände der Klägerin gegen die Anwendung des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 DBA-Frankreich greifen nicht durch.

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Ein Ausschluss von Kirchen aus dem sachlichen Anwendungsbereich einer entsprechenden Abkommensregelung ist nicht begriffsnotwendig vorgegeben, auch wenn das sog. Kassenstaatsprinzip (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 DBA-Frankreich; Art. 19 des Musterabkommens der Organisation for Economic Cooperation and Development --OECD-MustAbk--) seine Rechtfertigung darin findet, das Besteuerungsrecht dem Vertragsstaat zuzuweisen, der Vergütungen für in seinem öffentlichen Dienst erbrachte Leistungen erbringt (z.B. Nr. 1 des Kommentars zum OECD-MustAbk --Mustkomm-- zu Art. 19; Wassermeyer in Debatin/ Wassermeyer, Doppelbesteuerung, MA Art. 19 Rz 1; Waldhoff in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl., Art. 19 Rz 2, 6 f.; Haase in Haase, AStG/DBA, MA Art. 19 Rz 2; Rupp in Gosch/Kroppen/ Grotherr, DBA, Art. 19 OECD-MA Rz 1). Denn die konkrete Ausgestaltung der Regelungen unterliegt der Vereinbarung der Vertragsstaaten. Insoweit weist das DBA-Frankreich nicht unerhebliche Abweichungen von dem (später formulierten) Art. 19 OECD-MustAbk auf (z.B. Kramer in Debatin/Wassermeyer, a.a.O., Frankreich Art. 14 Rz 2). Die Vertragspartner des DBA-Frankreich haben für ihr Kassenstaatsprinzip insbesondere den Kreis der Zahlungsverpflichteten durch die Einbeziehung der juristischen Person des öffentlichen Rechts, auch wenn ein Beschäftigungsverhältnis insoweit keinen staatlichen öffentlichen Dienst im engeren Sinne begründet, weiter gefasst (s. insoweit auch den Vorbehalt Frankreichs gegen die Fassung des Art. 19 OECD-MustAbk in Nr. 13 Mustkomm; Parallelregelungen z.B. in Art. 11 DBA-Niederlande 1959 und in Art. 19 Abs. 1 Satz 1 DBA-Schweiz 1971). Die Vertragsstaaten haben auch den sachlichen Gegenstand auf Bezüge, die aus der gesetzlichen Sozialversicherung gezahlt werden, ausgeweitet (s. Art. 14 Abs. 2 Nr. 1 DBA-Frankreich). Sie haben damit --wie es später in Nr. 13 Mustkomm zu Art. 19 OECD-MustAbk umschrieben wurde-- zum Ausdruck gebracht, dass die Identität der zahlenden Stelle weniger bedeutsam ist als der öffentliche Charakter der Einkünfte. Einen auf dieser Grundlage notwendigen expliziten Ausschluss der Kirchen aus dem sachlichen Anwendungsbereich der Regelung haben sie nicht vereinbart (s. insoweit auch zum DBA-Niederlande z.B. Mick in Debatin/Wassermeyer, a.a.O., Niederlande Art. 11 Rz 14). Damit ist auch nicht entscheidungserheblich, dass die Vergütungen der kirchlichen Angestellten durch Kirchensteuereinnahmen finanziert sind und letztlich keine staatlichen Ausgaben darstellen.

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bb) Die Klägerin erhält ihren Lohn von der Evangelischen Kirche für "gegenwärtige Dienstleistungen in der Verwaltung".

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Das Tatbestandsmerkmal "in der Verwaltung" erfordert nach dem Senatsurteil in BFH/NV 2009, 390, an dem festzuhalten ist, eine gewisse Einbindung des Dienstleistenden in eine Gebietskörperschaft oder juristische Person des öffentlichen Rechts und grenzt einmalige oder gelegentliche Leistungen von selbständig oder gewerblich Tätigen für die Verwaltung aus dem Anwendungsbereich des Art. 14 Abs. 1 DBA-Frankreich aus. Ferner fordert es eine Dienstleistung für die Gebietskörperschaft oder juristische Person des öffentlichen Rechts. Eine weitere Abgrenzung danach, ob mit den Dienstleistungen unmittelbar öffentliche Aufgaben verwirklicht werden, ist nicht vorzunehmen. Vielmehr können auch Dienstleistungen, die z.B. im Bereich der Vermögensverwaltung oder auf privatrechtlicher Grundlage erbracht werden, unter Art. 14 Abs. 1 DBA-Frankreich fallen. Dies folgt zwar nicht unmittelbar aus dem Wortlaut der Bestimmung, der mehrere Deutungsmöglichkeiten zulässt; es ergibt sich jedoch aus dem Aufbau des Art. 14 DBA-Frankreich.

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Art. 14 Abs. 3 DBA-Frankreich, nach dem Zahlungen für Dienstleistungen, die im Zusammenhang mit einer auf Gewinnerzielung gerichteten gewerblichen Tätigkeit stehen, nicht unter Art. 14 Abs. 1 DBA-Frankreich fallen, wäre überflüssig, wenn bereits nach Art. 14 Abs. 1 DBA-Frankreich alle Tätigkeiten, die nicht der unmittelbaren Erfüllung öffentlicher Aufgaben dienten, von der Geltung des Kassenstaatsprinzips ausgeschlossen wären. Dies spricht dafür, dass Art. 14 Abs. 1 DBA-Frankreich allein an die öffentlich-rechtliche Rechtsform des Dienstherrn anknüpft und alle Aufwendungen für Arbeitnehmer oder Personen mit arbeitnehmerähnlicher Einbindung in die Verwaltung --verstanden als Tätigkeit innerhalb eines der öffentlichen Hand (im weiteren Sinne) zuordenbaren Verwaltungsbereichs bzw. im Zusammenhang mit übertragenen öffentlich-rechtlichen Aufgaben-- erfassen will (Senatsbeschluss vom 7. April 2004 I B 196/03, BFH/NV 2004, 1377; s.a. Senatsurteil in BFH/NV 2002, 623; FG Münster, Urteil vom 12. November 2004  11 K 2330/03 E, EFG 2005, 252; Kramer in Debatin/Wassermeyer, a.a.O., Frankreich Art. 14 Rz 11; Rupp in Gosch/Kroppen/ Grotherr, a.a.O., Art. 14 DBA-Frankreich Rz 6; Kessler/Sinz/ Achilles-Pujol, DBA-Kommentar Deutschland/Frankreich, 2007, Art. 14 Anm. A.). Eine verwaltende Tätigkeit (im tatsächlichen Sinne) wird nicht vorausgesetzt. Nur dann, wenn die juristische Person des öffentlichen Rechts wie ein Privatrechtssubjekt eine auf Gewinnerzielung ausgerichtete Tätigkeit ausübt, wird das Kassenstaatsprinzip durch Art. 14 Abs. 3 DBA-Frankreich weiter eingeschränkt. Für weitere Einzelheiten wird --um Wiederholungen zu vermeiden-- auf das Senatsurteil in BFH/NV 2009, 390 Bezug genommen.

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