Beschluss vom Bundesfinanzhof (10. Senat) - X B 164/11

Tatbestand

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I. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) übergab am 27. September 2007 geänderte Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre 2000 und 2001, in denen es die Steuerfestsetzungen erhöht hatte, an einen privaten Postdienstleister (P) zum Zwecke der Übermittlung an den Kläger und Beschwerdeführer (Kläger). Dieser legte hiergegen am 17. Dezember 2007 Einspruch ein. Nachdem das FA darauf hingewiesen hatte, dass der Einspruch nach Ablauf der Monatsfrist eingegangen sei, behauptete der Kläger, die Bescheide seien ihm erst am 20. November 2007 zugegangen. Er fügte Kopien von drei Briefumschlägen bei, die Poststempel des P vom 20. November 2007 tragen.

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Das FA verwarf den Einspruch als unzulässig. Inhalt der am 20. November 2007 abgestempelten Sendungen seien die Bescheide über Einkommensteuer 2004 bis 2006 sowie Umsatzsteuer 2000 und 2001 gewesen, die das FA am 19. November 2007 an P übergeben habe. Unter Bezugnahme auf eine Auskunft des P vom 9. Juni 2008 behauptete das FA weiter, die streitgegenständlichen Einkommensteuerbescheide 2000 und 2001 seien mit Postsendungen vom 2. Oktober 2007 am 3. Oktober 2007 in den Briefkasten des Klägers eingelegt worden.

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Im Klageverfahren benannte der Kläger seine Lebensgefährtin (L) als Zeugin zum Beweis der Tatsache, dass die Bescheide nicht am 3. Oktober 2007 (gesetzlicher Feiertag, Tag der Deutschen Einheit) in seinen Briefkasten eingelegt worden seien. Das FA legte das Ergebnis einer erneuten Anfrage bei P vor, wonach die Sendungen vom 2. Oktober 2007 nicht vom FA, sondern von einer anderen Dienststelle der Finanzverwaltung eingeliefert worden seien. Ferner bestätigte P unter Vorlage von Protokollen über den Sendungsstatus, dass das FA drei an den Kläger gerichtete Briefe am 27. September 2007 eingeliefert und P diese am 28. September 2007 an den Kläger ausgeliefert habe.

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Das Finanzgericht (FG) forderte den Kläger unter Fristsetzung nach § 79b Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auf, die ihm zugegangenen Bescheide dem Gericht zumindest in Kopie vorzulegen, weil sich im Anschriftenfeld dieser Bescheide ein Barcode befinde, der Informationen zum Tag der Übergabe an P enthalte. Der Kläger behauptete, er habe die Bescheide nicht mehr.

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Das FG wies die Klage ab. Es hatte keinen Zweifel daran, dass die streitgegenständlichen Bescheide "spätestens" am 27. September 2007 dem P übergeben und dann von diesem Unternehmen ordnungsgemäß weiterverarbeitet worden seien. Damit sei die gesetzliche Vermutung, dass die Verwaltungsakte am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben gelten (§ 122 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung --AO--) vom Kläger nicht substantiiert in Zweifel gezogen worden.

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Mit seiner Beschwerde begehrt der Kläger die Zulassung der Revision wegen behaupteter Verfahrensmängel.

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Das FA hält die Beschwerde für unzulässig.

Entscheidungsgründe

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II. Die Beschwerde ist --bei Zweifeln daran, ob die gesetzlichen Darlegungsanforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) überhaupt erfüllt sind-- jedenfalls unbegründet.

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1. Das FG hat nicht dadurch gegen seine aus § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO folgende Pflicht zur Sachaufklärung verstoßen, dass es L nicht als Zeugin vernommen hat.

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a) Ein ordnungsgemäß gestellter Beweisantrag darf nur unberücksichtigt bleiben, wenn das Beweismittel für die zu treffende Entscheidung unerheblich, das Beweismittel unerreichbar bzw. unzulässig oder absolut untauglich ist oder wenn die in Frage stehende Tatsache zugunsten des Beweisführenden als wahr unterstellt werden kann (ständige höchstrichterliche Rechtsprechung, vgl. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 17. November 2009 VI B 11/09, BFH/NV 2010, 650, unter II.1.a, und vom 28. September 2011 X B 69/11, BFH/NV 2012, 32, unter II.2., beide m.w.N.).

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b) Der Kläger gibt in der Beschwerdebegründung an, er habe L zum Beweis der Tatsache benannt, dass die Bescheide nicht am Feiertag (3. Oktober 2007) in seinen Briefkasten eingelegt worden seien. Diese Tatsache ist aber vom FG ersichtlich als wahr unterstellt worden. Denn das FG ist davon ausgegangen, dass die Bescheide am 27. September 2007 an P übergeben und innerhalb des in § 122 Abs. 2 AO genannten Drei-Tages-Zeitraums dem Kläger bekanntgegeben worden seien. Damit war das FG selbst davon überzeugt, dass die Bescheide nicht am 3. Oktober 2007 in den Briefkasten des Klägers eingelegt worden sind.

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2. Ohne Erfolg bleibt auch die Rüge, das FG hätte die im Schriftsatz vom 26. September 2011 benannte Frau K vernehmen müssen, die unter derselben Anschrift wie der Kläger wohnt und bezeugen sollte, es komme immer wieder vor, dass Sendungen, die für das Nachbarhaus bestimmt seien, in den Briefkasten des vom Kläger und der Zeugin bewohnten Gebäudes eingeworfen würden, und umgekehrt.

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Das FG hat sich aufgrund von Protokollen der P über den Sendungsstatus einen Eindruck vom konkreten Lauf der angefochtenen Bescheide sowie aufgrund der Auskunft des Arbeitgebers einen Eindruck der Zuverlässigkeit der eingesetzten Zustellerin verschafft. Der Kläger macht selbst nicht geltend, die Bescheide --die ihm unstreitig tatsächlich zugegangen sind-- hätten ihn nur deshalb verspätet erreicht, weil sie zuvor in einen falschen Briefkasten eingeworfen worden seien. Vor diesem Hintergrund durfte das FG allgemeine Bekundungen einer Hausbewohnerin über gelegentliche Fehlleitungen von Postsendungen als für das konkrete Verfahren unerheblich ansehen.

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3. Unzulässig ist die Rüge, das FG hätte die Zustellerin zu ihrer Zuverlässigkeit vernehmen müssen. Der Kläger hatte während des finanzgerichtlichen Verfahrens keinen entsprechenden Beweisantrag gestellt. Das FG wäre daher nur dann zu einer Sachaufklärung von Amts wegen verpflichtet gewesen, wenn sich ihm diese Beweiserhebung hätte aufdrängen müssen (vgl. zu den bei derartigen Rügen zu beachtenden Darlegungsanforderungen Senatsbeschluss vom 18. Mai 2011 X B 124/10, BFH/NV 2011, 1838, unter II.2.d, m.w.N.). Hierzu fehlt jeder Vortrag.

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4. Unzulässig ist auch die im Schriftsatz vom 29. Februar 2012 --sinngemäß-- enthaltene Rüge, das FG habe im Zusammenhang mit der von ihm durchgeführten Betriebsbesichtigung bei P den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt.

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Zwar deutet es in der Tat auf einen solchen Gehörsverstoß hin, dass das FG seine Entscheidung einerseits tragend auf eine bei P durchgeführte Besichtigung des Betriebs und der dortigen organisatorischen Abläufe stützt, andererseits den Akten und dem Protokoll der mündlichen Verhandlung aber kein Hinweis darauf zu entnehmen ist, dass die Beteiligten über das Ergebnis dieser Betriebsbesichtigung unterrichtet worden sind. Selbst wenn das FG seine Erkenntnisse in einem anderen Verfahren gewonnen haben sollte, hätte es diese jedenfalls ordnungsgemäß in das vorliegende Verfahren einführen müssen.

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Die entsprechende Rüge des Klägers ist allerdings verspätet beim BFH eingegangen. Das angefochtene Urteil ist den Prozessbevollmächtigten der Kläger am 18. Oktober 2011 zugestellt worden. Die zweimonatige Beschwerdebegründungsfrist des § 116 Abs. 3 Satz 1 FGO endete damit am 19. Dezember 2011 (Montag). Der am 29. Februar 2012 beim BFH eingegangene Schriftsatz vom selben Tage konnte diese Frist nicht wahren.

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Nach Ablauf der Begründungsfrist können neue Zulassungsgründe nicht mehr nachgeschoben werden (BFH-Beschluss vom 7. Dezember 2010 X B 212/09, BFH/NV 2011, 564, unter 2., m.w.N.). Weitere Schriftsätze sind nur noch als Ergänzung oder Erläuterung zu den innerhalb der Frist ordnungsgemäß dargelegten Zulassungsgründen zu berücksichtigen (BFH-Beschluss vom 6. Juni 2003 III B 98/02, BFH/NV 2003, 1214, unter 3.). Die im Zusammenhang mit der vom FG vorgenommenen Betriebsbesichtigung erhobene Gehörsrüge beschränkt sich aber nicht auf die Ergänzung eines bereits dargelegten Zulassungsgrundes, sondern ist als Vortrag eines neuen, eigenständigen Zulassungsgrundes anzusehen.

(…)

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7. Aus Rechtsschutzerwägungen weist der Senat --außerhalb des vorliegenden Rechtsstreits-- auf das vom FA während des Klageverfahrens eingereichte Schreiben vom 24. November 2008 hin. Darin hat das FA mitgeteilt, dass die angegriffenen Bescheide noch unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stünden. Auch sei die reguläre Festsetzungsfrist nicht vor dem 31. Dezember 2007 abgelaufen.

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Vor diesem Hintergrund wäre es möglicherweise in Betracht gekommen, den --erkennbar verfristeten-- "Einspruch" vom 17. Dezember 2007 in Anwendung des Grundsatzes rechtsschutzgewährender Auslegung als nicht fristgebundenen Antrag auf Änderung nach § 164 Abs. 2 AO zu werten. Ein solcher Antrag --über den das FA offenbar noch nicht entschieden hat-- hätte den Ablauf der Festsetzungsfrist bis zu seiner unanfechtbaren Bescheidung gehemmt (§ 171 Abs. 3 AO).

21

Sollte das --dem erkennenden Senat nicht vorliegende-- "Einspruchsschreiben" allerdings von einem Angehörigen der rechts- oder steuerberatenden Berufe verfasst worden sein und in seinen Formulierungen so klar und eindeutig sein, dass es keine Möglichkeit einer Auslegung im Sinne eines formlosen Änderungsantrags bietet, wird das FA zu erwägen haben, ob auch bei eindeutigen Verfahrenserklärungen fachkundiger Personen die Möglichkeit einer --über die bloße Auslegung unklarer Erklärungen hinausgehenden-- Umdeutung besteht (vgl. hierzu verneinend BFH-Urteil vom 26. April 2006 II R 35/06, BFH/NV 2006, 1800, unter II.1.; bejahend BFH-Urteil vom 20. August 2003 I R 61/01, BFHE 203, 135, BStBl II 2004, 616, unter II.2.b).

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