Urteil vom Bundesfinanzhof (9. Senat) - IX R 30/12

Tatbestand

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I. Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute, die im Streitjahr (2002) auf der Grundlage ihrer im Mai 2003 eingereichten Einkommensteuererklärung zuletzt mit Bescheid vom August 2006 zur Einkommensteuer zusammen veranlagt wurden. Im Rahmen einer strafbefreienden Selbstanzeige erklärte der Kläger im Jahr 2010 bislang nicht erklärte Einkünfte aus Kapitalvermögen und privaten Veräußerungsgeschäften für die Jahre 1999 bis 2008 nach. Auf das Streitjahr entfielen Einkünfte aus Kapitalvermögen in Höhe von 13.439 € und negative Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften von 29.978,44 €.

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Im geänderten Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr vom September 2010 berücksichtigte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) die Einkünfte aus Kapitalvermögen, die Verluste aus privaten Veräußerungsgeschäften mangels Verrechenbarkeit mit ebensolchen Gewinnen aber nicht. Mit Schreiben vom Oktober 2010 beantragten die Kläger, auf den 31. Dezember 2002 einen verbleibenden Verlustvortrag hinsichtlich der Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften von 29.978,44 € festzustellen. Dies lehnte das FA mit Bescheid vom November 2010 wegen eingetretener Verjährung ab.

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Die Klage hatte Erfolg. In seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2012, 1638 veröffentlichten Urteil verpflichtete das Finanzgericht (FG) das FA, den verbleibenden Verlustvortrag antragsgemäß festzustellen. Nach § 23 Abs. 3 Satz 9, 2. Halbsatz des Einkommensteuergesetzes i.d.F. des Jahressteuergesetzes 2007 vom 13. Dezember 2006 (BGBl I 2006, 2878) --EStG-- gelte § 10d Abs. 4 EStG nach § 52 Abs. 39 Satz 7 EStG auch im Streitjahr entsprechend, da am 1. Januar 2007 die Feststellungsfrist noch nicht abgelaufen gewesen sei. Die Feststellungsfrist sei auch im Jahr 2010 noch nicht abgelaufen gewesen, so dass dem Antrag auf Feststellung stattzugeben sei. Zwar hätte die reguläre Feststellungsfrist mit Ablauf des 31. Dezember 2009 geendet. Die verlängerte Verjährungsfrist des § 169 Abs. 2 Satz 2 der Abgabenordnung (AO) greife nicht ein, weil hinsichtlich der Verluste aus privaten Veräußerungsgeschäften unstreitig keine Steuerhinterziehung vorliege. Indes ende die Feststellungsfrist nach § 10d Abs. 4 Satz 6 EStG nicht, bevor die Festsetzungsfrist für den Veranlagungszeitraum abgelaufen sei, auf dessen Schluss der verbleibende Verlustvortrag gesondert festzustellen sei. Diese Festsetzungsfrist des Streitjahres ende wegen der Steuerhinterziehung nach § 169 Abs. 2 Satz 2 AO aber erst mit Ablauf des 31. Dezember 2013. Die Teilverjährung auf der Ebene der Steuerfestsetzung hindere die Verlustfeststellung nicht. Eine entsprechende Einschränkung könne man § 10d Abs. 4 Satz 6 EStG nicht entnehmen.

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Hiergegen richtet sich die Revision des FA, die es auf die Verletzung von Bundesrecht stützt. Die Auffassung des FG sei dem Gesetz nicht zu entnehmen. Dessen Ausführungen zum Sinn und Zweck der Verjährungsregelungen überzeugten nicht.

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Das FA beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

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Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.

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Ergänzend zur Argumentation des FG verweisen die Kläger auch auf die Systematik des Gesetzes. Sofern der Gesetzgeber beabsichtigt hätte, nicht auf die gesamte in § 169 AO geregelte Festsetzungsfrist zu verweisen, habe er dies stets ausdrücklich klargestellt, so z.B. in § 147 Abs. 3 Satz 3 AO oder in § 164 Abs. 4 Satz 2 AO.

Entscheidungsgründe

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II. Die Revision ist begründet und führt nach § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung zur Entscheidung in der Sache selbst, nämlich zur Abweisung der Klage. Das FG hat das FA unzutreffend dazu verpflichtet, verbleibende Verluste aus privaten Veräußerungsgeschäften des Klägers in Höhe von 29.978,44 € festzustellen. Ein derartiger Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 23 Abs. 3 Satz 9 EStG) ist durch Verjährung (§§ 169 bis 171 AO) erloschen, § 47 AO. Es ist dem FG wie auch den Beteiligten beizupflichten, dass die Feststellungsfrist ohne Berücksichtigung des § 10d Abs. 4 Satz 6, 1. Halbsatz EStG am 31. Dezember 2009 abgelaufen wäre. Die Beteiligten streiten nur darüber, ob die besondere Ablaufhemmung des § 10d Abs. 4 Satz 6, 1. Halbsatz EStG eingreift. Indes ist auch die Festsetzungsfrist für den Veranlagungszeitraum des Streitjahres abgelaufen, so dass die Voraussetzungen der besonderen Ablaufhemmung nicht vorliegen.

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1. Nach § 10d Abs. 4 Satz 6, 1. Halbsatz i.V.m. § 23 Abs. 3 Satz 9, 2. Halbsatz EStG endet die Feststellungsfrist --auch für das Streitjahr (§ 52 Abs. 39 Satz 7 EStG)-- nicht, bevor die Festsetzungsfrist für den Veranlagungszeitraum abgelaufen ist, auf dessen Schluss der verbleibende Verlustvortrag gesondert festzustellen ist (zum Hintergrund dieser Regelung s. BTDrucks 16/3368, S. 17; Heuermann in: Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, EStG, § 10d Rz D 114). Festsetzungsfrist ist die Festsetzungsfrist für die Einkommensteuer des Streitjahres. Diese Festsetzungsfrist begann --da die Kläger ihre Einkommensteuererklärung im Mai 2003 abgegeben hatten-- mit Ablauf des 31. Dezember 2003 (§ 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO) und endete nach § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO mit Ablauf des 31. Dezember 2007.

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2. Die Festsetzungsfrist verlängert sich nicht auf zehn Jahre. § 169 Abs. 2 Satz 2 AO ist nicht anwendbar.

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a) Nach dieser Vorschrift beträgt die Festsetzungsfrist zehn Jahre,   soweit   eine Steuer hinterzogen worden ist. Hinterzogen wurde im Streitfall nur die Einkommensteuer, die auf Einkünfte aus Kapitalvermögen entfällt. Aus dem Gesetz folgt umgekehrt: Soweit die Steuer nicht hinterzogen ist, bleibt es bei der regulären Festsetzungsfrist. Damit kommt in Bezug auf die Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften die nicht durch § 169 Abs. 2 Satz 2 AO verlängerte vierjährige Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO zum Zuge. Dieser aus dem Gesetz abgeleitete Grundsatz der Teilverjährung ergibt sich schon aus dem Wortlaut des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO und der dort verwendeten restriktiven Konjunktion "soweit". Eine unterschiedliche Verjährung einzelner Teilbeträge desselben Steueranspruchs ist danach möglich (einhellige Auffassung, vgl. Bundesfinanzhof --BFH--, Urteil vom 26. Februar 2008 VIII R 1/07, BFHE 220, 229, BStBl II 2008, 659; Banniza in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 169 AO Rz 66; Kruse in Tipke/ Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 169 AO Rz 14; Pahlke/Koenig/Cöster, Abgabenordnung, 2. Aufl., § 169 Rz 22; Klein/Rüsken, AO, 11. Aufl., § 169 Rz 25).

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b) Entgegen dem FG lässt sich damit eine entsprechende Einschränkung aus § 10d Abs. 4 Satz 6 EStG entnehmen, indem diese Vorschrift mit der "Festsetzungsfrist für den Veranlagungszeitraum" auf die §§ 169 ff. AO verweist, an die dort geregelten Tatbestände anknüpft und insbesondere die Teilverjährung des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO in sich aufnimmt. Verlängert sich die Festsetzungsfrist nur für Steuern, soweit sie hinterzogen wurden, wird auch der Ablauf der Feststellungsfrist dann nicht gehemmt, soweit es um die Feststellung von Besteuerungsgrundlagen geht, welche die Voraussetzungen einer Steuerhinterziehung nicht erfüllen (zu den Folgen bei gesonderter Feststellung vgl. auch Banniza in HHSp, § 169 AO Rz 66, m.w.N.). Damit erledigt sich auch die systematische Argumentation des Klägers: Wenn das Gesetz auf die gesamten in § 169 AO enthaltenen Regelungen verweist, so auch auf die in § 169 Abs. 2 Satz 2 AO enthaltenen Restriktionen.

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c) Das bedeutet bezogen auf den Streitfall: Die Festsetzungsfrist ist nach § 169 Abs. 2 Satz 2 AO lediglich in Bezug auf die Einkommensteuer noch nicht abgelaufen, die auf die Einkünfte aus Kapitalvermögen entfällt. Infolgedessen ist im Übrigen Festsetzungsverjährung eingetreten (nämlich schon mit Ablauf des Jahres 2007), mit der weiteren Folge, dass die besondere Ablaufhemmung für die Feststellungsfrist gemäß § 23 Abs. 3 Satz 9 i.V.m. § 10d Abs. 4 Satz 6 EStG nicht eingreift und die Feststellungsfrist am 31. Dezember 2009 abgelaufen war.

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d) Dieses am Wortlaut der Vorschriften ausgerichtete Ergebnis entspricht dem Zweck des Gesetzes:

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aa) Wenn es § 169 Abs. 2 Satz 2 AO mit der auf zehn Jahre verlängerten Festsetzungsfrist dem durch die Steuerstraftat geschädigten Steuergläubiger ermöglichen soll, die ihm vorenthaltenen Steuerbeträge auch nach Ablauf von vier Jahren zurückzufordern, so darf diese Grundentscheidung --z.B. in Erstattungsfällen-- nicht in ihr Gegenteil verkehrt werden (eingehend zum Zweck BFH-Urteil in BFHE 220, 229, BStBl II 2008, 659). Genau dies wäre aber der Fall, wollte man den Ablauf der Feststellungsfrist durch die wegen Steuerhinterziehung verlängerte Festsetzungsfrist hemmen. Denn dann würde der Steuerpflichtige, der seine Verluste aus privaten Veräußerungsgeschäften nicht vorschriftsgemäß erklärt hat, nur deshalb begünstigt, weil er darüber hinaus Steuern hinterzogen hat. Er könnte nun noch innerhalb der gemäß § 23 Abs. 3 Satz 9, § 10d Abs. 4 Satz 6 EStG, § 169 Abs. 2 Satz 2 AO (verlängerten) Feststellungsfrist Verluste aus privaten Veräußerungsgeschäften geltend machen, während derjenige, der keine Steuerhinterziehung begangen hat, diese Möglichkeit nicht hätte.

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bb) Auch der Zweck des § 10d Abs. 4 Satz 6 i.V.m. § 23 Abs. 3 Satz 9 EStG fordert keine vom Wortlaut des Gesetzes abweichende Auslegung: Wenn es Sinn der dienenden Funktion des Feststellungsverfahrens für das Festsetzungsverfahren ist, sicherzustellen, dass sich Veränderungen der für den Verlustvortrag maßgebenden Bezugsgrößen im Verlustfeststellungsverfahren auswirken können (BTDrucks 16/3368, S. 17), so gilt dies jedenfalls in der Konstellation des Streitfalls nicht: Die hinterzogenen Einkünfte aus Kapitalvermögen haben keinerlei Auswirkungen auf die vorzutragenden und gesondert festzustellenden verbleibenden Verluste aus privaten Veräußerungsgeschäften.

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3. Da die Vorentscheidung diesen Maßstäben nicht entspricht, ist sie aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Die Klage ist abzuweisen. Da die reguläre Feststellungsfrist unstreitig Ende 2009 ablief, war Feststellungsverjährung eingetreten und eine gesonderte Feststellung der Verluste aus privaten Veräußerungsgeschäften des Streitjahres darf nicht mehr ergehen.

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