Urteil vom Bundesfinanzhof (6. Senat) - VI R 9/12

Tatbestand

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I. Streitig ist, ob Unterhaltsleistungen, die bei einer in elektronischer Form abgegebenen Einkommensteuererklärung (ELSTER) versehentlich nicht erklärt wurden, im bestandskräftigen Einkommensteuerbescheid noch zu berücksichtigen sind.

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Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) und seine Lebensgefährtin A sind die Eltern ihres am 6. März 2007 geborenen Sohnes. Nach der Geburt des gemeinsamen Kindes unterbrach A zu dessen Betreuung ihre Berufstätigkeit. Der Kläger leistete an A von März bis November 2008 monatliche Unterhaltszahlungen in Höhe von jeweils 1.100 €. Der Kläger hatte in seiner Einkommensteuererklärung für das Streitjahr (2008), die er nicht mit dem Papierformular, sondern mit dem elektronischen ElsterFormular 2008/2009 eingereicht hatte, keine Unterhaltsleistungen erklärt. Das dazu vom Kläger verwendete ElsterFormular enthielt in Zeile 102 die Angabe "Unterhalt für bedürftige Personen" und verwies ohne weitere Erläuterungen auf die Anlage Unterhalt. Der Hilfstext zur Anlage Unterhalt führte die gesetzlich unterhaltsberechtigten Personen beispielhaft auf ("z.B. Eltern, Großeltern und Kinder"), nannte dort aber nicht die Mutter eines gemeinsamen Kindes als mögliche Unterhaltsberechtigte. Im ElsterFormular fand sich das erst am Ende der Anlage Unterhalt.

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Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) veranlagte den Kläger für das Streitjahr mit Einkommensteuerbescheid vom 28. September 2009 erklärungsgemäß.

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Mit Schreiben vom 17. Oktober 2010 beantragte der Kläger unter Beifügung einer Anlage Unterhalt die Berücksichtigung seiner Unterhaltsleistungen an seine Lebensgefährtin. Das FA wies den Antrag mit der Begründung zurück, den Kläger treffe i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO) ein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden der geleisteten Unterhaltszahlungen. Der Kläger habe trotz ausdrücklicher Frage nach Unterhalt für bedürftige Personen keine Angaben zu den von ihm geleisteten Unterhaltszahlungen gemacht und keine Anlage Unterhalt eingereicht.

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Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage war aus den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2012, 488 veröffentlichten Gründen erfolgreich. Den Kläger treffe kein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO. Das ElsterFormular 2008/2009 zur Einkommensteuer für 2008 sei bezüglich Unterhaltsleistungen an die Kindesmutter als gesetzlich Unterhaltsberechtigte nicht so gestaltet, dass den Kläger der Vorwurf groben Verschuldens im Hinblick darauf treffe, die Unterhaltsleistungen nicht bereits in der elektronisch übermittelten Einkommensteuererklärung angegeben zu haben. Hinweise auf die Mutter eines gemeinsamen Kindes fänden sich dort nicht. Dem Kläger, dem seine Unterhaltsverpflichtung und die Möglichkeit der Berücksichtigung von Unterhaltszahlungen als außergewöhnliche Belastung nicht bekannt gewesen seien, habe sich angesichts dieser Erläuterung und der etwa gegenüber 2003 für den Steuerpflichtigen unübersichtlicheren Vordruckgestaltung nicht aufdrängen müssen, auch Unterhaltsleistungen an seine mit ihm nicht verwandte und nicht verheiratete Lebensgefährtin eintragen zu können und zu müssen.

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Im Streitfall seien deshalb die Unterhaltsleistungen des Klägers nach § 33a Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zu berücksichtigen.

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Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts.

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Es beantragt,
das Urteil des FG Hamburg vom 27. September 2011  1 K 43/11 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

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Der Kläger beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen, jedenfalls aber als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

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II. Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das Finanzgericht (FG) hat zutreffend und frei von Verfahrensfehlern entschieden, dass der hier streitige Einkommensteuerbescheid auf Grundlage des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu ändern ist.

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Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen, und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Als grobes Verschulden hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Grobe Fahrlässigkeit ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt hat (BFH-Urteile vom 9. November 2011 X R 53/09, BFH/NV 2012, 545; vom 19. Dezember 2006 VI R 59/02, BFH/NV 2007, 866; vom 9. August 1991 III R 24/87, BFHE 165, 454, BStBl II 1992, 65; jeweils m.w.N.).

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a) Ob der Beteiligte im jeweiligen Einzelfall grob fahrlässig gehandelt hat, ist im Wesentlichen Tatfrage. Die dazu getroffenen Feststellungen und darauf gründenden Würdigungen des FG können --abgesehen von zulässigen und begründeten Verfahrensrügen-- von der Revisionsinstanz nur darauf überprüft werden, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit und die aus ihm abzuleitenden Sorgfaltspflichten richtig erkannt worden sind und ob die Würdigung der Umstände hinsichtlich des individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und Erfahrungssätzen entspricht (BFH-Urteil in BFH/NV 2012, 545, m.w.N.).

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b) Die Würdigung des FG, den Kläger treffe angesichts der unübersichtlichen Ausgestaltung des ElsterFormulars des Veranlagungszeitraums 2008 kein grobes Verschulden daran, dass die Unterhaltsleistungen erst nachträglich bekannt wurden, ist danach revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

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aa) Das FG hat den Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit zutreffend ausgelegt und die daraus abzuleitenden Sorgfaltspflichten richtig erkannt. Es hat grobes Verschulden angenommen, wenn der Steuerpflichtige seiner Erklärungspflicht nur unzureichend nachkommt, indem er etwa eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte, auf einen bestimmten Vorgang bezogene Frage nicht beachtet. Zutreffend hat es diese Grundsätze auch auf eine im elektronischen Wege über das ElsterFormular abgegebene Steuererklärung angewandt und deshalb auch zu Recht Besonderheiten der elektronischen Steuererklärung hinsichtlich ihrer Übersichtlichkeit berücksichtigt, wie sie gleichermaßen auch für solche in Papierform gelten.

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bb) Das FG hat seine Würdigung, dass den Kläger kein grobes Verschulden im Hinblick auf das nachträgliche Bekanntwerden der Unterhaltsleistungen trifft, darauf gestützt, dass der Hauptvordruck des ElsterFormulars keine Erläuterungen enthält und die Anlage Unterhalt, auf die stattdessen hingewiesen wird, zwar im Hilfstext die Unterhaltsberechtigung zwischen Großeltern, Eltern und Kindern als Beispiel nennt, aber gerade nicht auf die einer Kindesmutter hinweist. Wenn das FG angesichts dessen zu der Würdigung gelangte, dass sich dem Kläger aufgrund der unübersichtlichen Vordruckgestaltung nicht hätte aufdrängen müssen, dass auch Unterhaltsleistungen an seine mit ihm nicht verwandte und nicht verheiratete Lebensgefährtin hätten eingetragen werden müssen, ist dies revisionsrechtlich ebenso wenig zu beanstanden wie die daran anknüpfende Würdigung, dass dem Kläger deshalb kein grobes Verschulden vorgeworfen werden kann.

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Das FG hat im Rahmen der ihm obliegenden Gesamtwürdigung auch alle erheblichen Umstände einbezogen. So hat es entgegen der Auffassung des FA insbesondere nicht unberücksichtigt gelassen, dass die Anlage Unterhalt selbst am Ende die Kindesmutter als Unterhaltsberechtigte nennt. Zu Recht hat es in diesem Zusammenhang aber auch berücksichtigt, dass der Erläuterungstext der Anlage gerade zu dieser Unterhaltsberechtigung nichts enthält und es der Kläger deshalb nicht grob fahrlässig unterlassen hat, ohne Anhaltspunkte sich der Anlage selbst zuzuwenden. Insoweit hat das FG schließlich auch zutreffend bedacht, dass am Computerbildschirm ein Überblick über die ausfüllbaren Felder im ElsterFormular deutlich schwieriger zu erlangen ist, als in einer Steuererklärung in Papierform.

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c) Das FA kann sich auch nicht mit Erfolg auf Verfahrensmängel berufen. Das FG hat weder seine Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung aus § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO verletzt noch hat es gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO verstoßen.

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aa) Soweit das FA eine den Anforderungen des § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO nicht genügende Sachverhaltsaufklärung rügt, fehlt es schon an dem Vortrag, dass die Verletzung dieser Verfahrensvorschrift in der Vorinstanz gerügt wurde oder dass diese Rüge nicht möglich war (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 120 Rz 67, m.w.N.). Denn die Verletzung der Sachaufklärungspflicht nach § 76 FGO zählt zu den verzichtbaren Mängeln (vgl. Gräber/Stapperfend, a.a.O., § 76 Rz 33; Gräber/ Ruban, a.a.O., § 115 Rz 101; jeweils m.w.N.). Wird ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht mit der Begründung gerügt, das FG hätte auch ohne entsprechenden Beweisantritt von Amts wegen den Sachverhalt weiter aufklären müssen, ist auch vorzutragen, dass dieser Mangel in der mündlichen Verhandlung vor dem FG gerügt worden ist (vgl. auch Gräber/Ruban, a.a.O., § 120 Rz 70). Der Schriftsatz des FA enthält dazu jedoch keine Ausführungen; und auch aus dem Sitzungsprotokoll des FG ergibt sich nicht, dass das FA in der mündlichen Verhandlung vor dem FG Beweisanträge zu Protokoll erklärt und die unterlassene Beweisaufnahme gerügt hat. Wenn das FA weiter einwendet, im Erörterungstermin auf die gleichlautenden Anleitungen zu den Steuererklärungen in Papierform einerseits und im ElsterFormular andererseits hingewiesen zu haben, ist nicht ersichtlich, inwieweit daraus ein Verstoß gegen die Pflicht, den Sachverhalt umfassend aufzuklären, folgten sollte. Denn das FG hat diese Feststellungen getroffen und in den Entscheidungsgründen gewürdigt.

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bb) Nach § 96 Abs. 1 Satz 1  1. Halbsatz FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das FG muss danach neben dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung auch den gesamten Akteninhalt und das Ergebnis von Beweiserhebungen jeglicher Art berücksichtigen (vgl. Gräber/Stapperfend, a.a.O., § 96 Rz 11, m.w.N.). Ein Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO liegt allerdings nicht schon dann vor, wenn das FG den festgestellten Sachverhalt unter Einbeziehung des ihm vorliegenden Akteninhalts nicht entsprechend den Vorstellungen eines der Beteiligten gewürdigt hat. Daran gemessen hat das FG nicht gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO verstoßen. Denn das FG hat die diversen vom FA angeführten Anleitungstexte durchaus zur Kenntnis genommen. Es hat auch die offenkundig unterschiedlichen Darstellungen und Übersichtlichkeiten der elektronischen Steuererklärung einerseits und des Papiervordrucks andererseits umfassend gewürdigt. Wenn das FG daraus nicht die vom FA für zutreffend erachteten Folgerungen und Würdigungen gezogen hat, begründet dies allerdings keinen Verfahrensfehler.

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