Beschluss vom Bundesfinanzhof (9. Senat) - IX B 73/13
Gründe
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Die Beschwerde ist begründet. Das Finanzgericht (FG) hat zu Unrecht ein Prozessurteil erlassen. Der darin liegende Verfahrensmangel führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
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1. Das FG hat die Klage, mit der die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) die Berücksichtigung eines höheren Verlusts begehren, als unzulässig abgewiesen. Die fachkundig vertretenen Kläger hätten sich mit der Klage eindeutig nur gegen den Einkommensteuerbescheid gewandt, in dem die Einkommensteuer auf null € festgesetzt worden ist. Dass sich die Klage stattdessen gegen den Bescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur Einkommensteuer richten sollte, könne ihr im Wege der Auslegung nicht entnommen werden. Außerdem sei dieser Bescheid bestandskräftig.
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2. Das FG hat zu Unrecht angenommen, dass die Klage allein gegen den Einkommensteuerbescheid gerichtet und im Übrigen nicht auslegungsfähig sei.
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a) Prozesserklärungen sind wie sonstige Willenserklärungen auslegungsfähig. Ziel der Auslegung ist es, den wirklichen Willen des Erklärenden zu erforschen (§ 133 des Bürgerlichen Gesetzbuches). Bei der Auslegung können auch außerhalb der Erklärung liegende weitere Umstände berücksichtigt werden. Die Auslegung einer Prozesserklärung darf nicht zur Annahme eines Erklärungsinhalts führen, für den sich in der (verkörperten) Erklärung selbst keine Anhaltspunkte mehr finden lassen. Auf die Wortwahl und die Bezeichnung kommt es jedoch nicht entscheidend an, sondern auf den gesamten Inhalt der Willenserklärung (Urteil des Bundesfinanzhofs vom 18. März 1998 II R 41/97, BFH/NV 1998, 1235).
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b) Die Auslegung der Klage ergibt, dass sie gegen den Verlustfeststellungsbescheid gerichtet ist.
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aa) Dafür spricht --entgegen der Auffassung des FG-- bereits der in der Klageschrift angekündigte Antrag. Dieser geht dahin, den Einkommensteuerbescheid "wie beantragt" zu ändern. Verständlich wird der Antrag nur durch die Bezugnahme auf das Antragsschreiben der Kläger vom 15. Juli 2009, den der Klage beigefügten ablehnenden Bescheid vom 8. Oktober 2010 sowie die ebenfalls der Klage beigefügte Einspruchsentscheidung vom 3. Mai 2011. Aus beiden Bescheiden, die bei der Auslegung des Klagebegehrens zu berücksichtigen sind, ergibt sich eindeutig, dass die Kläger ihr ursprünglich zu Recht gegen den Einkommensteuerbescheid gerichtetes Begehren auf Berücksichtigung eines höheren Verlusts "bei der Einkommensteuer" weiterverfolgen wollten. Dafür spricht auch, dass die Kläger den Gegenstand der Klage mit "Ablehnung des Antrags auf Änderung der Einkommensteuer für das Jahr 2000" umschrieben und im Übrigen ausdrücklich beantragt haben, den Ablehnungsbescheid über den Antrag auf Änderung der Einkommensteuer für das Jahr 2000 vom 8. Oktober 2010 aufzuheben.
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bb) Zwar konnten die Kläger, nachdem der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) am 23. November 2010 den verbleibenden Verlustvortrag gesondert auf null € festgestellt hatte, die Berücksichtigung eines höheren Verlusts nur noch erreichen, indem sie sich gegen diesen Bescheid wandten (§ 351 Abs. 2 der Abgabenordnung --AO--). Das haben die Kläger offenbar übersehen und im Klageantrag mit der Erwähnung des Einkommensteuerbescheids nicht richtig zum Ausdruck gebracht. Diese Fehlbezeichnung schadet jedoch nicht, da sich aus dem Zusammenhang eindeutig ergibt, dass sich die Klage gegen die Nichtberücksichtigung des geltend gemachten Verlusts richten sollte.
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c) Die Entscheidung des FG erweist sich auch nicht deshalb als richtig (§ 126 Abs. 4 FGO), weil die Klage aus anderen Gründen unzulässig ist. Insbesondere fehlt es nicht an der erfolglosen Durchführung eines Vorverfahrens (§ 44 FGO).
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aa) Zwar hätte das FA über den Einspruch wegen Ablehnung des Änderungsantrags zur Einkommensteuer 2000 nicht mehr in der Sache entscheiden dürfen; ohne Rücksicht darauf hat das FA jedoch durch Einspruchsentscheidung vom 3. Mai 2011 über das Begehren der Kläger entschieden und die Berücksichtigung des Verlusts (erneut) mit sachlichen Erwägungen abgelehnt. Diese Entscheidung konnte nur in einem Einspruchsverfahren gegen den Verlustfeststellungsbescheid ergehen. Unter diesen Umständen ist dem Erfordernis eines erfolglosen Vorverfahrens nach seinem Sinn und Zweck Genüge getan, denn das FA hat sich vor Erhebung der Klage die Gelegenheit genommen, seine Entscheidung noch einmal sachlich zu überprüfen.
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bb) Die Klage ist auch nicht deshalb unzulässig, weil die Kläger es möglicherweise versäumt haben, gegen den Verlustfeststellungsbescheid vom 23. November 2010 rechtzeitig Einspruch zu erheben. Hat die Finanzbehörde zu Unrecht in der Sache über den Einspruch entschieden, z.B. weil sie die Einspruchsfrist als gewahrt angesehen, Wiedereinsetzung gewährt, einen wirksamen Rechtsbehelfsverzicht (§ 354 AO) oder eine Rücknahme des Rechtsbehelfs (§ 362 AO) verneint hat, hat dies nicht die Unzulässigkeit der Klage zur Folge. Allerdings ist dann die Einspruchsentscheidung aufzuheben und die Klage wegen eingetretener Bestandskraft des angefochtenen Verwaltungsakts als unbegründet abzuweisen (vgl. nur Steinhauff in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, § 44 FGO Rz 212). Dasselbe gilt auch dann, wenn die Behörde nicht geprüft hat, ob überhaupt Einspruch eingelegt worden ist. Die Zulässigkeit des Einspruchs einschließlich der Frage, ob überhaupt Einspruch eingelegt worden ist, unterliegt der vollen sachlichen Überprüfung durch das FG.
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d) Das FG wird deshalb zunächst prüfen müssen, ob die Kläger gegen den Verlustfeststellungsbescheid vom 23. November 2010 rechtzeitig Einspruch eingelegt haben.
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Referenzen
- 1998 II R 41/97 1x (nicht zugeordnet)