Beschluss vom Bundesfinanzhof (3. Senat) - III B 29/16

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 26. November 2015  9 K 9235/14 aufgehoben.

Die Sache wird an das Finanzgericht Berlin-Brandenburg zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Tatbestand

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I. Die Beteiligten streiten um die Frage, ob die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für die Monate April bis einschließlich September 2012 rechtmäßig ist.

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Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ist leiblicher Vater des im Dezember 1987 geborenen S, für den er Kindergeld bezog. Mit Bescheid vom 12. Februar 2013 hob die Beklagte und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) die Kindergeldfestsetzung unter Berufung auf § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes für S rückwirkend für die Monate April bis September 2012 auf und forderte den Kläger zur Erstattung des zu Unrecht ausgezahlten Kindergeldes auf. Zur Begründung führte die Behörde aus, S sei nicht daran gehindert, eine Berufsausbildung zu beginnen oder fortzusetzen. Nach den Daten der Agentur für Arbeit/Jobcenter werde er nicht oder nicht mehr als Bewerber um eine berufliche Ausbildung geführt. Eigene Bemühungen um einen Ausbildungsplatz (z.B. durch Vorlage von Absageschreiben, Zwischennachrichten, Bewerbungen oder ähnlichem) seien nicht oder nicht ausreichend nachgewiesen.

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Nach erfolglosem Einspruchsverfahren machte der Kläger im Klageverfahren im Wesentlichen geltend, dass S doch ausreichende Bewerbungsbemühungen nachgewiesen habe. Er übersandte dem Finanzgericht (FG) sechs Bewerbungsschreiben. Mehr Unterlagen könne er nicht vorlegen, denn er habe die (von der Familienkasse) verlangten Unterlagen mehrfach bei der Agentur für Arbeit/Jobcenter eingereicht. Dort sei auch aktenkundig, dass S eine Lehrstelle so gut wie sicher gehabt habe.

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Das FG wies die Klage mit Urteil vom 13. Mai 2014 als unbegründet ab und verwies hinsichtlich der Begründung im Wesentlichen gemäß § 105 der Finanzgerichtordnung (FGO) auf die Einspruchsentscheidung.

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Die hiergegen eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde (VI B 63/14) hatte Erfolg. Der vormals zuständige VI. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) hob das Urteil nach § 116 Abs. 6 FGO auf und wies die Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurück. Er sah in der Nichtbeiziehung der Akte des S bei der Agentur für Arbeit/Jobcenter zur Kundennummer ... einen Verstoß gegen die dem FG obliegende Sachaufklärungspflicht nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO.

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Im zweiten Rechtsgang forderte das Gericht die Arbeitsagentur/ Jobcenter mit drei Schreiben unter Hinweis auf § 86 Abs. 1 FGO auf, die entsprechende Akte des S vorzulegen. Hierauf erfolgte keine Reaktion der angeschriebenen Behörden. Der Einzelrichter sprach deshalb am 20. November 2015 persönlich bei der Filiale der Agentur für Arbeit vor. Dort teilte man ihm mit, dass die Daten in den Akten dem Datenschutz unterlägen und eine Preisgabe von Daten erst nach schriftlicher Genehmigung durch die Geschäftsleitung der Agentur für Arbeit in ... möglich sei. Daraufhin telefonierte der Einzelrichter mit der Vertreterin der Familienkasse, Frau R, die ihm mitteilte, dass in den Akten des Jobcenters üblicherweise keine Aufzeichnungen oder Unterlagen über einzelne Bewerbungsbemühungen enthalten seien. Im Sitzungsprotokoll der mündlichen Verhandlung heißt es dazu:
"Im Hinblick auf die Aussage von Frau R hat das Gericht davon abgesehen, die Agentur für Arbeit in ..., zu Händen der Geschäftsleitung, erneut wegen der Aktenübersendung anzuschreiben."

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In der mündlichen Verhandlung vom 26. November 2011 wurde der S als Zeuge vernommen. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers rügte ausweislich des Sitzungsprotokolls der mündlichen Verhandlung die Nichtbeiziehung der Akten des Jobcenters. Das FG wies die Klage mit der Begründung ab, die Ausbildungsbemühungen des S seien nicht nachgewiesen. Der Zeuge habe dem Gericht nicht glaubhaft vermittelt, dass er im streitgegenständlichen Zeitraum tatsächlich die von ihm und dem Kläger behaupteten Bemühungen um die Erlangung eines Ausbildungsplatzes unternommen habe. Es fehle im Übrigen jeglicher Beleg für seine diesbezüglichen Behauptungen.

8

Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde. Er rügt u.a. die unterlassene Aktenbeiziehung als Verfahrensfehler.

Entscheidungsgründe

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II. Die Beschwerde ist begründet. Der vom Kläger gerügte Verfahrensmangel liegt vor. Das Urteil des FG wird daher aufgehoben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen (§ 116 Abs. 6 FGO).

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Das FG hat dadurch gegen die ihm nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO obliegende Sachverhaltsaufklärungspflicht verstoßen, dass es die Akte des S bei der Agentur für Arbeit/Jobcenter zur Kundennummer ... nicht beigezogen hat. Aufgrund dieses Verfahrensmangels (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO), auf dem die Entscheidung beruhen kann, kann das angefochtene Urteil keinen Bestand haben.

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1. Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO muss das Gericht --auch unabhängig von eventuellen Beweisanträgen der Parteien-- den Sachverhalt aufklären und von sich aus Beweis erheben. Dabei hat es bis zur Grenze des Zumutbaren alle verfügbaren Beweismittel auszunutzen. Zu diesen gehören auch bei der Finanzbehörde oder anderen Behörden befindliche Akten. Die Verpflichtung nach § 86 FGO zur Vorlage entscheidungserheblicher Akten betrifft sämtliche Behörden sowie die Dienststellen öffentlich-rechtlicher Körperschaften, gleichgültig, ob sie am Rechtsstreit beteiligt sind oder nicht (BFH-Beschluss vom 1. September 2006 VIII B 81/05, BFH/NV 2006, 2297). Das Gericht verstößt gegen seine Verpflichtung zur Ermittlung des Sachverhalts, wenn es die Beiziehung von entscheidungserheblichen Akten unterlässt (BFH-Urteile vom 15. Dezember 1998 VIII R 52/97, BFH/NV 1999, 943, und vom 26. Juni 1996 X R 53/95, BFH/NV 1997, 293). Die Aktenbeiziehung ist nur dann entbehrlich, wenn die Akten oder Aktenteile aus Sicht des Gerichts aufgrund seiner materiell-rechtlichen Auffassung unerheblich sind (Thürmer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 76 FGO Rz 87).

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a) Ausgehend von der materiell-rechtlichen Würdigung des Streitfalls durch das FG kann nicht ausgeschlossen werden, dass es bei vollständiger Berücksichtigung der Beweismittel zu einem anderen Ergebnis hätte gelangen können.

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Zwar hat das FG seine Entscheidung auch darauf gestützt, dass aufgrund der Ungereimtheiten im Vortrag des Klägers sowie der Zeugenaussage selbst die vom Kläger vorgelegten Bewerbungsschreiben sowie die zusätzliche Auflistung der behaupteten Bewerbungen auf einem entsprechenden "Nachweisbogen" der Agentur für Arbeit/Jobcenter keine ausreichende Glaubhaftmachung darstellten. Andererseits hat es aber bei der Würdigung der Zeugenaussage darauf abgestellt, dass jeglicher Beleg für die vom Kläger behaupteten Bemühungen seines Sohnes um einen Ausbildungsplatz gefehlt habe. Bei dieser Sachlage durfte das FG nicht einfach unterstellen, dass jegliche eigene Bewerbungsbemühungen fehlten, zumal nach dem Vorbringen des Klägers sämtliche Unterlagen zum Nachweis der Bemühungen seines Sohnes um einen Ausbildungsplatz der Agentur für Arbeit/Jobcenter vorgelegt worden seien. Soweit das Gericht ausweislich des Sitzungsprotokolls zur mündlichen Verhandlung die Aktenbeiziehung auch deshalb unterlassen hat, weil die Vertreterin der Familienkasse erklärt hat, dass sich aus den Akten der Arbeitsagentur üblicherweise keine Unterlagen über Bewerbungsbemühungen ergeben, liegt hierin eine unzulässige Vorwegnahme einer Beweiswürdigung, die zugleich einen Verstoß gegen § 76 Abs. 1 FGO darstellt. Eine solche liegt dann vor, wenn das Gericht eine Aktenbeiziehung unterlässt, weil sie das Gericht nicht für erfolgversprechend hält oder vom für den Betroffenen nachteiligen Gegenteil der unter Beweis gestellten Tatsache überzeugt ist und diese Überzeugung durch eine Beweisaufnahme für nicht abänderbar hält (Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. März 2003  5 B 267/02, 5 PKH 217/02, juris, Rz 12).

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Darüber hinaus hat das Gericht zwar der möglichen (aber mangels Aktenvorlage nicht nachweisbaren) Registrierung bei der Agentur für Arbeit/Jobcenter als ausbildungssuchend eine Indizwirkung für die Ausbildungsbemühungen beigemessen. Es hat aber diese Indizwirkung eingeschränkt, wenn bei einem "lernbehinderten" Kind "flankierende eigene Bemühungen" um einen Ausbildungsplatz fehlen. Insoweit hat es bei der rechtlichen Würdigung wiederum auf die seiner Ansicht nach fehlenden Bemühungen des Kindes um einen Ausbildungsplatz abgestellt. Die Indizwirkung wäre folglich --auch nach der materiell-rechtlichen Auffassung des Gerichts-- wieder "aufgelebt", wenn sich aus den Akten der Agentur für Arbeit/Jobcenter weitere, bislang nicht berücksichtigte Erkenntnisse für die Eigenbemühungen des Kindes ergeben hätten. Die Aktenbeiziehung hätte somit nur dann unterlassen werden dürfen, wenn für das Gericht aus seiner Sicht zur Urteilsfindung "allein" die Registrierung als Ausbildungssuchender zweifelhaft und entscheidungserheblich gewesen wäre.

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b) Die Aktenbeiziehung ist auch zumutbar und möglich. Die bisherige Akteneinsicht wurde bei der persönlichen Vorsprache des Richters mit einer fehlenden (aus datenschutzrechtlichen Gründen erforderlichen) Genehmigung zur Aktenherausgabe begründet, die aber eingeholt werden kann.

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2. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO abgesehen.

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3. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.

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