Urteil vom Bundesfinanzhof (3. Senat) - III R 42/12
Tenor
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Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 26. Juli 2012 4 K 3940/11 Kg aufgehoben.
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Die Klage wird abgewiesen.
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Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
Tatbestand
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I. Streitig ist der Kindergeldanspruch für den Zeitraum Mai 2011 bis Oktober 2011.
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Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger), ein polnischer Staatsangehöriger, ist der Vater einer im Mai 1990 geborenen Tochter (T). Er lebte im Streitzeitraum in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) und war dort nichtselbständig beschäftigt. T lebte im Streitzeitraum bei ihrer vom Kläger geschiedenen Mutter in Polen und ging dort einem Studium nach. Die Kindsmutter war in Polen nicht erwerbstätig und bezog dort für T bis August 2009 polnische Familienleistungen.
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Der Kläger erhielt in der Vergangenheit inländisches Differenzkindergeld und beantragte am 16. Mai 2011 erneut die Festsetzung von Kindergeld. Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 25. Mai 2011 unter Verweis auf eine nach § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) vorrangige Berechtigung der Kindsmutter ab. Der Einspruch blieb ohne Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 6. Oktober 2011).
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Die Klage, mit welcher der Kläger einen ab Mai 2011 bestehenden Anspruch auf Kindergeld in voller Höhe geltend machte, hatte Erfolg.
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Mit ihrer vom Finanzgericht (FG) zugelassenen Revision rügt die Familienkasse die sich aus einer unzutreffenden Auslegung des § 64 EStG ergebende Verletzung materiellen Rechts.
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Die Familienkasse beantragt,
das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
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Mit Beschluss vom 25. November 2014 hat der Bundesfinanzhof (BFH) das Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) über das bei ihm anhängige Vorabentscheidungsersuchen C-378/14 angeordnet. Der EuGH hat mit Urteil vom 22. Oktober 2015 C-378/14 (EU:C:2015:720, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst 2015, 1501) über die Vorlagefragen entschieden.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld (vorrangig) dem Kläger zusteht. Der Kläger ist zwar nach nationalem Recht (§§ 62 f. EStG) anspruchsberechtigt (dazu 1.). Der Kindsmutter steht aber nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG ein vorrangiger Kindergeldanspruch zu (dazu 2. bis 6.).
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1. Der Kläger erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 EStG.
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Nach den für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des FG (vgl. § 118 Abs. 2 FGO) erfüllt der Kläger --was zwischen den Beteiligten nicht streitig ist-- die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b, Satz 2 EStG. Unerheblich ist, dass T ihren Wohnsitz in Polen hat (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).
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2. Allerdings ist die Kindsmutter --entgegen der Rechtsauffassung des FG-- nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt, weil gemäß Art. 67 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union --ABlEU-- 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --VO Nr. 883/2004 (Grundverordnung)-- i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --VO Nr. 987/2009 (Durchführungsverordnung)-- zu unterstellen ist, dass sie mit T in Deutschland wohnt.
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a) Nach § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).
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b) Im Streitfall ergibt sich die Anspruchsberechtigung der Kindsmutter aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz tatsächlich nicht vor. Es finden jedoch die Vorschriften der VO Nr. 883/2004 und der VO Nr. 987/2009 Anwendung. Dadurch wird gemäß Art. 67 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2004 ein Inlandswohnsitz der Kindsmutter fingiert. Zudem erfüllt die Kindsmutter auch die übrigen Voraussetzungen für eine vorrangige Anspruchsberechtigung.
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3. Der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 ist im Streitfall eröffnet und Deutschland ist danach der zuständige Mitgliedstaat.
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a) Der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung.
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b) Da der Kläger im Streitzeitraum eine nichtselbständige Erwerbstätigkeit in Deutschland ausgeübt hat, unterlag er den deutschen Rechtsvorschriften (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der VO Nr. 883/2004).
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4. Aus Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 folgt, dass die Wohnsituation der Kindsmutter (fiktiv) in das Inland übertragen wird. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Kindsmutter im Streitzeitraum in Polen ein Anspruch auf Familienleistungen zustand und eine von Art. 68 der VO Nr. 883/2004 erfasste Konkurrenzsituation vorlag. Insoweit verweist der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen auf sein Urteil vom 28. April 2016 III R 68/13. Zudem gehört die Kindsmutter --ungeachtet ihrer Scheidung vom Kläger-- zu den "beteiligten Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 (Senatsurteil vom 28. April 2016 III R 68/13). Es wird deshalb fingiert, dass die Kindsmutter das Wohnsitzerfordernis des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG erfüllt.
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5. Die Kindsmutter erfüllt neben dem Wohnsitzerfordernis auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch.
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a) Anhaltspunkte dafür, dass die Kindsmutter eine nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländerin i.S. des § 62 Abs. 2 EStG ist, hat das FG nicht festgestellt.
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b) Ein vorrangiger Anspruch des Klägers ergibt sich auch nicht aus § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG. Denn diese Bestimmung setzte einen gemeinsamen Haushalt zwischen dem Kläger und der Kindsmutter voraus. Nach den Feststellungen des FG war der Kläger aber von der Kindsmutter geschieden und lebte in einem eigenen Haushalt. Ein gemeinsamer inländischer Haushalt des Klägers und der Kindsmutter folgt auch nicht aus der Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009. Auf die Höhe der vom Kläger erbrachten Unterhaltsrente kommt es nicht an, da diese nach § 64 Abs. 3 EStG nur für Kinder, die --anders als im Streitfall-- nicht in den Haushalt eines Berechtigten aufgenommen sind, für die Bestimmung der vorrangigen Kindergeldberechtigung von Bedeutung sein kann. Demnach ist im Streitfall der Anspruch der Kindsmutter nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig, da nur bei dieser, nicht dagegen beim Kläger, eine Haushaltsaufnahme der T vorliegt.
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6. Schließlich kommt es nicht darauf an, ob die Kindsmutter selbst einen Antrag auf Kindergeld in Deutschland gestellt hat (Senatsurteil vom 28. April 2016 III R 68/13).
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7. Die Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 1, § 135 Abs. 1 FGO.
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Referenzen
- 4 K 3940/11 1x (nicht zugeordnet)
- 2016 III R 68/13 3x (nicht zugeordnet)