Urteil vom Bundesfinanzhof (3. Senat) - III R 16/13

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 13. März 2013 15 K 2911/11 Kg aufgehoben.    

Die Klage wird abgewiesen.    

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.    

Tatbestand

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I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist deutscher Staatsangehöriger, hat seinen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) und ist hier als Finanzbeamter nichtselbständig tätig. Er ist der Vater des im August 2002 geborenen Sohnes S, der bei seiner arbeitslosen Mutter in Österreich lebt. Die Kindsmutter hat Anspruch auf Familienleistungen in Österreich.

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Dem Antrag des Klägers auf Kindergeld für S für die Zeit ab Dezember 2007 gab die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) mit Bescheid vom 26. Mai 2011 für die Zeit bis April 2010 statt. Mit weiterem Bescheid vom 26. Mai 2011 lehnte sie den Antrag für die Zeit ab Mai 2010 hingegen ab, da die Kindsmutter wegen der Haushaltsaufnahme des S vorrangig anspruchsberechtigt sei.

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Der gegen den Ablehnungsbescheid gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 25. Juli 2011).

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Mit der hiergegen gerichteten Klage begehrte der Kläger Kindergeld für S für die Zeit ab Mai 2010. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit Urteil vom 13. März 2013  15 K 2911/11 Kg statt und verpflichtete die Familienkasse, dem Kläger für S Kindergeld ab Mai 2010 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

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Mit der Revision rügt die Familienkasse die sich aus einer unzutreffenden Auslegung des § 64 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ergebende Verletzung materiellen Rechts.

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Die Familienkasse beantragt,
das Urteil des FG Düsseldorf vom 13. März 2013  15 K 2911/11 Kg aufzuheben und die Klage abzuweisen.

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Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

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Mit Beschluss vom 12. Januar 2015 hat der Bundesfinanzhof das Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) über das bei ihm anhängige Vorabentscheidungsersuchen C-378/14 angeordnet. Der EuGH hat mit Urteil vom 22. Oktober 2015 C-378/14 (EU:C:2015:720, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst 2015, 1501) über die Vorlagefragen entschieden.

Entscheidungsgründe

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II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld für S (vorrangig) dem Kläger zusteht. Der Kläger ist zwar nach nationalem Recht (§ 62 EStG) anspruchsberechtigt (dazu 1.). Der Kindsmutter steht aber nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG ein vorrangiger Kindergeldanspruch zu (dazu 2. bis 6.).

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1. Der Kläger erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG. Dies wurde --für den Senat bindend (vgl. § 118 Abs. 2 FGO)-- vom FG festgestellt. Unerheblich ist, dass S seinen Wohnsitz in Österreich hat (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).

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2. Allerdings ist die Kindsmutter --entgegen der Rechtsauffassung des FG-- nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt. Denn gemäß Art. 67 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union --ABlEU-- 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung -VO Nr. 883/2004 (Grundverordnung)-- i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --VO Nr. 987/2009 (Durchführungsverordnung)-- ist zu unterstellen, dass sie mit S in Deutschland wohnt.

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a) Nach § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).

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b) Im Streitfall ergibt sich die Anspruchsberechtigung der Kindsmutter aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz tatsächlich nicht vor. Es finden jedoch die Vorschriften der VO Nr. 883/2004 und der VO Nr. 987/2009 Anwendung. Dadurch wird gemäß Art. 67 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ein Inlandswohnsitz der Kindsmutter fingiert. Zudem erfüllt die Kindsmutter auch die übrigen Voraussetzungen für eine vorrangige Anspruchsberechtigung.

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3. Der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 ist im Streitfall eröffnet und Deutschland ist danach der zuständige Mitgliedstaat.

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a) Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004, weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist.

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b) Gemäß Art. 11 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 unterliegen die von der Verordnung erfassten Personen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Da der Kläger im Streitzeitraum als Beamter i.S. des Art. 1 Buchst. d der VO Nr. 883/2004 in Deutschland beschäftigt war, unterlag er den deutschen Rechtsvorschriften (Art. 11 Abs. 3 Buchst. b der VO Nr. 883/2004).

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4. Aus Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 folgt, dass die Wohnsituation der Kindsmutter (fiktiv) in das Inland übertragen wird. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird hierzu auf die Entscheidungsgründe in dem Senatsurteil vom 28. April 2016 III R 68/13 (BFHE 254, 20, BStBl II 2016, 776, Rz 20 ff.) Bezug genommen.

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5. Die Kindsmutter erfüllt neben dem Wohnsitzerfordernis auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch.

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a) Anhaltspunkte dafür, dass die Kindsmutter eine nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländerin i.S. des § 62 Abs. 2 EStG ist, hat das FG nicht festgestellt.

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b) Ein vorrangiger Anspruch des Klägers ergibt sich auch nicht aus § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG; denn diese Bestimmung setzte einen gemeinsamen Haushalt zwischen dem Kläger und der Kindsmutter voraus. Nach den Feststellungen des FG unterhielten der Kläger und die Kindsmutter jedoch keinen gemeinsamen Haushalt. Ein gemeinsamer Haushalt kann sich auch nicht aus der Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ergeben. Demnach ist im Streitfall der Anspruch der Kindsmutter nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig, da nur bei dieser, nicht dagegen beim Kläger eine Haushaltsaufnahme des S vorliegt.

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6. Schließlich kommt es nicht darauf an, ob die Kindsmutter selbst einen Antrag auf Kindergeld in Deutschland gestellt hat; auch insoweit wird zur weiteren Begründung auf die Entscheidungsgründe in dem Senatsurteil in BFHE 254, 20, BStBl II 2016, 776, Rz 28 Bezug genommen.

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7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

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