Beschluss vom Bundesfinanzhof (3. Senat) - III B 122/16

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 16. Juni 2016  13 K 13224/15 aufgehoben.

Die Sache wird an das Finanzgericht Berlin-Brandenburg zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Tatbestand

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I. Die Beteiligten streiten darüber, in welchem Haushalt das im Jahr 2000 geborene gemeinsame Kind der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) und des Beigeladenen in den Monaten September und Oktober 2013 aufgenommen war. Mit Bescheid vom 27. November 2013 hob die Beklagte und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) die Kindergeldfestsetzung für die Monate September und Oktober 2013 gegenüber der Klägerin auf und forderte den überzahlten Betrag von 368 € zurück. Zur Begründung berief sie sich darauf, dass der Beigeladene das Kind in seinen Haushalt aufgenommen habe. Der Einspruch blieb erfolglos.

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In dem sich anschließenden Klageverfahren übersandte der vom Finanzgericht (FG) bestimmte Einzelrichter nach der Ladung zur mündlichen Verhandlung am 16. Juni 2016 am 2. Juni 2016 ein Schreiben des Beigeladenen vom 30. Mai 2016 dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin zur Kenntnis. Daraufhin beantragte der Prozessbevollmächtigte am 14. Juni 2016 die Aufhebung des Termins zur mündlichen Verhandlung. Zur Begründung führte er aus, dass erst am 6. Juni 2016 das 14-seitige Schreiben des Beigeladenen unmittelbar vor seinem Urlaubsbeginn eingegangen sei. Aufgrund der urlaubsbedingten Abwesenheit habe er das Schreiben erst am 14. Juni 2016 zur Kenntnis nehmen können. Da er am 15. Juni 2016 einen ganztägigen Termin in X wahrnehmen müsse, könne er den Schriftsatz des Beigeladenen vor dem Verhandlungstermin am 16. Juni 2016 weder mit der Klägerin erörtern noch eine Stellungnahme dazu abgeben.

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Das FG lehnte eine Terminverlegung mit der Begründung ab, erhebliche Gründe hierfür seien weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht. In einem weiteren Schreiben vom 14. Juni 2016 vertrat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Auffassung, dass man von einer Stattgabe der Klage ausginge, weil keine Akteneinsicht gewährt worden sei. Diese habe man am 8. Januar 2016 beantragt, sofern das Gericht weitere Ausführungen für erforderlich halte. Das FG teilte daraufhin dem Prozessbevollmächtigten mit, dass Einschätzungen zu den Erfolgsaussichten der Klage vor Durchführung der mündlichen Verhandlung nicht gemacht werden könnten und die Kindergeldakte im Gericht eingesehen werden könne.

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Am Tag der mündlichen Verhandlung ging um 9:56 Uhr ein Schreiben beim FG ein, mit dem der Prozessbevollmächtigte den Einzelrichter wegen Besorgnis der Befangenheit ablehnte. Zur Begründung trug er vor, der Einzelrichter habe mit seinem Verhalten Hinweispflichten, das Recht auf rechtliches Gehör, das Recht auf ein faires Verfahren und das Akteneinsichtsrecht verletzt.

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Das FG wies die Klage ab. In den Gründen des durch den Einzelrichter erlassenen Urteils wurde ausgeführt, dass der Rechtsstreit aufgrund der mündlichen Verhandlung ohne Gewährung einer weiteren schriftlichen Stellungnahmemöglichkeit für die Klägerin, ohne deren Teilnahme an der Verhandlung und trotz des Befangenheitsantrags gegen den Einzelrichter entschieden werden könne. Die Voraussetzungen für eine Verlegung des mündlichen Verhandlungstermins seien nicht gegeben, eines richterlichen Hinweises auf "weitere Ausführungen" hätte es nicht bedurft, das Recht auf Akteneinsicht sei nicht verletzt worden und der Befangenheitsantrag sei missbräuchlich gewesen, so dass das Gericht im Urteil darüber hätte mitentscheiden können. Es habe offenbar der Prozessverschleppung gedient. Die zur Antragsbegründung behauptete Verletzung von Prozessgrundrechten sei zudem haltlos.

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Gegen dieses Urteil wendet sich die Klägerin mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde, die sie auf verschiedene Verfahrensfehler (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) stützt. Im Wesentlichen rügt sie einen Verstoß gegen den gesetzlichen Richter (§ 119 Nr. 1 FGO). Der abgelehnte Richter habe sich zum Richter in eigener Sache gemacht, indem er sein Verhalten, nämlich die von der Klägerin gerügten Verletzungen der Grundsätze eines fairen Verfahrens, der richterlichen Hinweispflichten, der Gewährung rechtlichen Gehörs, einer Prüfung unterzog und als "haltlos" bewertet habe.

Entscheidungsgründe

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II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das Urteil des FG beruht auf der von der Klägerin dargelegten Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts auf den gesetzlichen Richter und damit auf dem absoluten Revisionsgrund des § 119 Nr. 1 FGO. Das FG war bei Erlass des Urteils nicht ordnungsgemäß besetzt.

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1. Wird über ein Ablehnungsgesuch zu Unrecht im Urteil und nicht in einem selbständigen Zwischenverfahren entschieden, kann die Zurückweisung eines Ablehnungsgesuchs das Verfahrensgrundrecht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes --GG--) verletzen und damit einen Verfahrensmangel gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3, § 119 Nr. 1 FGO darstellen, der im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren geltend gemacht werden kann.

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a) Nach § 51 Abs. 1 Satz 1 FGO i.V.m. § 42 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) findet die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen dessen Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Dabei kommt es darauf an, ob der betroffene Beteiligte von seinem Standpunkt aus bei vernünftiger objektiver Betrachtung Anlass hat, die Voreingenommenheit des abgelehnten Richters zu befürchten (vgl. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 1. April 2003 VII S 7/03, BFH/NV 2003, 1331, und vom 10. März 2015 V B 108/14, BFH/NV 2015, 849). Grundsätzlich ist über das Ablehnungsgesuch nach vorheriger dienstlicher Äußerung des abgelehnten Richters ohne dessen Mitwirkung (§ 51 Abs. 1 FGO i.V.m. § 44 Abs. 3 ZPO) zu entscheiden. Ist in Ausnahmefällen das Ablehnungsgesuch wegen Rechtsmissbrauchs oder aus anderen Gründen offensichtlich unzulässig, so kann der Ablehnungsantrag in den Gründen der Hauptsacheentscheidung unter Mitwirkung des abgelehnten Richters zurückgewiesen werden (vgl. BFH-Beschlüsse vom 4. März 2014 VII B 131/13, BFH/NV 2014, 1055; vom 3. Juli 2014 V S 15/14, BFH/NV 2014, 1574). Hierzu zählen u.a. die Ablehnung eines ganzen Gerichts als solches sowie das offenbar grundlose, nur der Verschleppung dienende und damit rechtsmissbräuchliche Gesuch und die Ablehnung als taktisches Mittel für verfahrensfremde Zwecke (Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 15. Juni 2015  1 BvR 1288/14, nicht veröffentlicht --n.v.--, Rz 15, m.w.N.).

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Die Selbstentscheidung des abgelehnten Richters ist vor dem Hintergrund der Garantie des gesetzlichen Richters in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG aber nur dann und insoweit gerechtfertigt, wie die durch den gestellten Ablehnungsantrag erforderliche Entscheidung keine Beurteilung des eigenen Verhaltens des abgelehnten Richters und damit keine Entscheidung in eigener Sache voraussetzt. Denn über eine bloß formale Prüfung hinaus darf sich der abgelehnte Richter nicht durch Mitwirkung an einer näheren inhaltlichen Prüfung der Ablehnungsgründe zum Richter in eigener Sache machen (BFH-Beschluss vom 29. Dezember 2015 IV B 68/14, BFH/NV 2016, 575, Rz 4; vgl. BVerfG-Beschlüsse vom 2. Juni 2005  2 BvR 625/01, 2 BvR 638/01, BVerfGK 5, 269, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 2005, 3410, unter IV.2.a, und vom 15. Juni 2015  1 BvR 1288/14, n.v., Rz 17). Grundsätzlich wird eine Verwerfung des Ablehnungsgesuchs als unzulässig nur dann in Betracht kommen, wenn das Ablehnungsgesuch für sich allein --ohne jede weitere Aktenkenntnis-- offenkundig die Ablehnung nicht zu begründen vermag; ist hingegen ein --wenn auch nur geringfügiges-- Eingehen auf den Verfahrensgegenstand erforderlich, scheidet die Ablehnung als unzulässig aus (BVerfG-Beschluss vom 11. März 2013  1 BvR 2853/11, NJW 2013, 1665, Rz 30). Eine gleichwohl erfolgte Ablehnung durch den abgelehnten Richter selbst ist nach der Rechtsprechung des BVerfG dann willkürlich. Denn über eine bloß formale Prüfung hinaus darf sich der abgelehnte Richter nicht durch Mitwirkung an einer näheren inhaltlichen Prüfung der Ablehnungsgründe zum Richter in eigener Sache machen. Überschreitet das Gericht bei Anwendung dieses Prüfungsmaßstabs die ihm gezogenen Grenzen, kann dies seinerseits die Besorgnis der Befangenheit begründen (BVerfG-Beschlüsse in ständiger Rechtsprechung seit 20. Juli 2007  1 BvR 3084/06, BVerfGK 11, 434, Rz 19 f.; vgl. auch vom 18. Dezember 2007  1 BvR 1273/07, BVerfGK 13, 72, Rz 21; vom 15. Juni 2015  1 BvR 1288/14, Rz 16 ff.; Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 17. März 2016  6 AZN 1087/15, Neue Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht 2016, 1100, Rz 11).

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b) Bei Anlegung dieser verfassungsrechtlichen Grundsätze verletzt die Verwerfung des Befangenheitsgesuchs durch den abgelehnten Einzelrichter im Urteil die Klägerin in ihrem Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG). Denn die Ablehnung des Befangenheitsgesuchs war keine bloße Formalentscheidung.

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Zwar ist das FG in dem angefochtenen Urteil zunächst zu Recht davon ausgegangen, dass die bloße Ablehnung eines Terminsverlegungsantrags in aller Regel für einen erfolgreichen Befangenheitsantrag nicht ausreicht, jedoch hat das Gericht zu Unrecht daraus hergeleitet, der kurz vor Verhandlungsbeginn ebenfalls gestellte Befangenheitsantrag diene im vorliegenden Fall offenbar der Prozessverschleppung und sei daher unzulässig. Damit hat es das Vorbringen der Klägerin in ihrem Befangenheitsgesuch nur verkürzt zur Kenntnis genommen, obwohl bei der Prüfung, ob ein Ablehnungsgesuch als unzulässig verworfen werden kann, das Gericht in besonderem Maße verpflichtet ist, das Ablehnungsgesuch seinem Inhalt nach vollständig zu erfassen (BVerfG-Beschluss vom 11. März 2013  1 BvR 2853/11, NJW 2013, 1665, Rz 35).

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aa) So war Anlass der Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit nach Auffassung der Klägerin nicht allein die Ablehnung des Verlegungsantrags, sondern auch die Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Rechts auf Akteneinsicht durch das Gericht. Die Klägerin hatte dabei darauf hingewiesen, dass der Prozessbevollmächtigte urlaubsbedingt das Schreiben des Beigeladenen erst am 14. Juni 2016 habe zur Kenntnis nehmen können, dass eine Rücksprache mit der Klägerin vor der mündlichen Verhandlung angesichts eines ganztägigen anderen Termins am 15. Juni 2016 nicht möglich gewesen sei und somit auch nicht die Angelegenheit mit der Klägerin habe erörtert werden und eine Stellungnahme dazu habe erfolgen können. Die Klägerin hatte weiter darauf abgehoben, dass den Hinweis des Gerichts vom 15. Juni 2016, die Akten könnten im Gericht eingesehen werden, der Prozessbevollmächtigte wegen seiner Abwesenheit am 15. Juni 2016 nicht zur Kenntnis hätte nehmen können und dies dem Gericht auch bewusst und bekannt gewesen sei. Weiter sei dem Gericht auch bekannt gewesen, dass der in Y ansässige Prozessbevollmächtigte aufgrund der Entfernung zum Gericht zwar am Tag der Verhandlung die Akte hätte einsehen können, aber nicht mehr in der Lage gewesen wäre, den Inhalt zu verwerten, mit der Klägerin zu erörtern und eine entsprechende Stellungnahme zu verfassen.

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bb) Das Vorbringen der Klägerin zu den Ablehnungsgründen zielte damit auch auf das Verhalten des abgelehnten Richters ab und war nicht von vornherein völlig ungeeignet, ein Ablehnungsgesuch zu begründen. Die Prüfung des Inhalts des Ablehnungsgesuchs erforderte vielmehr eine Bewertung des Verhaltens des abgelehnten Richters unter Berücksichtigung des von der Prozessordnung gesteckten Rahmens. Vor diesem Hintergrund konnte der Vorwurf einer rechtsmissbräuchlichen Umgehung des § 155 FGO i.V.m. § 227 ZPO nicht allein mit dem kurzfristig vor Terminsbeginn gestellten Befangenheitsantrag begründet werden.

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cc) Dies hat das FG auch erkannt, indem es sich zur weiteren Begründung der Rechtsmissbräuchlichkeit darauf berief, dass die behaupteten Verletzungen von Prozessgrundrechten durch das Gericht --wie ausgeführt-- "haltlos" seien. Das Gericht setzte sich damit mit dem Prozessverlauf und dem Akteninhalt sachlich auseinander, um die von ihm angenommene Verschleppungsabsicht und somit die Unzulässigkeit des Befangenheitsgesuchs weiter zu untermauern. In Anbetracht dieser Erwägungen und des Inhalts des Ablehnungsgesuchs lag die Rechtsmissbräuchlichkeit des Befangenheitsantrags ohne nähere inhaltliche Prüfung der Ablehnungsgründe jedenfalls nicht auf der Hand. Die aus Sicht des Gerichts geltend gemachte "haltlose" Verletzung von Prozessgrundrechten lässt allenfalls auf die offensichtliche Unbegründetheit des Ablehnungsgesuchs schließen, macht diese Entscheidung aber nicht zu einer reinen Formalentscheidung, die ein vereinfachtes Ablehnungsverfahren mit Selbstentscheidung rechtfertigen könnte.

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2. Der Senat hält es für angezeigt, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen. Angesichts dessen bedürfen auch die weiteren Verfahrensrügen der Klägerin keiner Entscheidung.

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3. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.

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