Urteil vom Bundesfinanzhof (3. Senat) - III R 6/17

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 4. November 2016  8 K 1854/14 Kg,AO aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.

Tatbestand

I.

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Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) erhielt zunächst laufend Kindergeld für seine drei Kinder, die im März 1990, im April 1991 und im September 1992 geboren wurden. Nachdem der Beklagten und Revisionsklägerin (Familienkasse) vom Einwohnermeldeamt mitgeteilt worden war, dass der Kläger am 31. August 2008 nach Italien verzogen sei, hob sie die Kindergeldfestsetzung mit öffentlich zugestelltem Bescheid vom 5. Mai 2009 gemäß § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ab September 2008 auf und forderte das für September 2008 bis März 2009 gezahlte Kindergeld zurück.

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Das von der Bußgeld- und Strafsachenstelle der Familienkasse eingeleitete Ermittlungsverfahren wurde wegen des Auslandsaufenthaltes des Klägers im Juni 2010 vorläufig eingestellt.

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Im Januar 2014 teilte die Stadt H. der Familienkasse mit, dass der Kläger in eine dortige Wohnung eingezogen sei. Die Bußgeld- und Strafsachenstelle der Familienkasse gab dem Kläger mit Schreiben vom 17. Februar 2014 die Einleitung eines steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahrens gegen ihn bekannt. Dabei verwies sie auf den dem Bescheid vom 5. Mai 2009 zugrunde liegenden Sachverhalt. Die Bußgeld- und Strafsachenstelle der Familienkasse stellte das Ermittlungsverfahren jedoch im Mai 2014 ein, weil die zu erwartende Strafe neben einer Geldstrafe, zu der der Kläger aus anderen Gründen verurteilt worden war, nicht beträchtlich ins Gewicht falle.

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Den nach Akteneinsicht des Prozessbevollmächtigten am 24. April 2014 eingelegten Einspruch gegen den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 5. Mai 2009 verwarf die Familienkasse wegen Verfristung als unzulässig.

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Die dagegen gerichtete Klage hatte hinsichtlich des Zeitraumes September bis Dezember 2008 Erfolg. Das Finanzgericht (FG) entschied, die Festsetzungsfrist sei durch die öffentliche Zustellung des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides vom 5. Mai 2009 nicht gemäß § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO) gewahrt worden, da sie wegen des fehlenden Hinweises gemäß § 10 Abs. 2 Satz 3 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) unwirksam gewesen sei und die spätere Heilung des Zustellungsmangels durch den Zugang des Bescheides nach den Grundsätzen des Senatsurteils vom 30. August 2012 III R 46/10 (BFH/NV 2013, 3) keine Fristwahrung bewirke. Die Festsetzungsfrist für die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für September bis Dezember 2008 habe mit Ablauf des Jahres 2008 begonnen und gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO spätestens mit Ablauf des Jahres 2013 geendet. Sie verlängere sich nicht gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO auf zehn Jahre, da die Voraussetzungen einer vorsätzlichen Steuerhinterziehung nicht festgestellt werden könnten. Die Ermittlungen der Bußgeld- und Strafsachenstelle hätten den Ablauf der Festsetzungsfrist nicht gemäß § 171 Abs. 5 Satz 1 AO gehemmt.

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Im Übrigen, d.h. hinsichtlich der Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum ab Januar 2009, sei die Klage hingegen unbegründet. Da der Kläger in deutscher und italienischer Sprache über die Bedeutung des Wegzugs für den Kindergeldanspruch belehrt worden sei, verlängere sich die Festsetzungsfrist wegen leichtfertiger Steuerverkürzung gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO auf fünf Jahre. Der Mangel der Zustellung des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides sei gemäß § 8 VwZG durch den tatsächlichen Zugang im Jahr 2014 geheilt worden.

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Die Familienkasse rügt die Verletzung materiellen Rechts.

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Die Familienkasse beantragt,
das FG-Urteil aufzuheben, soweit es den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 5. Mai 2009 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23. Mai 2014 für den Zeitraum von September 2008 bis Dezember 2008 aufgehoben hat, und die Klage auch insoweit abzuweisen.

9

Der Kläger hat sich nicht geäußert und keinen Antrag gestellt.

Entscheidungsgründe

II.

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Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des FG-Urteils, soweit es der Klage für den Zeitraum September 2008 bis Dezember 2008 stattgegeben hat und zur Abweisung der Klage auch insoweit (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für diesen Zeitraum erfolgte materiell zu Recht und auch innerhalb der Festsetzungsfrist.

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1. Da der Kläger seinen inländischen Wohnsitz (§ 8 AO) im August 2008 aufgegeben hat und sich danach auch nicht mehr gewöhnlich im Inland aufhielt (§ 9 AO), konnte er seit September 2008 kein Kindergeld mehr beanspruchen (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG); er bezog das bis März 2009 weiter gezahlte Kindergeld mithin zu Unrecht. Die Familienkasse war auch nach § 70 Abs. 2 EStG berechtigt, die Festsetzung rückwirkend auf den Zeitpunkt des Wegfalls der Anspruchsvoraussetzungen aufzuheben.

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2. Der Aufhebungsbescheid vom 5. Mai 2009 ist dem Kläger vor dem von ihm am 24. April 2014 eingelegten Einspruch zugegangen. Der vom FG festgestellte Zustellungsmangel war heilungsfähig (vgl. Kugelmüller-Pugh in Beermann/Gosch, VwZG § 8 Rz 14, m.w.N.) und wurde geheilt, indem der Bescheid dem Prozessbevollmächtigten des Klägers infolge seiner Akteneinsicht tatsächlich zur Kenntnis gelangte (§ 122 Abs. 5 Satz 2 AO a.F., § 8 VwZG). Insoweit ist es unerheblich, ob sich das Original oder die Kopie des Bescheides in der Akte befand (vgl. Kugelmüller-Pugh in Beermann/Gosch, VwZG § 8 Rz 21 ff.).

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3. Die Festsetzungsfrist war zu diesem Zeitpunkt --im April 2014-- auch hinsichtlich des Kindergeldes für September 2008 bis Dezember 2008 noch nicht abgelaufen.

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a) Der Kläger ließ die Familienkasse pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 378 Abs. 1 AO), indem er der Familienkasse entgegen § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG seinen Wegzug nicht mitteilte. Die unterbliebene Mitteilung war ursächlich dafür, dass die Festsetzung nicht aufgehoben und das Kindergeld für September 2008 bis März 2009 weiter ausgezahlt wurde. Mit dem nach § 31 Satz 3 EStG als Steuervergütung gewährten Kindergeld erlangte er für sich einen nicht gerechtfertigten Steuervorteil (§ 370 Abs. 4 Satz 2 i.V.m. § 378 Abs. 1 AO). Der Kläger handelte nach den Feststellungen des FG auch leichtfertig, so dass der Tatbestand der leichtfertigen Steuerverkürzung nach § 378 AO erfüllt ist. Die Festsetzungsfrist verlängerte sich daher auf fünf Jahre (§ 169 Abs. 2 Satz 2 AO).

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b) Der Ablauf der Festsetzungsfrist wird in den Fällen des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO nach § 171 Abs. 7 AO bis zum Eintritt der Verfolgungsverjährung gehemmt, die erst mit dem Erfolg der Handlung i.S. von § 31 Abs. 3 Satz 2 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) --oder wie hier der Unterlassung (§ 8 OWiG)-- beginnt, d.h. der letztmals zu Unrecht --durch Steuerhinterziehung oder wie hier durch leichtfertige Steuerverkürzung-- erlangten Kindergeldzahlung (Urteile des Bundesfinanzhofs vom 17. Dezember 2015 V R 13/15, BFH/NV 2016, 534; vom 18. Dezember 2014 III R 13/14, BFH/NV 2015, 948; vom 26. Juni 2014 III R 21/13, BFHE 247, 102, BStBl II 2015, 886). Es stellt mithin nicht jede monatliche Auszahlung eine beendete Ordnungswidrigkeit dar, was zur Folge hätte, dass mit der Auszahlung für den entsprechenden Monat auch die Verfolgungsverjährung begänne (Senatsurteil in BFHE 247, 102, BStBl II 2015, 886, Rz 15 f.).

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c) Die fünfjährige Festsetzungsfrist endete mithin nicht vor Ablauf der fünfjährigen Verfolgungsverjährung (§ 384 AO), die mit der Auszahlung des Kindergeldes für März 2009 begann und vor ihrem Ablauf durch die Bekanntgabe der Einleitung des Ermittlungsverfahrens am 17. Februar 2014 gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OWiG unterbrochen wurde. Die Verfolgungsverjährung begann nach dieser Unterbrechung von neuem (§ 33 Abs. 3 Satz 1 OWiG) und war mithin noch nicht abgelaufen, als dem Kläger der Aufhebungsbescheid vom 5. Mai 2009 infolge der Akteneinsicht vor der Einspruchseinlegung am 24. April 2014 zuging.

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4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 1, § 135 Abs. 1 FGO.

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