Urteil vom Bundesfinanzhof (5. Senat) - V R 30/17

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 14. Februar 2017 15 K 33/14 U aufgehoben.

Die Sache wird an das Finanzgericht Münster zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.

Tatbestand

I.

1

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist Insolvenzverwalter über das Vermögen einer eingetragenen Genossenschaft. Bei dieser handelte es sich um eine Arbeitsgemeinschaft nach § 94 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X). Mitglieder waren gesetzliche Krankenkassen sowie Verbände und andere Arbeitsgemeinschaften, deren Mitglieder wiederum gesetzliche Krankenkassen waren. Mitglieder waren auch natürliche Personen.

2

Bei den von der Genossenschaft erbrachten Leistungen handelte es sich um Bereitstellung, Betrieb und Administration von (Fach-)Anwendungen und Infrastruktur, Betreuung von IT- und Kommunikationsinfrastruktur, Fach- und Anwendungsberatung, Anwendungsentwicklung und Integration von Fallmanagementverfahren, Beschaffungsmanagement sowie Beratung zu IT-Infrastruktur, IT-Sicherheit und Datenschutz. Die Arbeitsgemeinschaft verarbeitete für ihre Mitglieder dabei auch Daten und speicherte den gesamten Datenbestand ihrer Mitgliedskrankenkassen. Die Daten waren von den Mitgliedskrankenkassen erhoben worden und wurden von diesen genutzt.

3

Die Vergütung der Arbeitsgemeinschaft erfolgte auf der Grundlage eines Wirtschaftsplans. Die sich hieraus ergebenden Kosten wurden auf die Mitglieder nach der Anzahl der Versicherten bei den Mitgliedskrankenkassen verteilt.

4

Die Arbeitsgemeinschaft sah die Leistungen an ihre Mitglieder zunächst als steuerpflichtig an. Gegen die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung für die Steuerfestsetzungen der Streitjahre 2001 bis 2009 legte sie Einspruch ein und begehrte erfolglos die Steuerfreiheit ihrer Leistungen.

5

Demgegenüber hatte die Klage zum Finanzgericht (FG) Erfolg. Nach dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2017, 617 veröffentlichten Urteil sind die Leistungen zwar nach nationalem Recht steuerpflichtig, aber nach der Art. 132 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem 2006/112/EG (MwStSystRL) sowie zuvor Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. f der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (Richtlinie 77/388/EWG) steuerfrei. Der Kläger könne sich hierauf nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) berufen. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) bestehe im Streitfall keine Gefahr von Wettbewerbsverzerrungen. Dies sei nach § 80 SGB X ausgeschlossen. Ein während des finanzgerichtlichen Verfahrens ergangener Änderungsbescheid wurde gemäß § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Gegenstand des Verfahrens.

6

Hiergegen wendet sich der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) mit der Revision. Nach nationalem Recht seien die Leistungen nicht steuerfrei. Es sei höchstrichterlich nicht entschieden, ob der nationale Gesetzgeber verpflichtet sei, über den Anwendungsbereich von § 4 Nr. 14 Buchst. d des Umsatzsteuergesetzes hinaus weitere Dienstleistungen von der Steuer zu befreien. Mitglieder seien auch nichtunternehmerisch tätige natürliche Personen gewesen, die keine Leistungen bezogen hätten. Zwar müsse der Zusammenschluss seine Leistungen nicht an alle Mitglieder erbringen. Ein Zusammenschluss, der nicht nur aus den im Befreiungstatbestand genannten Mitgliedern bestehe, könne aber bereits dem Grunde nach die Steuerfreiheit nicht in Anspruch nehmen.

7

Das FA beantragt,

das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

8

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

9

Die Arbeitsgemeinschaft sei in der Rechtsform einer Genossenschaft geführt worden. Mitglieder des Vorstands müssten (auch) natürliche Personen sein.

Entscheidungsgründe

II.

10

Die Revision des FA ist aus anderen als den geltend gemachten Gründen begründet. Das Urteil des FG ist aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Das FG hat zu Unrecht eine Steuerfreiheit nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. f MwStSystRL bejaht. Verneint das FG eine Wettbewerbsverzerrung, die der Steuerfreiheit nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. f MwStSystRL entgegensteht, da nicht-öffentliche Stellen gemäß § 80 Abs. 5 Nr. 2 SGB X von der Speicherung des gesamten Datenbestandes ausgeschlossen sind, kann dies nur die Steuerfreiheit der Leistungen begründen, die mit einer derartigen Speicherung direkt, unmittelbar und notwendig zusammenhängen.

11

1. Unionsrechtlich befreien die Mitgliedstaaten nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. f MwStSystRL (ebenso zuvor: Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG) Dienstleistungen, die selbständige Zusammenschlüsse von Personen, die eine Tätigkeit ausüben, die von der Steuer befreit ist oder für die sie nicht Steuerpflichtige sind, an ihre Mitglieder für unmittelbare Zwecke der Ausübung dieser Tätigkeit erbringen, soweit diese Zusammenschlüsse von ihren Mitgliedern lediglich die genaue Erstattung des jeweiligen Anteils an den gemeinsamen Kosten fordern, vorausgesetzt, dass diese Befreiung nicht zu einer Wettbewerbsverzerrung führt. Das nationale Recht setzt diesen Befreiungstatbestand nur ungenügend um, wie der EuGH bereits ausdrücklich entschieden hat (vgl. EuGH-Urteil Kommission/Deutschland vom 21. September 2017 C-616/15, EU:C:2017:721, Umsatzsteuer-Rundschau 2017, 792).

12

Nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. f MwStSystRL darf die sich aus dieser Bestimmung ergebende Steuerfreiheit nicht zu einer Wettbewerbsverzerrung führen. Hierzu hat der erkennende Senat zu IT-Dienstleistungen von Arbeitsgemeinschaften, die wie im Streitfall von Sozialversicherungsträgern gegründet wurden, entschieden, dass bei der Prüfung, ob eine Wettbewerbsverzerrung vorliegt, § 80 Abs. 5 Nr. 2 SGB X zu berücksichtigen ist (BFH-Urteil vom 23. April 2009 V R 5/07, BFHE 226, 116, m.w.N. zur Rechtsprechung des EuGH). Nach der in den Streitjahren geltenden Fassung dieser Vorschrift ist die Verarbeitung oder Nutzung von Sozialdaten im Auftrag durch nicht-öffentliche Stellen nur zulässig, wenn die übertragenen Arbeiten beim Auftragnehmer erheblich kostengünstiger besorgt werden können und der Auftrag nicht die Speicherung des gesamten Datenbestandes des Auftraggebers umfasst.

13

Wie der Senat bereits entschieden hat, enthielt § 80 Abs. 5 Nr. 2 SGB X in seiner in den Streitjahren geltenden Fassung kein Verbot einer Auftragsvergabe an nicht-öffentliche Stellen, sondern knüpfte die Vergabe eines Auftrages im Zusammenhang mit der Verarbeitung oder Nutzung von Sozialdaten, die einen Zugriff auf Sozialdaten voraussetzt, nur an bestimmte Voraussetzungen. So können auch nicht-öffentliche Stellen nach § 80 Abs. 5 Nr. 2 SGB X Sozialdaten verarbeiten, wenn die übertragenen Arbeiten beim Auftragnehmer erheblich kostengünstiger besorgt werden können und der Auftrag nicht die Speicherung des gesamten Datenbestandes des Auftraggebers umfasste (BFH-Urteil in BFHE 226, 116, unter II.3.d bb).

14

2. Das FG hat im Streitfall die Wettbewerbsverzerrung auf der Grundlage von § 80 Abs. 5 Nr. 2 SGB X mit der Erwägung verneint, dass die Tätigkeiten der Genossenschaft den uneingeschränkten Zugriff auf sämtliche Sozialdaten der Mitgliedskrankenkassen voraussetzten. Damit hat das FG die Bedeutung von § 80 Abs. 5 Nr. 2 SGB X bei der für die Steuerfreiheit erforderlichen Wettbewerbsprüfung verkannt. Diese Vorschrift erlaubt entgegen dem FG-Urteil grundsätzlich den uneingeschränkten Zugriff auf Sozialdaten auch durch nicht-öffentliche Stellen. Ein derartiger Zugriff durch nicht-öffentliche Stellen wird von der Vorschrift nur untersagt, wenn die nicht-öffentliche Stelle dabei die Speicherung des gesamten Datenbestandes der Auftraggeber übernimmt. Zwar hat das FG im Tatbestand seines Urteils erwähnt, dass die Arbeitsgemeinschaft im Rahmen ihres Auftrags den gesamten Datenbestand (Beitrags-, Leistungs- und Mitgliederdaten) der Mitgliedskrankenkassen speicherte. Das FG hat bei seiner Entscheidung aber nicht berücksichtigt, dass es auf das Verbot der Speicherung des gesamten Datenbestandes durch nicht-öffentliche Stellen nur für die Leistungen der Klägerin ankommen konnte, die mit einer derartigen Speicherung direkt, unmittelbar und notwendig zusammenhingen. Dies kann z.B. auf die miteinander verbundene Datenverarbeitung und Datenspeicherung in einem Rechenzentrum zutreffen (vgl. zu einer ähnlichen Fallgestaltung FG Düsseldorf vom 20. September 2017  5 K 1616/15 U, EFG 2018, 1320).

15

Demgegenüber ist dem Urteil des FG nicht zu entnehmen, ob und inwieweit die Speicherung des gesamten Datenbestandes für die von der Klägerin erbrachten Leistungen in Bezug auf Bereitstellung, Betrieb und Administration von (Fach-)Anwendungen und Infrastruktur, Betreuung von IT- und Kommunikationsinfrastruktur, Fach- und Anwendungsberatung, Anwendungsentwicklung und Integration von Fallmanagementverfahren, Beschaffungsmanagement sowie Beratung zu IT-Infrastruktur, IT-Sicherheit und Datenschutz von Bedeutung war. Auf der Grundlage der bisher getroffenen Feststellungen ist in keiner Weise erkennbar, in welcher Verbindung die Speicherung des gesamten Datenbestandes zu diesen Leistungen stand. Ein nur loser oder sogar fehlender Zusammenhang dieser Leistungen zur Speicherung des gesamten Datenbestandes genügt nicht.

16

3. Die Sache ist nicht spruchreif. Da andere Befreiungstatbestände, insbesondere solche des nationalen Rechts, nicht in Betracht kommen, wie das FG zutreffend entschieden hat, ist über die Wettbewerbsprüfung bei Art. 132 Abs. 1 Buchst. f MwStSystRL in einem zweiten Rechtsgang neu zu entscheiden. Für die Prüfung der Steuerfreiheit ist dabei § 9 Abs. 2 Satz 1 des Genossenschaftsgesetzes und die sich hieraus ergebende Mitgliederstruktur ohne Bedeutung. Danach müssen die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats Mitglieder der Genossenschaft und natürliche Personen sein. Diese Vorschrift steht der Steuerfreiheit nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. f MwStSystRL nicht entgegen, selbst wenn sich hieraus ergibt, dass Mitglieder des Zusammenschlusses Personen sein müssen, die die weiteren Voraussetzungen dieser Richtlinienbestimmung nicht erfüllen. Es ist kein Sachgrund ersichtlich, der es rechtfertigen könnte, dass die hier vorliegende Besonderheit des Genossenschaftsrechts einer Inanspruchnahme der Steuerfreiheit entgegenstehen könnte.

17

4. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.

Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen