Beschluss vom Bundesgerichtshof (3. Strafsenat) - 3 StR 11/15

Tenor

1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 9. September 2014 mit den jeweils zugehörigen Feststellungen aufgehoben,

a) im Fall B. I. der Urteilsgründe,

b) im Strafausspruch betreffend den Angeklagten Ga.     I.     ,

c) im Ausspruch über die Gesamtstrafe betreffend den Angeklagten G.     .

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehenden Revisionen der Angeklagten Ga.     I.     und G.     werden verworfen.

Gründe

1

Das Landgericht hat die Angeklagten S.     I.     , H.      und T.      wegen gefährlicher Körperverletzung (Tat B. I. der Urteilsgründe), den Angeklagten G.      wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen (Taten B. I. und II. der Urteilsgründe) und den Angeklagten Ga.      I.      wegen gefährlicher Körperverletzung sowie wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Sachbeschädigung (Taten B. I. und II. der Urteilsgründe) verurteilt. Die hiergegen gerichteten, auf Verfahrensrügen und sachlichrechtliche Beanstandungen gestützten Revisionen der Angeklagten haben überwiegend Erfolg.

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1. Die Verurteilung sämtlicher Angeklagter wegen gefährlicher Körperverletzung im Fall B. I. der Urteilsgründe hält sachlichrechtlicher Überprüfung nicht stand, so dass es auf die hiergegen gerichteten Verfahrensrügen nicht ankommt. Die Beweiswürdigung ist rechtsfehlerhaft.

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a) Die Angeklagten haben in der Hauptverhandlung zu dem Tatvorwurf, in der Silvesternacht 2012/2013 gemeinschaftlich auf drei Männer eingeschlagen und eingetreten zu haben, keine Angaben gemacht. Das Landgericht hat sich seine Überzeugung von der Täterschaft aufgrund eines vom Angeklagten T.      bei dessen polizeilicher Vernehmung im Ermittlungsverfahren abgelegten Geständnisses gebildet. Auf zum Zwecke des Alibibeweises gestellte Beweisanträge der Verteidiger der Angeklagten G.      , Ga.      I.      und S.      I.      hat die Strafkammer die Eltern des Angeklagten G.      zu dessen angeblichem Aufenthalt im Elternhaus sowie einen Kellner und einen Gast zum angeblichen Aufenthalt der Angeklagten I.      in einem Lokal angehört. Die Alibibehauptungen hat sie als nicht bestätigt gefunden und hat dies neben anderen Erwägungen zum Wert der einzelnen Aussagen jeweils auch wie folgt begründet: Es hätte "nichts näher gelegen” (UA S. 41) bzw. "nahe gelegen” (UA S. 46), die Alibizeugen bereits im Ermittlungsverfahren oder zumindest in der Hauptverhandlung spätestens nach Vernehmung der Opferzeugen zu benennen, anstatt sich erst nach längerem Verlauf der Hauptverhandlung, teilweise nach einem ersten Schluss der Beweisaufnahme auf sie zu berufen.

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b) Diese Überlegung verstößt gegen den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten. Diesem kann der Zeitpunkt, zu dem er sich erstmals zur Sache einlässt, nicht zum Nachteil gereichen. Erst recht gilt dies für den Zeitpunkt eines vom Verteidiger gestellten Beweisantrages.

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Der Grundsatz, dass niemand im Strafverfahren gegen sich selbst auszusagen braucht, insoweit also ein Schweigerecht besteht, ist notwendiger Bestandteil eines fairen Verfahrens. So steht es dem Angeklagten frei, sich zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen (§ 136 Abs. 1 Satz 2, § 243 Abs. 5 Satz 1 StPO). Macht ein Angeklagter von seinem Schweigerecht Gebrauch, so darf dies nicht zu seinem Nachteil gewertet werden (BGH, Urteile vom 26. Oktober 1983 - 3 StR 251/83, BGHSt 32, 140, 144; vom 26. Mai 1992 - 5 StR 122/92, BGHSt 38, 302, 305; vom 22. Dezember 1999 - 3 StR 401/99, NJW 2000, 1426; Beschluss vom 3. Mai 2000 - 1 StR 125/00, NStZ 2000, 494, 495). Der unbefangene Gebrauch dieses Schweigerechts wäre nicht gewährleistet, wenn der Angeklagte die Prüfung und Bewertung der Gründe für sein Aussageverhalten befürchten müsste. Deshalb dürfen weder aus der durchgehenden noch aus der anfänglichen Aussageverweigerung - und damit auch nicht aus dem Zeitpunkt, zu dem sich der Angeklagte erstmals einlässt - nachteilige Schlüsse gezogen werden (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 22. Februar 2001 - 3 StR 580/00, NStZ-RR 2002, 72 bei Becker; Beschluss vom 28. Mai 2014 - 3 StR 196/14, NStZ 2014, 666, 667 jeweils mwN).

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Erst recht darf aus dem Zeitpunkt, zu dem ein Verteidiger einen Beweisantrag anbringt, nichts zum Nachteil des bis dahin schweigenden Angeklagten hergeleitet werden. Der Verteidiger ist neben dem Angeklagten selbständig berechtigt, Beweisanträge zu stellen. Er kann einen solchen Antrag auch gegen den offenen Widerspruch des Angeklagten vorbringen, der Antrag muss nicht mit der Einlassung des Angeklagten übereinstimmen, die unter Beweis gestellte Behauptung kann auch einem Geständnis des Angeklagten widersprechen. Dementsprechend darf der Antrag des Verteidigers sowie die hierzu abgegebene Begründung oder weitergehende Erläuterung nicht als Einlassung des Angeklagten behandelt werden, es sei denn der Angeklagte erklärt (eventuell auf Befragen), er mache sich das Vorbringen als eigene Einlassung zu eigen (BGH, Beschluss vom 29. Mai 1990 - 4 StR 118/90, StV 1990, 394; Urteil vom 24. Juli 1991 - 4 StR 258/91, BGHR StPO, § 243 Abs. 4 Äußerung 4; Beschluss vom 7. August 2014 - 3 StR 105/14, NStZ 2015, 207, 208; LR/Becker, StPO, 26. Aufl., § 244 Rn. 118).

7

Den Urteilsgründen ist nicht zu entnehmen, dass sich die Angeklagten das Vorbringen in den Beweisanträgen der Verteidiger als Einlassung zu Eigen gemacht hätten. Aus einer Gesamtschau des Urteils ergibt sich jedoch, dass sich die Angeklagten - mit Ausnahme des Angeklagten T.      - auch im Ermittlungsverfahren nicht zum Tatvorwurf eingelassen haben. Der Fehler ist deshalb auf Sachrüge hin zu beachten (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Mai 2014 - 3 StR 196/14, NStZ 2014, 666, 667).

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c) Der Senat kann nicht ausschließen, dass die fehlerhafte Überlegung im Rahmen der Beweiswürdigung für die Überzeugung des Gerichts von der Unrichtigkeit der Alibibehauptung ursächlich war. Sie ergreift, da ein bestätigtes Alibi der drei Angeklagten die alle Beschwerdeführer belastende Aussage des Angeklagten T.      in Zweifel gezogen hätte, die Beweiswürdigung zu diesem Fall insgesamt. Über diesen Tatvorwurf muss daher bezüglich aller Angeklagten erneut verhandelt und entschieden werden.

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2. Der Schuldspruch betreffend den Angeklagten Ga.      I.      im Fall B. II. hält hingegen rechtlicher Nachprüfung stand. Die hiergegen erhobenen Einwände sind aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbehelflich. Die gegen den Angeklagten verhängte einheitliche Jugendstrafe sowie der daneben angeordnete Dauerarrest sind aufzuheben. Ihnen ist bereits aufgrund der Aufhebung der Verurteilung im Fall B. I. die Grundlage entzogen.

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3. Der Schuld- und Strafausspruch betreffend den Angeklagten G.      im Fall B. II. der Urteilsgründe ist ohne Rechtsfehler. Der Senat schließt aus, dass sich die weggefallene Einzelstrafe aus dem Fall B. I. der Urteilsgründe auf die Höhe der hier erkannten Strafe ausgewirkt hat. Die Gesamtstrafe muss indes aufgehoben werden.

Becker                              Pfister                              Schäfer

                  Gericke                             Spaniol

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