Urteil vom Bundesgerichtshof (6. Zivilsenat) - VI ZR 477/16
Tenor
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Die Revision gegen das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Dresden vom 12. Oktober 2016 wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.
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Von Rechts wegen
Tatbestand
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Die klagende Bundesagentur für Arbeit nimmt als Trägerin der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung den Beklagten gemäß § 110 Abs. 1 SGB VII auf Ersatz ihr entstandener Aufwendungen nach einem Arbeitsunfall ihres Versicherten W. in Anspruch.
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Der bei dem Beklagten beschäftigte Versicherte brach am 16. April 2009 bei Dachdeckerarbeiten durch ein Hallendach und stürzte etwa 6,5 Meter in die Tiefe. Dabei verletzte er sich so schwer, dass er nicht mehr in seinem Beruf als Dachdecker arbeiten kann. Durch ordentliche Kündigung vom 27. Juni 2009 beendete der Beklagte das Arbeitsverhältnis des Versicherten zum 31. Juli 2009. Vom 14. Oktober 2010 bis zum 11. Oktober 2011 bezog der Versicherte Arbeitslosengeld. Zusammen mit Sozialversicherungsbeiträgen wendete die Klägerin dafür einen Betrag von 16.059,06 € auf, dessen Ersatz sie von dem Beklagten begehrt. Ferner beantragt sie die Feststellung, dass der Beklagte zum Ersatz sämtlicher weiterer ihr aus dem Schadensereignis entstehender Aufwendungen verpflichtet ist. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist ohne Erfolg gebliebenen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe
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I.
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Nach Ansicht des Berufungsgerichts scheidet ein Anspruch aus § 110 Abs. 1 SGB VII aus, weil die Klägerin als Trägerin der Arbeitslosenversicherung kein Sozialversicherungsträger im Sinne dieser Vorschrift und deshalb nicht anspruchsberechtigt sei. Der Gesetzgeber unterscheide zwischen Sozialversicherung, Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II und Arbeitsförderung nach dem SGB III. Als für die Arbeitsförderung zuständiger Träger zähle die Klägerin nicht zu den Versicherungsträgern nach § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X, weshalb der Gesetzgeber § 116 Abs. 10 SGB X geschaffen und dadurch die Eigenschaft der Klägerin als Versicherungsträger im Sinne dieser Norm fingiert habe. Demgegenüber fehle es in § 110 SGB VII an einer § 116 Abs. 10 SGB X vergleichbaren Regelung. Auch in anderen Normen des Sozialgesetzbuchs sei die Klägerin ausdrücklich als den Versicherungsträgern gleichgestellt aufgeführt worden. Etwas Anderes ergebe sich weder aus dem SGB I noch aus § 58 SGB Vll.
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Zudem scheiterten Ansprüche der Klägerin nach § 110 Abs. 1 Satz 1 SGB VII daran, dass sie ihre Leistungen nicht allein "infolge des Versicherungsfalls" und den damit einhergehenden körperlichen Beeinträchtigungen des Versicherten erbracht habe, sondern infolge der Kündigung und der Arbeitslosigkeit.
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Ein Fall einer unberechtigten Ungleichbehandlung verschiedener Leistungsträger, die aufgrund des gleichen Schadensereignisses Leistungen erbrächten, liege nicht vor.
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II.
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Die Revision hat keinen Erfolg. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die klagende Bundesagentur für Arbeit kein Sozialversicherungsträger im Sinne des § 110 Abs. 1 SGB VII und daher nicht anspruchsberechtigt ist.
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1. Den Versicherungsfall vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeiführende Personen, deren Haftung nach den §§ 104 bis 107 SGB VII beschränkt ist, haften den Sozialversicherungsträgern nach § 110 Abs. 1 Satz 1 SGB VII für die infolge des Versicherungsfalls entstandenen Aufwendungen bis zur Höhe des zivilrechtlichen Schadenersatzanspruchs. Ob die Klägerin als Trägerin der Arbeitslosenversicherung zu den von dieser Norm erfassten Sozialversicherungsträgern zählt, ist höchstrichterlich nicht geklärt. Im Schrifttum ist die Frage umstritten.
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a) Die überwiegende Ansicht in der Literatur hält die Bundesagentur für Arbeit im Rahmen des § 110 Abs. 1 SGB VII nicht für anspruchsberechtigt. Zur Begründung wird angeführt, bei ihr handele es sich nicht um einen Sozialversicherungsträger im Sinne dieser Vorschrift (Jahnke, Unfalltod und Schadenersatz, 2. Aufl., § 2 Rn. 787 ff.; ders., Der Verdienstausfall im Schadensersatzrecht, 4. Aufl., § 4 Rn. 608; Plagemann, FD-SozVR 2017, 385541; vgl. auch SRH/Plagemann, 5. Aufl., Kap. 9 Rn. 70; BeckOK Sozialrecht/Stelljes, § 110 SGB VII Rn. 7, 24 [Stand: 31. Juli 2016]). Zudem leiste sie als Trägerin der Arbeitslosenversicherung nicht wegen des Arbeitsunfalls, sondern wegen der Arbeitslosigkeit des Versicherten (Maschmann, SGb 1998, 54, 62 mit Fn. 128; Krasney in ders., SGB VII-Komm, § 110 Rn. 6 [Stand: Juni 2013]; ders., NZS 2004, 68, 74; Dahm in Lauterbach, Unfallversicherung, SGB VII, 4. Aufl., § 110 Rn. 7 [Stand: Januar 2015]; v. Koppenfels-Spies in Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 4. Aufl., § 110 SGB VII Rn. 5; Riedel, Der unfallversicherungsrechtliche Regreß des § 110 SGB VII unter besonderer Betrachtung des neu eingeführten Absatzes 1a, 2008, S. 38; zu § 640 RVO bereits Linthe, BG 1963, Sonderheft Mai, S. 5, 25).
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b) Die Gegenansicht hält die Bundesagentur für Arbeit als Trägerin der Arbeitslosenversicherung für gemäß § 110 Abs. 1 Satz 1 SGB VII anspruchsberechtigt (Ricke in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 110 SGB VII Rn. 5 [Stand: September 2015]; Brückner in Jahn, Sozialgesetzbuch für die Praxis, SGB Vll, § 110 Rn. 6 [Stand: 31. August 2016]). Das Argument, sie leiste nicht wegen des Versicherungsfalls, sondern wegen der Arbeitslosigkeit, sei aufgrund von § 58 SGB VII nicht schlüssig (Ricke, aaO).
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2. Nach Auffassung des Senats ist die Klägerin jedenfalls deshalb nicht gemäß § 110 Abs. 1 Satz 1 SGB VII anspruchsberechtigt, weil sie nicht Sozialversicherungsträger im Sinne dieser Vorschrift ist. Zwar führt deren Auslegung nach Wortlaut sowie Sinn und Zweck zu keinem klaren Ergebnis. Die Entstehungsgeschichte legt aber das Verständnis nahe, dass der Begriff des Sozialversicherungsträgers im Sozialgesetzbuch und damit auch in § 110 Abs. 1 SGB VII in einem formellen engen, den Träger der Arbeitslosenversicherung nicht einschließenden Sinn gebraucht wird. Dies wird durch die systematische Auslegung bestätigt.
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a) Der Wortlaut des § 110 Abs. 1 SGB VII, der wie zuvor § 640 RVO in seinen Wirkungsbereich alle Träger der Sozialversicherung einbezieht (zu § 640 RVO vgl. Senatsurteil vom 10. Dezember 1974 - VI ZR 73/73, BGHZ 63, 313, 317), ist für beide Deutungen offen. Der Begriff der Sozialversicherung kann in einem materiellen weiten Sinn, der die Arbeitslosenversicherung miteinbezieht, verstanden werden. In diesem Sinne wird die Bundesagentur für Arbeit in ihrer Funktion als Trägerin der Arbeitslosenversicherung im Rahmen des § 117 Abs. 3 Satz 2 VVG, nach dem ein gegenüber seinem Versicherungsnehmer leistungsfreier Pflichthaftpflichtversicherer auch gegenüber dem geschädigten Dritten leistungsfrei ist, wenn dieser Ersatz seines Schadens von einem Sozialversicherungsträger erlangen kann, als Sozialversicherungsträger angesehen (MünchKomm-VVG/Schneider, 2. Aufl., § 117 Rn. 40; Knappmann in Prölss/Martin, VVG, 29. Aufl., § 117 Rn. 32; Langheid in Langheid/Rixecker, VVG, 5. Aufl., § 117 Rn. 32; Beckmann in Bruck/Möller, VVG, 9. Aufl., § 117 Rn. 66; Schwartze in Looschelders/Pohlmann, VVG, 3. Aufl., § 117 Rn. 22; jurisPK-StrVerkR/Lennartz, 2016, § 117 VVG Rn. 39; zur Vorgängernorm des § 158c VVG bereits OLG Frankfurt, NZV 1990, 233; OLG München, NJW-RR 1986, 1474 f.; dazu auch BGH, Urteil vom 23. September 1965 - II ZR 144/63, BGHZ 44, 166, 168 f.). Der Begriff der Sozialversicherung kann jedoch auch in einem formellen engen Sinn gedeutet werden, der - neben der erst nachträglich geschaffenen Pflegeversicherung - nur die vier zunächst in der Reichsversicherungsordnung geregelten "klassischen" Versicherungszweige (Krankheit, Alter, Invalidität und Unfall) umfasst. Gerade weil der Begriff der Sozialversicherung häufig in diesem beschränkten, engen Sinne verstanden wird, spricht das Grundgesetz in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 von der "Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung". Damit wird dem besonders naheliegenden Missverständnis vorgebeugt, in der Kompetenzordnung des Grundgesetzes stehe das Wort "Sozialversicherung" nur für die vier "klassischen" Versicherungszweige. Es wird klargestellt, dass die Kompetenznorm des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG den Begriff "Sozialversicherung" als verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff versteht, der alles umfasst, was sich "der Sache nach" als Sozialversicherung darstellt (BVerfGE 11, 105, 111 f.).
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b) Die teleologische Auslegung des § 110 Abs. 1 SGB VII ist unergiebig. Maßgeblich dafür, dem Schädiger in den dort genannten Fällen eine Ersatzpflicht aufzubürden, sind - neben dem das Schadensrecht beherrschenden Ausgleichsgedanken - letztlich präventive und erzieherische Gründe, die dann greifen sollen, wenn der durch das Haftungsprivileg begünstigte Schädiger den Unfall und damit die Aufwendungen des Sozialversicherungsträgers durch ein besonders zu missbilligendes Verhalten verursacht hat (Senatsurteile vom 11. Februar 2003 - VII ZR 34/02, BGHZ 154, 11, 18; vom 27. Juni 2006 - VI ZR 143/05, BGHZ 168, 161 Rn. 9; vom 15. Juli 2008 - VI ZR 212/07, VersR 2008, 1407 Rn. 31; BeckOK Sozialrecht/Stelljes, § 110 SGB VII Rn. 3 ff. [Stand: 31. Juli 2016]; zu § 640 RVO Senatsurteile vom 20. November 1979 - VI ZR 238/78, BGHZ 75, 328, 330 f.; vom 18. Oktober 1988 - VI ZR 15/88, VersR 1989, 109, 110). Diese Zwecke werden einerseits auch dann erreicht, wenn die Bundesagentur für Arbeit als Trägerin der Arbeitslosenversicherung ersatzberechtigt ist, erfordern andererseits aber nicht deren Einbeziehung in den Kreis der Anspruchsberechtigten. So werden, wie das Berufungsgericht zutreffend dargelegt hat, auch den einst nach § 903 RVO anspruchsberechtigten Sozialhilfeträgern ihre durch einen Versicherungsfall entstehenden Aufwendungen bereits seit Inkrafttreten des durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung (Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz - UVNG) vom 30. April 1963 (BGBl. I S. 241) geschaffenen § 640 RVO als Vorgängerregelung des § 110 Abs. 1 SGB VII nicht mehr ersetzt.
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c) Die Entstehungsgeschichte spricht aber dafür, dass der historische Gesetzgeber nicht den Willen hatte, den Träger der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung in § 110 Abs. 1 SGB VII und in den Vorgängervorschriften in den Kreis der Anspruchsberechtigten einzubeziehen. Während in der bis zum 30. Juni 1963 geltenden Norm des § 903 RVO Gemeinden, Träger der Armenfürsorge, Krankenkassen, der Reichsknappschaftsverein, Ersatzkassen, Sterbe- und andere Unterstützungskassen sowie die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung anspruchsberechtigt waren, so dass insbesondere eine Aktivlegitimation des Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung nicht bestand (vgl. Senatsurteile vom 5. November 1957 - VI ZR 221/56, BGHZ 26, 16, 18 ff. zur Invalidenversicherung; vom 30. November 1971 - VI ZR 53/70, BGHZ 57, 314, 315 ff.), erweiterte der Gesetzgeber den Kreis der Anspruchsberechtigten in der vom 1. Juli 1963 bis zum 31. Dezember 1996 geltenden, durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz (UVNG) vom 30. April 1963 eingeführten Vorschrift des § 640 RVO auf die "Träger der Sozialversicherung". Die Begründung des Gesetzesentwurfs ging auf diese Änderung und auf die Frage, ob dazu auch der Träger der Arbeitslosenversicherung gehöre, zwar nicht ein (BT-Drucks. IV/120, S. 63 - zu § 639; vgl. ferner Senatsurteil vom 30. November 1971 - VI ZR 53/70, BGHZ 57, 314, 318), ebenso wenig der schriftliche Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik (BT-Drucks. IV/938 (neu), S. 18 - zu § 639). Ein erster Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung, der am 21. März 1957 dem Deutschen Bundestag zugeleitet worden war, hatte aber - noch als § 795 RVO-E1 - folgende Formulierung enthalten: "Haben die Unternehmer oder die in § 632 genannten Personen den Unfall vorsätzlich oder grobfahrlässig herbeigeführt, so haften sie für alles, was Träger der Unfallversicherung, Träger der gesetzlichen Rentenversicherungen, Träger der gesetzlichen Krankenversicherung und Träger der öffentlichen Fürsorge nach Gesetz oder Satzung aufwenden müssen" (BT-Drucks. II/3318, S. 44 f.). Die dortige Begründung, die auf die Änderung der Ersatzberechtigten ebenfalls nicht eingegangen war, war bereits fast wortgleich mit jener des späteren, insoweit Gesetz gewordenen Entwurfs (vgl. BT-Drucks. II/3318, S. 100 - zu § 795 sowie BT-Drucks, IV/120, S. 63 - zu § 639). Ein zweiter Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung, der dem Deutschen Bundestag am 16. Dezember 1958 zugeleitet worden war, hatte in § 632 RVO-E2 die Aufzählung der Anspruchsberechtigten ersetzt durch die - mangels Begründung einer abweichenden Bedeutung (BT-Drucks. III/758, S. 61) offenbar als inhaltlich gleichbedeutende Zusammenfassung gemeinte - Formulierung "die Träger der Sozialversicherung und die Träger der öffentlichen Fürsorge" (BT-Drucks. III/758, S. 20). Der später Gesetz gewordene Entwurf strich die Träger der öffentlichen Fürsorge als Ersatzberechtigte und hielt an der Formulierung "Träger der Sozialversicherung" fest. Daraus lässt sich ableiten, dass der Gesetzgeber diese Formulierung allein aus redaktionellen Gründen wählte, um - wie im ersten Entwurf - die Ersatzberechtigung der Träger der Unfall-, Renten- und Krankenversicherung zu regeln.
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In diesem Sinne wurde der neu geschaffene § 640 RVO auch in der Literatur verstanden. Dort wurde betont, dass im Gegensatz zu dem bisher geltenden Recht die Träger der Rentenversicherung ersatzberechtigt seien (vgl. Ilgenfritz, BB 1963, 403, 406; ders., NJW 1963, 1046, 1048; Schmalzl, NJW 1963, 1706, 1709; Vollmar, VersR 1964, 29, 30; Elleser, BB 1964, 1493, 1494; Wussow, Das Unfallhaftpflichtrecht, 8. Aufl., 1963, Rn. 1982; Geigel, Der Haftpflichtprozess, 12. Aufl., 1964, Kap. 28 Rn. 3). Die Ansicht, dass dies auch für die Träger der Arbeitslosenversicherung gelte, wurde unter der Geltung der RVO, soweit ersichtlich, hingegen nicht vertreten; soweit man auf diese Frage einging, lehnte man eine Einbeziehung der Arbeitslosenversicherung vielmehr ab (Schmalzl, NJW 1963, 1706, 1709; Seitz, Die Ersatzansprüche der Sozialversicherungsträger nach §§ 640 und 1542 RVO, 2. Aufl., 1964, S. 215; Lauterbach/Waltermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 640 RVO Rn. 35 [Stand: September 1992]; im Ergebnis auch Linthe, BG 1963, Sonderheft Mai, S. 5, 25) oder zählte die anspruchsberechtigten Sozialversicherungsträger ohne Nennung der Arbeitslosenversicherung auf (Gotzen/Doetsch, Kommentar zur Unfallversicherung, 1963, S. 175; Elleser, BB 1964, 1493, 1494; Brox, DB 1966, 489, 490).
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Durch das Gesetz zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch (Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz - UVEG) vom 7. August 1996 (BGBl. I 1254) wurde § 640 RVO in § 110 SGB VII überführt, wobei an der Anspruchsberechtigung der Sozialversicherungsträger festgehalten wurde, ohne dies und die Frage, ob dazu auch die Träger der Arbeitslosenversicherung gehören sollen, für begründungsbedürftig zu halten (vgl. BT-Drucks. 13/2204, S. 101). Daraus ist zu schließen, dass eine inhaltliche Änderung zu § 640 RVO hinsichtlich des Kreises der Anspruchsberechtigten nicht beabsichtigt war.
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d) Dieses aus der Entstehungsgeschichte abgeleitete Ergebnis, dass die Träger der Arbeitslosenversicherung im Rahmen des § 110 Abs. 1 SGB VII nicht anspruchsberechtigt sind, wird durch systematische Erwägungen bestätigt. Denn das Sozialgesetzbuch unterscheidet einerseits zwischen der Sozialversicherung im formellen engen Sinn, zu der es die gesetzliche Kranken-, Renten-, Unfall- und Pflegeversicherung zählt (Fünftes bis Siebtes und Elftes Buch des Sozialgesetzbuchs), und andererseits der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch und der - die Arbeitslosenversicherung regelnden - Arbeitsförderung nach dem Dritten Buch des Sozialgesetzbuchs (Nehls in Hauck/Noftz, SGB X, § 116 Rn. 61a [Stand: November 2014]; LPK/Kessler, SGB I, 2. Aufl., § 4 Rn. 5, 8; BeckOK Sozialrecht/Niedermeyer, SGB I, § 4 Rn. 2 [Stand: 1. März 2017]; vgl. auch Kreikebohm/Köster, SGB IV, 2. Aufl., § 29 Rn. 3; Udsching in Hauck/Noftz, SGB IV, § 1 Rn. 13 [Stand: April 2014]). Schon aus dem mit "Sozialversicherung" überschriebenen § 4 SGB I wird deutlich, dass der Gesetzgeber im Sozialgesetzbuch einen formellen engen Begriff der Sozialversicherung verwendet. Nachdem dessen Absatz 1 jedem im Rahmen dieses Gesetzbuchs ein Recht auf Zugang zur Sozialversicherung eröffnet, konkretisiert Absatz 2 den Inhalt dieses Rechts (nur) im Rahmen der gesetzlichen Kranken-, Pflege-, Unfall- und Rentenversicherung einschließlich der Alterssicherung der Landwirte, nicht jedoch hinsichtlich der Arbeitslosenversicherung. Daraus wird zu Recht abgeleitet, dass die seit dem 1. Januar 1998 im Dritten Buch des Sozialgesetzbuchs geregelte Arbeitsförderung, die in § 3 Abs. 2 SGB I gesondert aufgeführt ist, nicht zur Sozialversicherung im Sinne des Sozialgesetzbuchs gehört (vgl. Rolfs in Hauck/Noftz, SGB IV, § 4 Rn. 5 [Stand: Dezember 2012]; BeckOK Sozialrecht/Niedermeyer, SGB I, § 4 Rn. 2 [Stand: 1. März 2017]; LPK/Kessler, SGB I, 2. Aufl., § 4 Rn. 2, 5; KassKomm/Seewald, § 4 SGB I Rn. 5 [Stand: März 2017]). Dementsprechend sind die "gemeinsamen Vorschriften für die Sozialversicherung" im Vierten Buch des Sozialgesetzbuchs und damit erst hinter den im Zweiten und Dritten Buch geregelten Materien der Grundsicherung für Arbeitsuchende und der Arbeitsförderung angeordnet (Rolfs in Hauck/Noftz, SGB IV, § 4 Rn. 5 [Stand: Dezember 2012]). Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 SGB IV gelten diese gemeinsamen Vorschriften für die gesetzliche Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung einschließlich der Alterssicherung der Landwirte sowie die soziale Pflegeversicherung (Versicherungszweige). § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB IV ordnet sodann zwar an, dass die Vorschriften des SGB IV mit gewissen Ausnahmen auch für die Arbeitsförderung gelten, bestimmt aber in § 1 Abs. 1 Satz 3 SGB IV, dass die Bundesagentur für Arbeit nur als Versicherungsträger im Sinne dieses Buches "gilt" (vgl. Löcher in Eichenhofer/Wenner, SGB I, IV, X, 2012, § 29 SGB IV Rn. 7).
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Wie in § 1 Abs. 1 Satz 3 SGB IV hat der Gesetzgeber in einer Reihe von weiteren Bestimmungen des Sozialgesetzbuchs die Bundesagentur für Arbeit den Sozialversicherungsträgern gleichgestellt und dadurch im Umkehrschluss zu erkennen gegeben, dass er sie nicht zu ihnen rechnet. So ist die Bundes-agentur für Arbeit als für die Arbeitsförderung zuständige Trägerin (§ 368 Abs. 1 Satz 1 SGB III) kein Sozialversicherungsträger im Sinne von § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X (Nehls in Hauck/Noftz, SGB X, § 116 Rn. 61a [Stand: November 2014]; Waltermann in Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 4. Aufl., § 116 SGB X Rn. 22; Bieresborn in v. Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl., § 116 Rn. 4a; Wussow/Schneider, Unfallhaftpflichtrecht, 16. Aufl., Kap. 74 Rn. 39 ff.). Schon in der vom 1. Juli 1983 bis zum 31. Dezember 1997 geltenden Fassung des § 127 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) wurde für den Fall, dass das Arbeitsamt einem durch einen Unfall Verletzten Arbeitslosengeld gewährte, für den Übergang von Schadensersatzansprüchen die nur entsprechende Geltung des § 116 Abs. 1 SGB X angeordnet. Eine unmittelbare Anwendung dieser Norm kam nicht in Betracht, da es sich bei der damaligen Bundesanstalt für Arbeit nicht um einen Versicherungsträger im Sinne des Sozialgesetzbuchs handelte (so bereits Senatsurteil vom 19. September 1989 - VI ZR 344/88, BGHZ 108, 296, 299). Mit der Einordnung des Arbeitsförderungsrechts als Drittes Buch in das Sozialgesetzbuch sah es der Gesetzgeber für erforderlich an, die Fiktion des § 116 Abs. 10 SGB X aufzustellen, wonach die Bundesagentur für Arbeit als Versicherungsträger im Sinne dieser Vorschrift gilt.
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Auch in weiteren Bestimmungen innerhalb und auch außerhalb des Sozialversicherungsrechts differenziert der Gesetzgeber zwischen den Trägern der Sozialversicherung einerseits und der Bundesagentur für Arbeit andererseits, etwa in § 350 Abs. 2 SGB III, § 18f Abs. 1 Satz 1 SGB IV, § 293 Abs. 1 Satz 2 SGB V, § 94 Abs. 1a SGB X und § 6 Abs. 2 Nr. 1 des Gesetzes über den Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen für Entgeltfortzahlung (vgl. Jahnke, Unfalltod und Schadensersatz, 2. Aufl., § 2 Rn. 789 mit weiteren Beispielen).
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3. Da der Gesetzgeber dem § 110 Abs. 1 SGB VII keine Norm beigefügt hat, die entsprechend § 116 Abs. 10 SGB X die Bundesagentur für Arbeit den Sozialversicherungsträgern gleichstellt, kommt eine Gleichstellung im Rahmen des § 110 SGB VII nicht in Betracht. Insbesondere scheidet entgegen der Ansicht der Revision eine analoge Anwendung des § 116 Abs. 10 SGB X aus. Eine Analogie setzt voraus, dass das Gesetz eine Regelungslücke enthält und der zu beurteilende Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht so weit mit dem Tatbestand vergleichbar ist, den der Gesetzgeber geregelt hat, dass angenommen werden kann, der Gesetzgeber wäre bei einer Interessenabwägung, bei der er sich von den gleichen Grundsätzen hätte leiten lassen wie bei dem Erlass der herangezogenen Gesetzesvorschrift, zu dem gleichen Abwägungsergebnis gekommen. Die Unvollständigkeit des Gesetzes muss "planwidrig" sein (Senatsurteil vom 1. Juli 2014 - VI ZR 345/13, BGHZ 201, 380 Rn. 13 mwN). Von einer - gar planwidrigen - Regelungslücke kann nicht ausgegangen werden, da der Begriff des Sozialversicherungsträgers schon im Rahmen von § 640 RVO eng ausgelegt wurde und keine Anhaltspunkte dafür gegeben sind, dass der Gesetzgeber bei der Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch daran etwas ändern wollte.
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