Beschluss vom Bundessozialgericht (6. Senat) - B 6 KA 19/12 B

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 1. Februar 2012 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 152 981 Euro festgesetzt.

Gründe

1

I. Die Klägerin wendet sich gegen die Entziehung der Zulassung als Vertragsärztin.

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Sie ist seit 1992 zur vertragsärztlichen Versorgung in N zugelassen. Die zu 1. beigeladene Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) führte bezüglich der Quartale II/2003 bis II/2004 eine Plausibilitätsprüfung durch, da die Klägerin die Quartalsarbeitszeit überschritt; das Verfahren endete mit einer Vereinbarung, in der sich die Klägerin zur Rückzahlung von 74 571,73 Euro verpflichtete. In einem anschließenden Disziplinarverfahren wurde gegen die Klägerin wegen Verletzung vertragsärztlicher Pflichten eine Geldbuße in Höhe von 5000 Euro verhängt. In einem weiteren Prüfverfahren wurde festgestellt, dass die Klägerin in den Quartalen III/2002 bis IV/2003 Leistungen für 19 bereits verstorbene Patienten abgerechnet hatte; die Klägerin verpflichtete sich insoweit vergleichsweise zur Rückzahlung eines Betrages von 1047,02 Euro.

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Nach einer Strafanzeige der Beigeladenen zu 2. wegen Doppelabrechnung von Leistungen im ambulanten wie im stationären Bereich sowie der Abrechnung von Leistungen für bereits verstorbene Patienten wurde die Klägerin mit (rechtskräftigem) Strafbefehl vom 14.9.2009 wegen Betruges in 15 Fällen im Zeitraum Dezember 2003 bis März 2007 zu einer Gesamtgeldstrafe von 120 Tagessätzen à 30 Euro verurteilt. Auf Antrag der Beigeladenen zu 1. entzog der Zulassungsausschuss der Klägerin die Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung. Der beklagte Berufungsausschuss bestätigte diese Entscheidung mit der Begründung, bereits der mit rechtskräftigem Strafbefehl festgestellte Betrug zu Lasten der Krankenkassen und der KÄV stelle für sich genommen einen schwerwiegenden Verstoß gegen die vertragsärztlichen Pflichten dar (Bescheid vom 26.1.2011).

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Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Urteil des SG vom 5.5.2011, Urteil des LSG vom 1.2.2012). Das LSG hat ausgeführt, es stehe zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin ihre vertragsärztlichen Pflichten grob verletzt habe; dabei lege er die Feststellungen des Strafbefehls zu Grunde. Aufgrund des Strafbefehls sei nachgewiesen, dass die Klägerin über 15 Quartale mit Betrugsvorsatz gegen die Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung verstoßen habe. Daneben zeige auch der Umstand, dass das vorangegangene Disziplinarverfahren, mit dem ebenfalls ein Verstoß gegen die Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung geahndet worden sei, ohne Konsequenzen geblieben sei, dass die Klägerin die Basis für das Vertrauen in die Rechtmäßigkeit ihrer Abrechnung nachhaltig zerstört habe. Ungeachtet der Beteuerungen der Klägerin könne eine Verhaltensänderung nicht festgestellt werden. Ein "Wohlverhalten" sei angesichts der kurzen Zeitspanne seit der Entscheidung des Beklagten ausgeschlossen.

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Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil macht die Klägerin die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 SGG) sowie Verfahrensmängel (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG) geltend.

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II. Die Beschwerde der Klägerin hat keinen Erfolg.

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1. Soweit die Klägerin die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend macht, kann dahingestellt bleiben, ob ihre Beschwerde den aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Darlegungsanforderungen entspricht, denn jedenfalls ist sie unbegründet. Die Revisionszulassung setzt eine Rechtsfrage voraus, die in dem angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl BVerfG , SozR 3-1500 § 160a Nr 7 S 14; s auch BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 19 S 34 f; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 30 S 57 f mwN). Die Klärungsbedürftigkeit fehlt, falls die Rechtsfrage schon beantwortet ist, ebenso dann, wenn Rechtsprechung zu dieser Konstellation zwar noch nicht vorliegt, sich aber die Antwort auf die Rechtsfrage ohne Weiteres ergibt (zur Verneinung der Klärungsbedürftigkeit im Falle klarer Antwort s zB BSG SozR 3-1500 § 146 Nr 2 S 6; BSG SozR 3-2500 § 75 Nr 8 S 34; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; vgl auch BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f), und schließlich auch dann, wenn kein vernünftiger Zweifel an der Richtigkeit der vom LSG dazu gegebenen Auslegung bestehen kann, weil sich die Beantwortung bereits ohne Weiteres aus der streitigen Norm selbst ergibt (vgl hierzu BSG, Beschluss vom 2.4.2003 - B 6 KA 83/02 B - juris RdNr 4).

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Die - von der Klägerin erstmals im Beschwerdeverfahren aufgeworfenen - Fragen,

        

"ob bei der Annahme einer gröblichen Verletzung der vertragsärztlichen Pflicht gemäß § 95 Abs 6 Satz 1 SGB V die Prüfung durch das Gericht vorzunehmen ist, ob neben der vollständigen Entziehung auch eine hälftige Entziehung in Betracht kommt", bzw

        

"ob bei Pflichtverstößen, die einen strafrechtlichen Hintergrund haben, ausschließlich und zwingend eine vollständige Entziehung der Zulassung erfolgen muss oder ob aufgrund der Art, des Umfangs, des Zeitraums und des Umstandes, wie lange der Pflichtverstoß vor der Rüge desselben stattfand, zu prüfen ist, ob auch eine hälftige Entziehung in Betracht kommt",

sind nicht klärungsbedürftig, weil ihre Beantwortung auf der Hand Fällen einer Zulassungsentziehung wegen gröblicher Pflichtverletzungen nur dann in Betracht kommt, wenn der Arzt lediglich einen halben Versorgungsauftrag hat.

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Es wäre geradezu widersinnig, bei Fallgestaltungen, die das Vorliegen einer so schwerwiegenden Pflichtverletzung voraussetzen, dass ihretwegen die Entziehung der vertragsärztlichen Zulassung zur Sicherung der vertragsärztlichen Versorgung notwendig ist (vgl BSGE 93, 269 = SozR 4-2500 § 95 Nr 9, RdNr 10 mwN; zuletzt BSG SozR 4-5520 § 21 Nr 1 RdNr 13), auch nur die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass die vertragsärztliche Tätigkeit jedenfalls "zur Hälfte" fortgesetzt werden könnte. Nach der Rechtsprechung des BVerfG wie auch des BSG ist eine Zulassungsentziehung dann notwendig, wenn die gesetzliche Ordnung der vertragsärztlichen Versorgung durch das Verhalten des Arztes in erheblichem Maße verletzt wird und das Vertrauensverhältnis zu den vertragsärztlichen Institutionen tiefgreifend und nachhaltig gestört ist, sodass ihnen eine weitere Zusammenarbeit mit dem Vertrags(zahn)arzt nicht mehr zugemutet werden kann (stRspr des BSG, vgl BSGE 93, 269 = SozR 4-2500 § 95 Nr 9, RdNr 10 mwN; zuletzt BSG, Urteil vom 21.3.2012 - B 6 KA 22/11 R RdNr 23, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen; vgl auch BVerfGE 69, 233, 244 = SozR 2200 § 368a Nr 12 S 30). Es sind keine Fallgestaltungen denkbar, die die Annahme eines nur zeitanteilig - etwa nur in den Vormittags- oder den Nachmittagsstunden - gestörten Vertrauensverhältnisses ermöglichen. Dies gilt umso mehr in Fallgestaltungen, in denen - wie vorliegend - das Vertrauensverhältnis durch betrügerische Abrechnungen gestört ist. Die Zerstörung des Vertrauensverhältnisses besteht unabhängig davon, in welchem zeitlichen Umfang der Arzt tätig wird bzw wie viele Patienten er behandelt.

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Mithin kommt - jedenfalls bei Zulassungsentziehungen wegen gröblicher Pflichtverletzungen - eine Anwendung des § 95 Abs 6 Satz 2 SGB V nur dann in Betracht, wenn der betroffene Arzt lediglich über einen hälftigen Versorgungsauftrag verfügt, mithin auch nur ein hälftiger Versorgungsauftrag entzogen werden kann. Die durch das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz (VÄndG) vom 22.12.2006 (BGBl I 3439) mit Wirkung zum 1.1.2007 eingefügte Regelung korrespondiert ohnehin mit dem zeitgleich neu gefassten § 95 Abs 3 Satz 1 SGB V (vgl BGBl I aaO 3441). Danach bewirkt die Zulassung ua, dass der Vertragsarzt zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung "im Umfang seines aus der Zulassung folgenden zeitlich vollen oder hälftigen Versorgungsauftrags" berechtigt und verpflichtet ist. Jedenfalls für Zulassungsentziehungen wegen gröblicher Pflichtverletzungen liegt es auf der Hand, dass die den Zulassungsgremien durch die Gesetzesänderung ermöglichte "hälftige" Entziehung der Zulassung allein dem Umstand Rechnung tragen soll, dass durch die Rechtsänderung zeitgleich die Möglichkeit eröffnet wurde, Ärzte mit lediglich hälftigem Versorgungsauftrag zuzulassen. Ob in den verbleibenden Tatbestandsvarianten - der Zulassungsentziehung wegen Nichtvorliegens bzw Wegfalls der Zulassungsvoraussetzungen bzw wegen Nichtausübung der vertragsärztlichen Tätigkeit - Fallgestaltungen denkbar sind, in denen trotz Bestehens eines vollen Versorgungsauftrags eine Entziehung lediglich der hälftigen Zulassung in Betracht kommt, bedarf hier keiner Entscheidung.

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Die Auffassung, dass eine hälftige Zulassungsentziehung auch in Fällen in Erwägung zu ziehen ist, in denen gröbliche Pflichtverletzungen in Rede stehen, wird - soweit ersichtlich - weder in der Instanzrechtsprechung noch in der Literatur vertreten (eine Anwendung auf Fälle gröblicher Pflichtverletzungen vielmehr ausdrücklich verneinend etwa LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23.2.2011 - L 7 KA 62/10 - juris RdNr 120, unter Hinweis auf Hess in Kasseler Kommentar, § 95 SGB V RdNr 106 und Bäune/Meschke/Rothfuß, Zulassungsverordnung für Vertragsärzte und Vertragszahnärzte, 2008, § 27 Ärzte-ZV RdNr 30; für eine Beschränkung auf hälftige Versorgungsaufträge Pawlita in jurisPK-SGB V, 2. Aufl 2012, § 95 RdNr 610).

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2. Die Rüge, das Berufungsgericht habe verfahrensfehlerhaft entschieden, ist unzulässig. Wer die Zulassung der Revision wegen eines Verfahrensmangels begehrt, muss gemäß § 160a Abs 2 Satz 3 SGG in der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde die bundesrechtliche Verfahrensnorm, die das Berufungsgericht verletzt haben soll, hinreichend genau bezeichnen. Zudem müssen die tatsächlichen Umstände, welche den Verstoß begründen sollen, substantiiert dargestellt und es muss - sofern nicht ein absoluter Revisionsgrund iS von § 547 ZPO geltend gemacht wird - darüber hinaus dargelegt werden, inwiefern die angefochtene Entscheidung auf diesem Verfahrensmangel beruhen kann (vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 4 mwN; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 6. Aufl 2011, Kapitel IX RdNr 202 ff).

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Soweit die Klägerin vorträgt, das Berufungsgericht habe als Grundlage für seine Entscheidung ausschließlich den Strafbefehl eines Amtsgerichts herangezogen und sich nicht mit ihren Einlassungen im Widerspruchsverfahren und im erstinstanzlichen Verfahren auseinandergesetzt, fehlt es bereits an der Angabe der Verfahrensnorm, die das Berufungsgericht verletzt haben soll. Zudem wären Darlegungen dazu erforderlich gewesen, inwiefern die Entscheidung auf diesem - unterstellten - Verfahrensmangel beruhen kann, also - ungeachtet der rechtskräftigen Verurteilung wegen Abrechnungsbetruges - aufgrund der Einlassungen der Klägerin eine andere Entscheidung in Betracht gekommen wäre.

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Nichts anderes gilt zunächst, soweit die Klägerin vorträgt, das Berufungsgericht sei rechtsfehlerhaft und wider den Tatsachen davon ausgegangen, dass "vorangegangene" Verstöße bezüglich der Pflicht zur peinlich genauen Leistungsabrechnung zu Disziplinarmaßnahmen geführt hätten und dass sie - die Klägerin - nach dem Disziplinarverfahren erneut Pflichtverstöße begangen habe. Hinzu kommt, dass dieses Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht, denn ausweislich der Feststellungen des Strafgerichts ist es sehr wohl nach Durchführung des (nach Aktenlage mit Bescheid vom 11.1.2006 beendeten) Disziplinarverfahrens zu weiteren Pflichtverstößen gekommen, nämlich bis in das Quartal 1/2007 hinein.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm §§ 154 ff VwGO. Als unterlegene Beteiligte hat die Klägerin auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen (§ 154 Abs 2 VwGO). Dies gilt nicht für die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, da diese im Beschwerdeverfahren keinen Antrag gestellt haben (§ 162 Abs 3 VwGO, vgl BSGE 96, 257 = SozR 4-1300 § 63 Nr 3, RdNr 16).

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Die Festsetzung des Streitwerts entspricht den Festsetzungen der Vorinstanz vom 1.2.2012, die von keinem der Beteiligten in Frage gestellt worden ist (§ 197a Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 52 Abs 1, § 47 Abs 1 und 3 Gerichtskostengesetz).

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