Urteil vom Bundessozialgericht (12. Senat) - B 12 R 6/14 R

Tenor

Auf die Revisionen der Beklagten und der Beigeladenen werden die Urteile des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 10. April 2014 und des Sozialgerichts Berlin vom 16. August 2011 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind in allen Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand

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Die Beteiligten streiten im Zusammenhang mit der Nachforderung rückständiger Krankenversicherungsbeiträge ua darüber, ob der beklagte Rentenversicherungsträger isolierte Feststellungen zum Beitragstatbestand treffen durfte, ohne zugleich über die Einbehaltung der Beiträge aus der Rente zu entscheiden.

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Der 1954 geborene Kläger bezieht seit 1.11.1998 von der Beklagten eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Von Juni 2005 bis März 2011 hatte er seinen Wohnsitz in der Türkei. Die beigeladene Krankenkasse führte ihn seit 1969 durchgehend als versicherungspflichtiges Mitglied. Seit 1.11.2006 hatte er als deutscher Rentenbezieher in der Türkei nach Abkommensrecht Anspruch auf Sachleistungen für den Fall der Krankheit.

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Die Beigeladene meldete der Beklagten zunächst unzutreffend das Bestehen einer freiwilligen Krankenversicherung des Klägers. Die Beklagte berechnete daraufhin die Rente des Klägers ab Dezember 2000 neu, behielt seitdem Krankenversicherungsbeiträge nicht mehr ein und zahlte in der Vergangenheit bereits einbehaltene Krankenversicherungsbeiträge an ihn zurück. Im Jahr 2009 fiel der Beigeladenen auf, dass ihre ursprüngliche Meldung fehlerhaft und der Kläger seit 1.1.2001 in der Krankenversicherung als Rentner pflichtversichert war. Hierüber informiert berechnete die Beklagte mit "Rentenbescheid" vom 28.1.2010 die Erwerbsunfähigkeitsrente wegen Änderung des Krankenversicherungsverhältnisses rückwirkend neu; sie setzte den monatlichen Rentenzahlbetrag des Klägers nach Abzug des von ihm zu tragenden Anteils am Krankenversicherungsbeitrag für die Zeit ab 1.3.2010 in niedrigerer Höhe fest und stellte außerdem - unter Berücksichtigung bereits eingetretener Verjährung - für die Zeit vom 1.1.2006 bis 28.2.2010 eine Überzahlung in Höhe von 3546,48 Euro fest. In dem Bescheid heißt es ua:

        

"Die genannte Änderung führt dazu, dass die bisher von Ihnen nicht geleisteten Beiträge bzw Anteile an den Beiträgen für die Kranken-/Pflegeversicherung auch rückwirkend von der Rente einzubehalten sind.

Es ist vorgesehen, die Überzahlung aufgrund Ihrer rückständigen Beiträge bzw Beitragsanteile für die Kranken-/Pflegeversicherung aus der weiterhin an Sie zu zahlenden Rente einzubehalten."

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Der Kläger hat nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 14.4.2010) Klage erhoben mit dem Antrag, Bescheid und Widerspruchsbescheid der Beklagten aufzuheben, "soweit eine Überzahlung in Höhe von 3.546,48 Euro festgestellt worden ist". Das SG hat der Anfechtungsklage antragsgemäß stattgegeben (Urteil vom 16.8.2011). Das LSG hat die Berufung der Beigeladenen zurückgewiesen und den Tenor des SG dahingehend neu gefasst, die angefochtenen Bescheide würden aufgehoben, "soweit darin festgestellt ist, dass der Kläger für die Zeit vom 1. Januar 2006 bis zum 28. Februar 2010 Krankenversicherungsbeiträge in Höhe von 3.546,48 Euro schuldet". Wie die Auslegung der angefochtenen Bescheide ergebe, stritten die Beteiligten nicht um die Überzahlung einer unzutreffend zu hoch berechneten Rente, sondern um die Feststellung einer verbliebenen Beitragsschuld des Klägers zur gesetzlichen Krankenversicherung; die Bescheide verfügten ausdrücklich (noch) keine rückwirkende Einbehaltung der Krankenversicherungsbeiträge. Zwar habe die von der Beklagten festgestellte Beitragsschuld jedenfalls ab 1.11.2006 - dem Zeitpunkt, ab dem der Kläger in der Türkei Sachleistungen für den Krankheitsfall habe erhalten können - materiell-rechtlich bestanden. Insbesondere sei der Anspruch der Beigeladenen auf die rückständigen Krankenversicherungsbeiträge nicht - wie das SG meine - verwirkt. Die Bescheide der Beklagten seien jedoch (teil)rechtswidrig, weil ihr die Befugnis gefehlt habe, durch feststellenden Verwaltungsakt über die Beitragsschuld zur Krankenversicherung zu befinden. Weil eine solche Feststellung nur durch den Sozialversicherungsträger erfolgen dürfe, der Inhaber der Beitragsforderung sei, sei bei Abweichung hiervon eine ausdrückliche gesetzliche Regelung nötig. § 255 Abs 2 S 1 SGB V biete eine solche Rechtsgrundlage nicht (Urteil vom 10.4.2014).

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Die Beigeladene und die Beklagte haben die vom LSG zugelassene Revision eingelegt; sie rügen eine Verletzung von § 255 SGB V. Nach Ansicht der Beigeladenen ist von der in § 255 Abs 1 und 2 SGB V explizit geregelten Einbehaltungsbefugnis auch umfasst festzustellen, in welcher Höhe die Rente der Beitragspflicht unterliegt, und die Krankenversicherungsbeiträge zu berechnen (Hinweis auf BSG Urteil vom 23.5.1989 - 12 RK 23/88). Die Beklagte meint, bereits aus der bisherigen Rechtsprechung des BSG ergebe sich, dass der Rentenversicherungsträger die Beitragsschuld zur gesetzlichen Krankenversicherung isoliert feststellen dürfe (Hinweis auf BSGE 97, 292 = SozR 4-3300 § 59 Nr 1). Auch ermächtige § 255 Abs 2 S 1 SGB V diesen gerade, zunächst (rückwirkend) nur über die Beitragsschuld zu entscheiden. Eine Feststellung zur Beitragspflicht und -höhe zusammen mit der Beitragseinbehaltung sei außerdem praktisch gar nicht möglich. Dem stünden Besonderheiten der nachträglichen Beitragseinbehaltung entgegen, insbesondere die Notwendigkeit, vor der Einbehaltung in eine Prüfung der (Sozial)Hilfebedürftigkeit des Rentners einzutreten.

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Die Beklagte und die Beigeladene beantragen,
die Urteile des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 10. April 2014 und des Sozialgerichts Berlin vom 16. August 2011 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

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Der Kläger beantragt,
die Revisionen der Beklagten und der Beigeladenen zurückzuweisen.

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Er verteidigt das angefochtene Urteil.

Entscheidungsgründe

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Die Revisionen der Beklagten und der Beigeladenen haben Erfolg.

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Die Urteile des LSG und des SG waren aufzuheben. Die gegen den Bescheid der Beklagten vom 28.1.2010 und ihren Widerspruchsbescheid vom 14.4.2010 in eingeschränktem Umfang erhobene Anfechtungsklage musste abgewiesen werden. Die angefochtenen Bescheide waren insoweit rechtmäßig.

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1. Der erkennende Senat ist für die Entscheidung über die Revisionen zuständig. Wird - wie im vorliegenden Rechtsstreit - eine Entscheidung des Rentenversicherungsträgers über den Tatbestand aus der Rente zu bemessender Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung angegriffen, hat nach der Geschäftsverteilung des BSG der 12. Senat zu entscheiden. Der Prozess wird dadurch nicht zu einer Streitigkeit im Leistungsrecht der Rentenversicherung. Bei solchen oder ähnlichen Sachverhalten hat der Senat bereits in der Vergangenheit seine Zuständigkeit angenommen (BSGE 97, 292 = SozR 4-3300 § 59 Nr 1, RdNr 10; BSG SozR 3-2500 § 247 Nr 2 S 4; BSG SozR 2200 § 393a Nr 3).

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2. Die Revisionen der Beklagten und der Beigeladenen sind zulässig erhoben. Die Revisionsbegründungen entsprechen den Anforderungen des § 164 Abs 2 SGG.

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Der 5. Senat des BSG hat seine Auffassung zu den Anforderungen an eine hinreichende Revisionsbegründung mit Beschlüssen vom 6.10.2016 (B 5 SF 3/16 AR und B 5 SF 4/16 AR - Juris) und 23.2.2017 (B 5 SF 5/16 AR) klargestellt. Diese deckt sich mit derjenigen des erkennenden Senats, so dass eine Vorlage an den Großen Senat des BSG nach § 41 SGG entbehrlich war (vgl hierzu im Einzelnen Urteil des Senats vom heutigen Tag - B 12 KR 16/14 R, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen). Den gemeinsamen Anforderungen werden die Revisionsbegründungen gerecht.

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3. Gegenstand des Rechtsstreits sind der "Rentenbescheid" der Beklagten vom 28.1.2010 und ihr Widerspruchsbescheid vom 14.4.2010 nur insoweit, als darin für die Zeit vom 1.1.2006 bis 28.2.2010 eine Überzahlung aufgrund rückständiger Beitragsanteile des Klägers zur Krankenversicherung in Höhe von insgesamt 3546,48 Euro festgestellt wird. Vom Kläger nicht angegriffen werden demgegenüber die in dem Bescheid vom 28.1.2010 ebenfalls enthaltene Neufestsetzung des Rentenzahlbetrags (nach Abzug seines Anteils am Krankenversicherungsbeitrag) ab 1.3.2010 und die Feststellung der Beklagten, dass er seit 1.1.2001 als Rentner nach § 5 Abs 1 Nr 11 SGB V krankenversicherungspflichtig ist.

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Nach zutreffender Auslegung der Bescheide durch das LSG enthalten diese insoweit noch nicht die Einbehaltung rückständiger Beiträge selbst, vielmehr stellen sie im Verwaltungsverfahren über die Einbehaltung rückständiger Beiträge bei versicherungspflichtigen Rentnern nach § 255 Abs 2 S 1 SGB V lediglich die Beitragspflicht der Rente des Klägers wegen Erwerbsunfähigkeit zur gesetzlichen Krankenversicherung, die Beitragshöhe und die Beitragstragung verbindlich fest.

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4. Die Beklagte hat diese Feststellung zu Recht getroffen. Der Kläger war als versicherungspflichtiger Rentner (materiell-rechtlich) zur Entrichtung von Krankenversicherungsbeiträgen aus seiner Rente verpflichtet. Die Beitragsnachforderung war weder insgesamt verwirkt (dazu a) noch bestand der Beitragsanspruch erst ab 1.11.2006 (dazu b). Die Beklagte war im Verwaltungsverfahren nach § 255 Abs 2 S 1 SGB V (dazu c) auch berechtigt, in Vorbereitung einer späteren Einbehaltung rückständiger Beitragsanteile aus der Rente durch feststellenden Verwaltungsakt zunächst (nur) über den Beitragstatbestand zu entscheiden (dazu d).

17

a) Die der Beitragsnachforderung in Höhe von insgesamt 3546,48 Euro für die Zeit vom 1.1.2006 bis 28.2.2010 zu Grunde liegenden Ansprüche auf Beiträge aus der beitragspflichtigen (§§ 228, 237 SGB V) Erwerbsunfähigkeitsrente waren fällig, nicht verjährt und zutreffend berechnet. Ihrer Geltendmachung stand auch nicht - wie das SG meint - das Rechtsinstitut der Verwirkung entgegen.

18

Das Rechtsinstitut der Verwirkung ist als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB) auch im Sozialversicherungsrecht anerkannt (vgl BSGE 7, 199, 200 f; 34, 211, 213 f; 41, 275, 278; 59, 87, 94 = SozR 2200 § 245 Nr 4 S 22 f; BSGE 80, 41, 43 = SozR 3-2200 § 1303 Nr 6 S 17 f); es ist insbesondere bei der Nachforderung von Beiträgen zur Sozialversicherung für zurückliegende Zeiten zu beachten (vgl BSGE 17, 173, 175 f; 21, 52, 53 ff = SozR Nr 5 zu § 1399 RVO Aa 7ff; BSGE 47, 194, 196 = SozR 2200 § 1399 Nr 11 S 15; BSGE 93, 119 = SozR 4-2400 § 22 Nr 2, RdNr 35; BSG SozR 4-2400 § 24 Nr 5 RdNr 30 f).

19

Die Verwirkung setzt als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraumes unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts nach Treu und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen lassen (BVerfGE 32, 305; BVerwGE 44, 339, 343; BFHE 129, 201, 202; BSGE 34, 211, 214; 35, 91, 94 f mwN). Solche, die Verwirkung auslösenden "besonderen Umstände" liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage) und der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) sowie sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (BSGE 47, 194, 196 = SozR 2200 § 1399 Nr 11 S 15 mwN; BSGE 80, 41, 43 = SozR 3-2200 § 1303 Nr 6 S 18; BVerwGE 44, 339, 343 f; zuletzt - zur Verwirkung prozessualer Befugnisse - BSGE 114, 69 = SozR 4-1500 § 66 Nr 4, RdNr 28).

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Für die Annahme eines Verwirkungsverhaltens gelten grundsätzlich strenge Anforderungen, weil dem Interesse des Beitragsschuldners, das Ausmaß der wirtschaftlichen Belastung durch Beitragsnachforderungen in angemessenen Grenzen zu halten, bereits durch die "kurze", vierjährige Verjährungsfrist gemäß § 25 Abs 1 S 1 SGB IV hinreichend Rechnung getragen wird (BSGE 92, 150 = SozR 4-2400 § 24 Nr 2, RdNr 19; BSGE 100, 215 = SozR 4-2400 § 25 Nr 2, RdNr 24 mwN; BSG SozR 4-2400 § 24 Nr 5 RdNr 33 mwN). Es muss ein konkretes Verhalten des Gläubigers vorliegen, welches bei dem Schuldner die berechtigte Erwartung erweckt, dass eine Forderung nicht besteht oder nicht (mehr) geltend gemacht wird (vgl BSGE 47, 194, 197 f = SozR 2200 § 1399 Nr 11 S 17; BSG SozR 4-2400 § 24 Nr 5 RdNr 33).

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Ein solches Verwirkungsverhalten der Beklagten als zur Einbehaltung der Krankenversicherungsbeiträge Verpflichteter und der Beigeladenen als Gläubigerin der Beiträge, das bei dem Kläger das berechtigte Vertrauen begründen konnte, es würden auch fortan keine Krankenversicherungsbeiträge erhoben, liegt hier nicht vor. Das bloße (rechtswidrige) Unterlassen der Einbehaltung durch die Beklagte erfüllt nach den aufgezeigten strengen Maßstäben die Anforderungen an ein Vertrauen begründendes Verwirkungsverhalten (noch) nicht. Wie das LSG zutreffend ausführt, durfte der Kläger das bloße "Nichtstun" der Beklagten auch in Ansehung seiner mehrmaligen Kontakte mit der Beklagten und der Beigeladenen (etwa aus Anlass der Ausstellung einer neuen Versichertenkarte im Juni 2004, der Übersendung des Meldevordrucks "R 810" im Juli 2004 usw) nicht als bewusst und planmäßig (vgl zu diesen Erfordernissen BSG SozR 4-2400 § 24 Nr 5 RdNr 34 f, unter Hinweis auf BSGE 45, 38, 48 = SozR 4100 § 40 Nr 17 S 55 und BSGE 47, 194, 198 = SozR 2200 § 1399 Nr 11 S 17) erachten und deshalb darauf vertrauen, nicht (mehr) zu Krankenversicherungsbeiträgen aus seiner Rente herangezogen zu werden.

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b) Entgegen der vom LSG vertretenen Auffassung bestand die Verpflichtung des Klägers zur Entrichtung von Krankenversicherungsbeiträgen auch (schon) in der Zeit vom 1.1. bis 30.10.2006.

23

Mit dem vom Berufungsgericht herangezogenen Urteil vom 4.6.1991 (BSGE 69, 20 = SozR 3-2200 § 381 Nr 2) hat der Senat für den Fall eines nach Spanien verzogenen Beziehers einer gesetzlichen Rente (im Ergebnis) entschieden, dass dieser bei rückwirkender Feststellung der "Mitgliedschaft in der KVdR" wegen der "Wechselbeziehung zwischen Beitragspflicht und Leistungsansprüchen" vor einer den Sachleistungsanspruch in Spanien auslösenden (sozialversicherungs)abkommensrechtlichen Einschreibung keinen Eigenanteil an den Krankenversicherungsbeiträgen aus der Rente zu entrichten habe und der Rentenversicherungsträger einen solchen auch nicht einbehalten dürfe. Die hier entwickelten Grundsätze sind auf die vorliegende Fallgestaltung nicht übertragbar. So hat der Senat die Bedeutung seiner Aussagen schon in dem Urteil (selbst) dahin eingeschränkt, dass sie nicht ohne Weiteres auf andere Sachverhalte anzuwenden seien, in denen das Bestehen einer Krankenversicherungspflicht zunächst unbekannt und unsicher gewesen sei (BSGE 69, 20, 24 f = SozR 3-2200 § 381 Nr 2 S 11). Darüber hinaus bestand - anders als in dem entschiedenen Fall - bei dem Kläger vor der abkommensrechtlichen Einschreibung zur Sachleistungsaushilfe in der Türkei am 1.11.2006 keine (von den Versicherungsträgern zu vertretende) Ungewissheit über das Bestehen der Krankenversicherungspflicht als Rentner und den hierdurch begründeten Versicherungsschutz. Denn der Kläger wurde von der Beigeladenen seit 1969 durchgehend als versicherungspflichtiges Mitglied geführt und verfügte dauernd über eine Versichertenkarte. Er hatte damit auch in der Zeit vom 1.1. bis 30.10.2006 - etwa bei (Rück)Verlegung seines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts nach Deutschland - jederzeit die Möglichkeit, schon vor der Einschreibung beim türkischen Sozialversicherungsträger Leistungen zu Lasten der Beigeladenen in Anspruch zu nehmen.

24

c) Die Beklagte durfte im Verwaltungsverfahren nach § 255 Abs 2 S 1 SGB V vor einer Entscheidung über die Einbehaltung rückständiger Krankenversicherungsbeiträge aus der Rente des Klägers auch (isolierte) Feststellungen über den Beitragstatbestand treffen.

25

Nach § 255 Abs 1 S 1 SGB V in der hier maßgebenden, im Wesentlichen unveränderten Fassung des Art 1 des Gesundheits-Reformgesetzes (GRG) vom 20.12.1988 (BGBl I 2477) sind Beiträge, die Versicherungspflichtige aus ihrer Rente zu tragen haben, … von den Trägern der Rentenversicherung bei der Zahlung der Rente einzubehalten und zusammen mit den von den Trägern der Rentenversicherung zu tragenden Beiträgen an die Deutsche Rentenversicherung Bund für die Krankenkassen mit Ausnahme der landwirtschaftlichen Krankenkassen zu zahlen. Die Vorschrift entspricht im Wesentlichen dem bis zum 31.12.1988 geltenden § 393a Abs 1 RVO. Sie regelt die Zahlung der Krankenversicherungsbeiträge von Versicherungspflichtigen (nicht allein von versicherungspflichtigen Rentnern) aus der Rente der (inländischen) gesetzlichen Rentenversicherung und stellt hierfür aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung (keine Belastung der Krankenkassen mit dem Beitragseinzug; vgl Gerlach in: Hauck/Noftz, SGB V, Stand April 2013, K § 255 RdNr 23; ferner Fischinger in: Berchtold/Huster/Rehborn, Komm zum Gesundheitsrecht , 1. Aufl 2015, § 255 SGB V RdNr 3) ein eigenes Verwaltungsverfahren zur Verfügung. § 255 Abs 1 S 1 SGB V bestimmt - abweichend von § 252 S 1 iVm § 249a SGB V - als Grundsatz, dass (auch) der von den Rentnern zu tragende Beitragsanteil nicht von diesen, sondern von den (rentengewährenden) Rentenversicherungsträgern zu zahlen und zuvor von der Rente einzubehalten ist. Insoweit findet ein "Quellenabzug" statt (vgl hierzu Peters in: Kasseler Komm, SGB V, Stand Oktober 2014, § 255 RdNr 2, 8; auch Mecke in: Becker/Kingreen, SGB V, 5. Aufl 2017, § 255 RdNr 1). Rechtstechnisch geschieht die Beitragszahlung danach in der Weise, dass der Träger der Rentenversicherung in einem ersten Schritt die Rente "gekürzt" um den von dem Versicherten zu tragenden Krankenversicherungsbeitrag auszahlt (Einbehaltung; vgl zu deren Rechtscharakter BSGE 97, 63 = SozR 4-2500 § 255 Nr 1: verkürzte Form der Verrechnung). Sodann zahlt er in einem zweiten Schritt den einbehaltenen Betrag - als eine Art Inkasso-Stelle für die Krankenkassen (vgl Mecke in: Becker/Kingreen, SGB V, 5. Aufl 2017, § 255 RdNr 2) - an die Deutsche Rentenversicherung Bund (zum Ganzen vgl Fischinger in: Berchtold/Huster/Rehborn, Komm zum Gesundheitsrecht , 1. Aufl 2015, § 255 SGB V RdNr 3).

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Ist bei der Zahlung der Rente die Einbehaltung von Krankenversicherungsbeiträgen nach § 255 Abs 1 S 1 SGB V unterblieben, verpflichtet (und berechtigt) § 255 Abs 2 S 1 1. Halbs SGB V in der oben genannten Fassung den Träger der Rentenversicherung, die rückständigen Beiträge aus der weiterhin zu zahlenden Rente einzubehalten; der Rentenbezieher muss diesen Abzug dulden. Jedoch darf er dadurch nach Maßgabe des § 255 Abs 2 S 1 2. Halbs SGB V iVm § 51 Abs 2 SGB I nicht hilfebedürftig iS der Vorschriften des SGB XII werden. An einer Beitragseinbehaltung kann es fehlen, wenn erst verspätet die Zugehörigkeit eines Rentenbezieher zur gesetzlichen Krankenversicherung festgestellt wird oder aus einem anderen Grund die ordnungsgemäße Einbehaltung der Krankenversicherungsbeiträge seitens des Rentenversicherungsträgers unterblieben ist (vgl die Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Strukturreform im Gesundheitswesen der Fraktionen der CDU/CSU und FDP vom 3.5.1988 zu § 264 Abs 2 SGB V, BT-Drucks 11/2237 S 227; zu weiteren Gründen siehe Gerlach in: Hauck/Noftz, SGB V, Stand April 2013, K § 255 RdNr 39 und Klose in: Jahn, SGB V, Stand September 2014, § 255 RdNr 14).

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d) Der Beklagten als zur Beitragseinbehaltung und zur Zahlung Verpflichteter stand aufgrund des § 255 Abs 2 S 1 1. Halbs SGB V in Vorbereitung einer späteren Einbehaltung rückständiger Beitragsanteile aus der Rente die Befugnis zu, in der Handlungsform des feststellenden Verwaltungsakts (zunächst) nur über die Beitragspflicht der Erwerbsunfähigkeitsrente des Klägers zur Krankenversicherung, die Beitragshöhe und die Beitragstragung zu befinden (wie hier LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 22.11.2012 - L 22 R 1117/10 - Juris RdNr 42; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 7.9.2011 - L 16 R 121/11 - Juris RdNr 16 f; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 16.12.2010 - L 7 R 2804/10 - Urteilsabdruck S 7 f; aA Schleswig-Holsteinisches LSG Urteil vom 15.12.1998 - L 1 Kr 10/98 - EzS 50/367, 1922). Dem Rentenversicherungsträger ist es im Zusammenhang mit der Beitragseinbehaltung allgemein gestattet, darüber durch Verwaltungsakt zu entscheiden (Verwaltungsaktsbefugnis; dazu aa). Dass außerdem eine Berechtigung des Rentenversicherungsträgers zu bloßer Feststellung des Beitragstatbestandes besteht, ergibt sich in Ansätzen schon aus der bisherigen Rechtsprechung des Senats (dazu bb). Sie folgt auch aus einer Auslegung der hier maßgebenden Bestimmung (dazu cc).

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aa) Der Beklagten war es von Gesetzes wegen erlaubt, über die Einbehaltung der vom Kläger zu tragenden Anteile seines Krankenversicherungsbeitrags aus der Rente in der öffentlich-rechtlichen Handlungsform des Verwaltungsakts zu befinden. Zwar fehlt es insoweit an einer ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung der Beklagten. Indessen wird eine solche in § 255 Abs 1 S 2 SGB V vorausgesetzt, der für den dort angesprochenen Sachverhalt die Erteilung eines besonderen "Bescheides" durch den Rentenversicherungsträger entbehrlich macht.

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bb) Mit Urteilen vom 29.11.2006 (BSGE 97, 292 = SozR 4-3300 § 59 Nr 1; parallel: B 12 RJ 2/05 R, B 12 R 5/06 R und B 12 R 8/06 R) und 18.7.2007 (BSGE 99, 19 = SozR 4-2500 § 241a Nr 1) hat der Senat für Sachverhalte nach § 255 Abs 1 S 1 SGB V entschieden, dass der Rentenversicherungsträger bei einer Einbehaltung der Krankenversicherungsbeiträge aus der Rente gleichzeitig für die Entscheidung über Beitragspflicht, Beitragshöhe und Beitragstragung sachlich zuständig ist, sofern nicht aufgrund von Sonderregelungen diese Aufgabe einem anderen Versicherungsträger übertragen ist (vgl BSGE 97, 292 = SozR 4-3300 § 59 Nr 1, RdNr 12; BSGE 99, 19 = SozR 4-2500 § 241a Nr 1, RdNr 13). Für einen Fall der Einbehaltung rückständiger Beiträge aus der weiterhin zu zahlenden Rente nach § 255 Abs 2 S 1 SGB V führte der Senat in seinem Urteil vom 18.12.2001 (SozR 3-2500 § 247 Nr 2) aus, § 255 Abs 1 und § 255 Abs 2 S 1 SGB V setzten voraus, dass der Rentenversicherungsträger über den in der Krankenversicherung anzuwendenden Beitragssatz als Vorfrage entscheiden darf, solange eine förmliche Entscheidung der Krankenkasse hierüber nicht vorliegt (BSG SozR 3-2500 § 247 Nr 2 S 4). Dass für den Rentenversicherungsträger parallel zum Einbehaltungsrecht auch eigene Entscheidungsrechte über den Beitragstatbestand (zB das Recht zur Feststellung der Beitragspflicht, zur Berechnung, zur Festsetzung der Beitragshöhe usw) bestehen, ist auch im Schrifttum überwiegend anerkannt (vgl Gerlach in: Hauck/Noftz, SGB V, Stand April 2013, K § 255 RdNr 26 ff; Dalichau, SGB V, Stand Dezember 2014, § 255 Anm I.1.; Klose in: Jahn, SGB V, Stand September 2014, § 255 RdNr 6 f; Böttiger in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, Stand Februar 2006, § 255 SGB V RdNr 5; Wasem in: Orlowski/Rau/Schermer/Wasem/Zipperer, SGB V, Stand Juli 2005, § 255 SGB V RdNr 4; aA lediglich Peters in: jurisPK-SGB V, 3. Aufl 2016, § 255 RdNr 36).

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Für die von der Beklagten und der Beigeladenen vertretene Rechtsauffassung können schließlich die Urteile des Senats vom 23.5.1989 zu der - dem § 255 Abs 2 S 1 SGB V entsprechenden - aus § 393a Abs 1 RVO hergeleiteten, früheren Rechtslage beim Unterbleiben einer Einbehaltung von Beiträgen aus der Rente herangezogen werden (BSG SozR 2200 § 393a Nr 3; BSG Urteil vom 23.5.1989 - 12 RK 23/88 - Juris). In den diesen Urteilen zu Grunde liegenden Fallgestaltungen hatte der Rentenversicherungsträger die "Beitragsschuld" des Rentners - nach Ermittlung des Unterschieds(betrags) zwischen geschuldeten Krankenversicherungsbeiträgen und zustehenden Beitragszuschüssen - lediglich festgestellt und den Ausgleich des Beitragsdefizits dem Rentner überlassen ("Tilgung" durch Überweisung in Raten) bzw den "Rückzahlungsmodus" (die Höhe der Einbehaltungsraten und deren Beginn) offengelassen. Der Senat hat hier inzident die "Berechtigung" des Rentenversicherungsträgers "zur späteren Geltendmachung" der Krankenversicherungsbeiträge als Vorfrage für (isoliert) feststellungsfähig erachtet.

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cc) Auch die Auslegung des § 255 Abs 2 S 1 SGB V ergibt, dass sich die Beklagte zunächst auf (bloße) Feststellungen über den Beitragstatbestand beschränken durfte und sie nicht - wie das LSG meint - in jedem Fall zugleich die Einbehaltung der Beiträge (durch Aufrechnung) verfügen musste. Die Vorschrift stellt in dieser Auslegung eine hinreichende Rechtsgrundlage dar, die dem Vorbehalt des Gesetzes (Art 20 Abs 3 GG) genügt. Letzterer verlangt als verfassungsrechtliches Prinzip gerade für feststellende Verwaltungsakte, die definitionsgemäß inhaltlich deklaratorisch sind, die bestehende Rechtslage also nur verbindlich feststellen, eine enge Anbindung an die gesetzliche Ermächtigung (vgl zu den für feststellende Verwaltungsakte insoweit bestehenden verfassungsrechtlichen Vorgaben BSG SozR 4-2600 § 2 Nr 6 RdNr 19).

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Der Terminus "Einbehaltung von Beiträgen" iS eines "Beitragseinzuges" schließt nach seinem (allgemeinen) Bedeutungsgehalt der Einbehaltung vorgelagerte (feststellende) Entscheidungen des Rentenversicherungsträgers nicht aus, weil der systematische Zusammenhang des § 255 Abs 2 S 1 1. Halbs SGB V mit § 255 Abs 1 S 1 und § 255 Abs 2 S 1 2. Halbs SGB V sowie Sinn und Zweck der Bestimmung gebieten, diese dahin zu interpretieren, dass der Rentenversicherungsträger berechtigt ist, vor der Einbehaltung rückständiger Krankenversicherungsbeiträge aus der Rente durch feststellenden Verwaltungsakt zunächst isoliert über den Beitragstatbestand zu entscheiden, um eine spätere Einbehaltung vorzubereiten.

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Zwar wird in diesen Vorschriften weder die verfahrensrechtliche Befugnis des Rentenversicherungsträgers geregelt, über Vorfragen der Einbehaltungsentscheidung zu befinden, noch treffen sie explizit eine Aussage zu dessen materiell-rechtlicher Befugnis, welche Umstände er in Vorbereitung einer späteren Einbehaltung als feststellungsfähig erachten darf. Indessen ist aus dem Umstand, dass der Rentenversicherungsträger in jedem Fall zur Einbehaltung von Krankenversicherungsbeiträgen aus der Rente (immer) nur dann in der Lage ist, wenn er "im Vorfeld" die Beitragspflicht der Rente, die Beitragshöhe und die Tragung der Beiträge durch den Rentner geprüft und hierüber (mit)entschieden hat, der Schluss zu ziehen, dass der Gesetzgeber ihn sowohl im Verwaltungsverfahren nach § 255 Abs 1 S 1 SGB V als auch in jenem nach § 255 Abs 2 S 1 SGB V auch zu einer (feststellenden) Entscheidung über diese Vorfragen ermächtigen wollte. Die Beklagte führt hierzu mit Recht aus, dass die eine "Handlungsweise" des Rentenversicherungsträgers stets (zwingend) die andere "Handlungsweise" des Trägers voraussetze und kein Grund dafür ersichtlich sei, warum eine Eignung des § 255 Abs 1 S 1 SGB V und des - hinsichtlich seiner Struktur vergleichbaren - § 255 Abs 2 S 1 SGB V, in notwendiger Vorbereitung einer noch vorzunehmenden Beitragseinbehaltung Feststellungen über den Beitragstatbestand zu treffen, nur dann angenommen werden dürfe, wenn der Rentenversicherungsträger zeitgleich über Höhe und Dauer der Einbehaltung entscheide; denn auch bei einer späteren Beitragseinbehaltung bedarf es einer vorgelagerten (eigenständigen) beitragsrechtlichen Orientierung des Rentenversicherungsträgers. Dass dieser im Verwaltungsverfahren nach § 255 Abs 2 S 1 SGB V vor seiner Entscheidung über die Einbehaltung rückständiger Krankenversicherungsbeiträge aus der Rente (isolierte) Feststellungen über den Beitragstatbestand treffen können muss, wird auch daraus deutlich, dass solche Feststellungen das in dieser Vorschrift geregelte Verwaltungsverfahren - und damit die Erreichung eines seiner Zwecke, die Beitragseinbehaltung sozial verträglich zu gestalten - praktisch erst ermöglichen. Wie bereits erörtert, darf der Rentenbezieher nach § 255 Abs 2 S 1 2. Halbs SGB V iVm § 51 Abs 2 SGB I durch die Einbehaltung nicht sozialhilfebedürftig im Sinne der Vorschriften des SGB XII werden. Die Beklagte weist in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hin, dass der Rentenversicherungsträger verwaltungspraktisch grundsätzlich erst in einem zweiten Schritt über die Beitragseinbehaltung befinden könne, nachdem er in einem ersten Schritt die "Beitragsschuld" des Rentners (bindend) festgestellt, diesen im Rahmen des § 24 SGB X zur Frage möglicherweise eintretender Hilfebedürftigkeit angehört und dessen Äußerung abgewartet habe.

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Nach alledem sind die Revisionen der Beklagten und der Beigeladenen begründet. Die Entscheidungen der Instanzgerichte mussten aufgehoben werden; die von dem Kläger erhobene Klage war abzuweisen.

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5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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