Stattgebender Kammerbeschluss vom Bundesverfassungsgericht (1. Senat 2. Kammer) - 1 BvR 2154/15

Tenor

1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 30. Juli 2015 - 12 U 69/15 (PKH) - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes und wird aufgehoben. Der Beschluss vom 19. August 2015 - 12 U 69/15 (PKH) - ist damit gegenstandslos. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Naumburg zurückverwiesen.

2. Damit erledigt sich zugleich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

3. Das Land Sachsen-Anhalt hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

I.

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Verletzung des Gebots der Rechtsschutzgleichheit (Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) durch einen die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für ein Berufungsverfahren ablehnenden Beschluss des Oberlandesgerichts.

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1. Vor Einleitung des Ausgangsverfahrens berühmte sich der dortige Beklagte (im Folgenden: Beklagter) eines Zurückbehaltungsrechts gegen den Beschwerdeführer wegen streitigen ausstehenden Werklohns für die Reparatur eines Leasing-Kraftfahrzeugs. Zur Abwendung des Zurückbehaltungsrechts beantragte der Beschwerdeführer beim örtlich zuständigen Amtsgericht die Hinterlegung eines Geldbetrags. Diesem Antrag sandte er ein Formblatt nach, in welchem er auf den streitigen Werklohn und die beabsichtigte Auslösung seines Fahrzeugs Bezug nahm. Als Empfangsberechtigten gab er im Formblatt neben dem Beklagten sich selbst an. Unter der Rubrik "Falls zur Befreiung der Schuldnerin/des Schuldners von seiner Verbindlichkeit hinterlegt wird" hatte die zuständige Rechtspflegerin des Hinterlegungsgerichts unter dem Unterpunkt "Angabe, ob auf das Recht auf Rücknahme verzichtet wird" nach telefonischer Rücksprache mit dem Bevollmächtigten des Beschwerdeführers handschriftlich eingetragen, dass auf das Recht der Rücknahme nicht verzichtet werde. Nach der erfolgten Hinterlegung erwirkte der Beschwerdeführer die Herausgabe des Fahrzeugs und gab zugunsten des Beklagten einen Teilbetrag aus dem hinterlegten Geld durch Erklärung gegenüber der Hinterlegungsstelle frei.

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2. Im Ausgangsverfahren vor dem Landgericht stritten die Parteien schließlich darüber, ob dem Beschwerdeführer gegen den Beklagten ein Anspruch auf Einwilligung zur Auszahlung gegenüber der Hinterlegungsstelle hinsichtlich des verbleibenden Teilbetrags zusteht. Das Landgericht wies die Klage ab, da der Klage das Rechtsschutzbedürfnis fehle. Der Beschwerdeführer habe den hinterlegten Betrag auch ohne Zustimmung durch den Beklagten von der Hinterlegungsstelle herausverlangen können. Durch seine Erklärung, auf das Rücknahmerecht nicht zu verzichten, habe er deutlich gemacht, dass die Folgen einer Hinterlegung nach §§ 232 ff. BGB nicht eintreten sollten. Der einzig denkbare Sinn einer solchen Erklärung bestehe darin, dass es dem Hinterlegenden die Möglichkeit eröffne, gemäß § 376 Abs. 1 BGB sein Rücknahmerecht auszuüben, nämlich den Widerruf gegenüber der Hinterlegungsstelle zu erklären.

4

Bezüglich dieser Entscheidung beantragte der Beschwerdeführer beim Oberlandesgericht die Gewährung von Prozesskostenhilfe für ein beabsichtigtes Berufungsverfahren. In diesem Antrag teilte er zugleich mit, dass zeitlich nach Erlass des landgerichtlichen Urteils die Hinterlegungsstelle den restlichen Betrag an ihn ausgekehrt habe. Zugleich wies der Beschwerdeführer darauf hin, dass ein Rechtsschutzinteresse deshalb weiterhin bestehe, weil im Hinblick auf § 240 BGB ein etwaiges Recht des Beklagten auf Wiederauffüllung der Sicherheit bestehen könnte. Hilfsweise kündigte er den Antrag an, die Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache festzustellen.

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Das Oberlandesgericht wies den Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für die beabsichtigte Berufung gegen das Urteil des Landgerichts zurück. Es führte aus, die beabsichtigte Berufung des Beschwerdeführers biete keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Aus den zutreffenden Gründen der landgerichtlichen Entscheidung habe kein Rechtsschutzbedürfnis bestanden. Der Beschwerdeführer hätte den von ihm hinterlegten Geldbetrag durch bloße Erklärung gegenüber der Hinterlegungsstelle nach § 376 Abs. 1 BGB herausverlangen können.

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Eine dagegen gerichtete Anhörungsrüge des Beschwerdeführers blieb ohne Erfolg.

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3. Der Beschwerdeführer rügt mit seiner Verfassungsbeschwerde unter anderem, durch die Versagung der Prozesskostenhilfe durch das Oberlandesgericht in seinem Grundrecht der Rechtsschutzgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt zu sein. Die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung seien überspannt worden. Das Oberlandgericht habe verkannt, dass das Rücknahmerecht gemäß § 376 BGB nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und der einhelligen Literatur lediglich auf die Hinterlegung zur Erfüllung nach §§ 372 ff. BGB Anwendung finde, nicht hingegen auf die hier vorliegende Hinterlegung zur Sicherheitsleistung nach §§ 232 ff. BGB. Zudem sei nicht ersichtlich, dass für eine wirksame Hinterlegung nach §§ 232 ff. BGB auf das Recht zur Rücknahme verzichtet werden müsse.

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4. Zu der Verfassungsbeschwerde hatten das Ministerium für Justiz und Gleichstellung des Landes Sachsen-Anhalt und der Beklagte Gelegenheit zur Äußerung. Die Akte des Ausgangsverfahrens hat der Kammer vorgelegen.

II.

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Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist danach offensichtlich begründet.

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Der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 30. Juli 2015 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Rechtsschutzgleichheit (Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG).

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1. Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll allerdings nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen (vgl. BVerfGE 81, 347 <356 f.>; stRspr). Es läuft dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit zuwider, wenn ein Fachgericht § 114 Satz 1 ZPO dahin auslegt, dass es eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage - obwohl dies erheblichen Zweifeln begegnet - als einfach oder geklärt ansieht und sie deswegen bereits im Verfahren der Prozesskostenhilfe zum Nachteil des Unbemittelten beantwortet (vgl. BVerfGE 81, 347 <359 f.>). Entsprechendes gilt, wenn das Fachgericht bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage von der Auffassung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und der herrschenden Meinung in der Literatur abweicht (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. November 2011 - 1 BvR 1403/09 -, juris, Rn. 34 m.w.N.).

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2. Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtsschutzgleichheit wird der angegriffene Beschluss nicht gerecht.

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a) Der Beschwerdeführer kann sich für seine Klage dann auf ein Rechtsschutzbedürfnis stützen, wenn er gegenüber der Hinterlegungsstelle die Herausgabe des hinterlegten Geldbetrags nur mittels einer rechtskräftigen Entscheidung gegen den als empfangsberechtigt angegebenen Beklagten hätte durchsetzen können (vgl. § 8 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 22 Abs. 3 Nr. 2 Hinterlegungsgesetz des Landes Sachsen-Anhalt). Das Oberlandesgericht hat ein solches Rechtsschutzbedürfnis verneint, weil der Beschwerdeführer im Formular auf das Recht zur Rücknahme nicht verzichtet habe. Er könne daher gemäß § 376 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 1 BGB die Herausgabe des hinterlegten Geldbetrags ohne Zustimmung des Beklagten und damit auch ohne rechtskräftige Entscheidung verlangen.

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b) Diese Rechtsauffassung steht jedoch weder mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, Urteil vom 10. Dezember 2004 - V ZR 340/03 -, NJW-RR 2005, S. 712 <714>; vgl. auch BGH, Urteil vom 15. März 2012 - IX ZR 35/11 -, NJW 2012, S. 1717 <1718>) noch der einhelligen Auffassung in der Literatur (vgl. Buck-Heeb, in: Erman, BGB, 14. Aufl. 2014, Vor § 372 Rn. 2; Dennhardt, in: Bamberger/Roth, BGB, 3. Aufl. 2012, § 372 Rn. 2; Fetzer, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2016, § 372 Rn. 23; Grüneberg, in: Palandt, BGB, 75. Aufl. 2016, Einf v § 372 Rn. 3; Olzen, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2016, Vorbem zu §§ 372 ff Rn. 6; Stürner, in: Jauernig, BGB, 16. Aufl. 2015, Vor § 372 Rn. 2) im Einklang.

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Danach ist die Vorschrift des § 376 BGB allein auf die sogenannte Hinterlegung zur Erfüllung (§ 372 ff. BGB) anwendbar. Auf die hier nach § 273 Abs. 3 Satz 1 BGB erfolgte Hinterlegung zur Sicherheitsleistung (§§ 232 ff. BGB) kann diese Regelung weder direkt noch analog übertragen werden. Bei der Hinterlegung zur Sicherheitsleistung erwirbt der Schuldner einen Rückforderungsanspruch gegenüber der Hinterlegungsstelle, zugleich erwirbt der Gläubiger ein gesetzliches Pfandrecht an diesem Rückforderungsanspruch (vgl. Grothe, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2015, § 233 Rn. 1). Es entsteht somit bereits mit Hinterlegung eine dingliche Rechtsposition des Gläubigers, die es rechtfertigt, an die Hinterlegung zur Sicherheitsleistung andere Anforderungen zu stellen (vgl. BGH, Urteil vom 10. Dezember 2004 - V ZR 340/03 -, a.a.O.).

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Demgemäß hätte die Regelung des § 376 Abs. 1 BGB nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und der einhelligen Auffassung in der Literatur hier keine Anwendung finden dürfen. Indem das Oberlandesgericht gleichwohl - zumal ohne weitere Begründung - von einer Anwendbarkeit der Vorschrift ausgegangen ist, hat es eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage entgegen der einhellig vertretenen Auffassung im Prozesskostenhilfeprüfungsverfahren zulasten des Beschwerdeführers entschieden. Es hat damit dem Beschwerdeführer den chancengleichen Zugang zum gesetzlich vorgesehenen Weg der Klärung - dem Berufungsverfahren - verwehrt.

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3. Der Beschluss vom 30. Juli 2015 beruht auf diesem Verfassungsverstoß. Er erweist sich nicht deshalb im Ergebnis als richtig, weil die Hinterlegungsstelle den hinterlegten Betrag nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils an den Beschwerdeführer ausgekehrt hat. Der Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren steht dieser Umstand jedenfalls nicht generell entgegen.

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Zwar ist sehr zweifelhaft, ob ein Rechtsschutzbedürfnis an einer gerichtlichen Entscheidung deshalb fortbesteht, weil der Beklagte gemäß § 240 BGB Auffüllung der Sicherheit verlangen könnte. Jedenfalls aber hat der Beschwerdeführer mit seinem Prozesskostenhilfegesuch hilfsweise den Antrag angekündigt, die Erledigung der Hauptsache festzustellen. Es erscheint damit nicht ausgeschlossen, dass Prozesskostenhilfe zumindest für den Hilfsantrag zu bewilligen sein wird (vgl. Lackmann, in: Musielak/Voit, ZPO, 13. Aufl. 2016, § 91a Rn. 33 m.w.N.).

III.

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1. Der die Bewilligung von Prozesskostenhilfe versagende Beschluss des Oberlandesgerichts vom 30. Juli 2015 ist hiernach gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben. Der die Gehörsrüge zurückweisende Beschluss wird damit gegenstandslos. Die Sache ist an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen.

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2. Dem Beschwerdeführer drohen durch den Zeitablauf keine Nachteile. Er kann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand der Berufungsfristen auch nach Ablauf der Ausschlussfrist des § 234 Abs. 3 ZPO beantragen, da er die Fristversäumnis nicht zu vertreten hat (vgl. etwa Gehrlein, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Aufl. 2013, § 234 Rn. 15 m.w.N.; BGH, Beschluss vom 12. Juni 1973 - VI ZR 121/73 -, NJW 1973, S. 1373).

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3. Der Antrag des Beschwerdeführers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung seines Bevollmächtigten für das Verfassungsbeschwerdeverfahren hat sich erledigt, weil dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen gemäß § 34a BVerfGG zu erstatten sind (vgl. BVerfGE 62, 392 <397>; 69, 248 <256 f.>; 71, 122 <136 f.>; 104, 220 <238>; 105, 1 <17>; 105, 239 <240>).

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