Nichtannahmebeschluss vom Bundesverfassungsgericht (1. Senat 3. Kammer) - 1 BvR 2778/13

Gründe

I.

1

Die Verfassungsbeschwerde, die mit einem Prozesskostenhilfegesuch verbunden ist, richtet sich gegen Entscheidungen des Landessozialgerichts im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes auf dem Gebiet der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Das Landessozialgericht ging im Eilverfahren davon aus, dass Leistungen an eine spanische Staatsangehörige bei einem Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitsuche nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen seien.

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1. Die Beschwerdeführerin arbeitete bis Ende 2012 als befristete Aushilfe in einem Kaufhaus und bezog ergänzend Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II). Für das erste Halbjahr 2013 bewilligte ihr das Jobcenter Arbeitslosengeld II. Ab Oktober 2013 rechnete sie aufgrund einer freien Mitarbeit in einem Kosmetiksalon mit Einnahmen in Höhe von 300 bis 400 € pro Monat. Mit eidesstattlicher Versicherung erklärte sie am 8. Oktober 2013, gegenwärtig kein Geld zu haben, belegte ihre Hilfebedürftigkeit und beantragte die Fortzahlung der Leistungen. Den Antrag für den Zeitraum ab 1. Juli 2013 lehnte das Jobcenter ab. Nach erfolglosem Widerspruch erhob die Beschwerdeführerin Klage zum Sozialgericht.

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2. Das Sozialgericht verpflichtete den Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende im Eilverfahren, der Beschwerdeführerin vorläufig Arbeitslosengeld II zu gewähren, vom 22. Juli bis 31. Juli 2013 in Höhe von 166,68 € und ab August 2013 in Höhe von monatlich 550,60 € bis zum "rechtskräftigen Abschluss des Widerspruchsverfahrens, längstens jedoch bis 31. Dezember 2013". Das Landessozialgericht setzte mit Beschluss vom 30. August 2013 die Vollstreckung aus dem Beschluss des Sozialgerichts aus und änderte mit Beschluss vom 5. September 2013 die Entscheidung ab und lehnte den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab. Es greife der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II. Der erkennende Senat habe in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass er nicht feststellen könne, dass diese Regelung gegen europäisches Recht verstoße. Nur die Überzeugung von der Europarechtswidrigkeit dieser Regelung könne - wie auch bei der Vorlage nach Art. 100 GG - ausnahmsweise dazu berechtigen, ein formelles, in Kraft getretenes Gesetz nicht anzuwenden. Mangels Überzeugung von einer Europa- oder Völkerrechtswidrigkeit oder eines anderweitigen Verstoßes gegen höherrangiges Recht sei für eine Folgenabwägung kein Raum.

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Die Anhörungsrüge verwarf das Landessozialgericht mit Beschluss vom 25. Oktober 2013 als unzulässig.

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3. Mit ihrer am 9. Oktober 2013 erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und 3, Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG. Die Entscheidung des Landessozialgerichts entspräche nicht den Anforderungen an den effektiven Rechtsschutz im gerichtlichen Eilverfahren.

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4. Den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat die 3. Kammer des Ersten Senats mit Beschluss vom 18. Dezember 2013 abgelehnt, da die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG nicht dargelegt waren.

II.

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Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Ihr kommt weder grundsätzliche Bedeutung zu (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG) noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte der Beschwerdeführerin angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).

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1. Die Verfassungsbeschwerde ist mit Ausnahme der Rüge der Verletzung von Art. 19 Ab. 4 GG unzulässig. Die Möglichkeit einer Verletzung von Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 GG sowie Art. 103 Abs. 1 GG wird nicht hinreichend substantiiert dargelegt. Das Landessozialgericht hat sich insbesondere ausführlich und im Ergebnis vertretbar (vgl. nun BSG, Beschluss vom 12. Dezember 2013 - B 4 AS 9/13 R -, juris, Rn. 23; BSG, Urteil vom 3. Dezember 2015 - B 4 AS 43/15 R -, juris, Rn. 18 ff.) mit der Frage der Wirksamkeit der Vorbehaltserklärung zum Europäischen Fürsorgeabkommen (EFA) befasst. Soweit das Vorbringen der Beschwerdeführerin auch dahingehend verstanden werden könnte, dass sie einen Verstoß von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegen Grundrechte rügt, wird nicht hinreichend deutlich, ob sie sich gegen eine Ungleichbehandlung gegenüber Personen deutscher Staatsangehörigkeit oder gegenüber Ausländerinnen und Ausländern mit anderem Aufenthaltsrechtsstatus wendet. Es fehlt eine Auseinandersetzung mit Rechtfertigungsgründen für eine Ungleichbehandlung und insbesondere mit den Anforderungen, die an eine Anknüpfung von rechtlichen Unterscheidungen an die Staatsangehörigkeit zu stellen sind (vgl. BVerfGE 111, 160 <171 ff.>; 111, 176 <185 ff.>; 130, 240 <256 ff.>). Mit Blick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums fehlt eine Auseinandersetzung damit, ob ein bestimmtes Aufenthaltsrecht oder eine Aufenthaltsperspektive (vgl. BVerfGE 132, 134 <171 ff. Rn. 92 ff.>) oder auch die Möglichkeit einer Bedarfsdeckung im Ausland (vgl. nun BSG, Urteil vom 20. Januar 2016 - B 14 AS 35/15 R -, juris) den Ausschluss von Sozialleistungen rechtfertigen können.

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2. Jedenfalls liegen die Voraussetzungen zur Annahme der Verfassungsbeschwerde nach § 93 Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG nicht vor. Es ist absehbar, dass das Landessozialgericht auch im Falle einer Zurückverweisung über den hier in Rede stehenden Leistungsanspruch im Eilverfahren nicht anders entscheiden würde.

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a) Die damalige Auffassung des Landessozialgerichts, wonach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit Unionsrecht vereinbar ist, hat der Gerichtshof der Europäischen Union zwischenzeitlich mit Urteil vom 15. September 2015 (ECLI:EU:C:2015:597, Alimanovic, C-67/14) bestätigt. Danach sind Art. 24 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 und Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, nach der Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die sich in der von Art. 14 Abs. 4 Buchstabe b der Richtlinie 2004/38 erfassten Situation befinden, vom Bezug bestimmter "besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen" im Sinne von Art. 70 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004, die auch eine Leistung der "Sozialhilfe" im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG darstellen, ausgeschlossen werden, während Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten. Damit ist jedenfalls im vorliegenden Verfahren fachrechtlich abzusehen, dass die Beschwerdeführerin auch im Falle einer Zurückverweisung an das Landessozialgericht ihr Rechtsschutzziel, vom Jobcenter entgegen § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II zu erhalten, nicht erreichen würde.

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b) Daran ändert es nichts, dass nach Auffassung des Bundessozialgerichts trotz des Leistungsausschlusses im Sozialgesetzbuch Zweites Buch eine Ermessensreduzierung auf Null zu Leistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 3 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch führen kann (vgl. u.a. BSG, Urteil vom 3. Dezember 2015 - B 4 AS 44/15 R -, juris; Urteil vom 20. Januar 2016 - B 14 AS 35/15 R -, juris). Die Verfassungsbeschwerde zielt nicht auf einen solchen Anspruch gegenüber einem Sozialhilfeträger und insbesondere nicht auf die Einbeziehung von Sozialhilfeansprüchen gegen einen Sozialhilfeträger, der am Eilverfahren nicht beteiligt worden ist.

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3. Desgleichen ist hier nicht zu klären, ob die in diesem Verfahren entscheidungserhebliche Norm des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II jenseits der unionsrechtlichen Fragen auf grundrechtliche Grenzen stößt (vgl. SG Hamburg, Beschluss vom 22. September 2015 - S 22 AS 3298/15 ER -, juris; SG Mainz, Beschluss vom 18. April 2016 - S 3 AS 149/16 -, juris; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 18. April 2016 - L 6 AS 2249/15 B ER, L 6 AS 21/16 B -, juris; Frerichs, ZESAR 2014, S. 279 <285 f., 288>; Kingreen, NVwZ 2015, S. 1503 <1506>; a.A. LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 4. Februar 2015 - L 2 AS 14/15 B ER -, juris; LSG Hamburg, Beschluss vom 15. Oktober 2015 - L 4 AS 403/15 B ER -, juris; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 5. November 2015 - L 3 AS 479/15 B ER -, juris). Diese verfassungsrechtliche Frage wurde im vorliegenden Verfahren jedenfalls nicht substantiiert aufgeworfen.

III.

13

Die Entscheidung über die Gewährung von Prozesskostenhilfe und die Beiordnung eines Rechtsanwalts beruht auf den entsprechend anzuwendenden Vorschriften der §§ 114 ff. ZPO (vgl. BVerfGE 1, 109 <112>).

14

1. Zum Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrages stellte sich die verfassungsrechtlich klärungsbedürftige Frage, welche Anforderungen an die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG zu stellen sind, wenn existenzsichernde Leistungen auf der Grundlage von Regelungen beantragt werden, deren Reichweite unionsrechtlich streitig ist (vgl. zu den Anforderungen aus Art. 19 Abs. 4 GG BVerfGE 93, 1 <13>; 101, 397 <407>; 107, 395 <401>; zum Unionsrecht BVerfGK 5, 196 <203 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Juli 2009 - 2 BvR 1119/05, 2 BvR 1120/05, 2 BvR 1497/05 -, juris, Rn. 48; zum damaligen unionsrechtlichen Maßstab EuGH, Urteil vom 23. März 2004, Collins, C-138/02, Slg. 2004, I-2703; EuGH, Urteil vom 4. Juni 2009, Vatsouras und Koupatantze, C-22/08 und 23/08, Slg. 2009, I-4585; EuGH, Urteil vom 25. Oktober 2012, Prete, C-367/11, ZESAR 2013, S. 182). Deshalb ist Prozesskostenhilfe für die insoweit zulässige Verfassungsbeschwerde zu gewähren. Inzwischen fehlt es an einem Grund für die Annahme zur Entscheidung, da auch im Fall der Zurückverweisung über den in Rede stehenden Leistungsanspruch im Eilverfahren nicht anders entschieden werden würde (siehe oben II 2).

15

2. Die Beiordnung von Herrn Rechtsanwalt W. ist auf den Zeitpunkt zu begrenzen, an dem seine Zulassung endete. Eine Beiordnung von Rechtsanwalt G., der mit Schriftsatz vom 22. März 2016 seine Beiordnung beantragt hat, kam für den nachfolgenden Zeitraum mangels einer den Anforderungen des § 22 Abs. 2 BVerfGG genügenden Vollmacht nicht in Betracht. Es war auch bei der zuletzt vorgelegten Vollmacht nicht zweifelsfrei erkennbar, dass die Vollmacht für das hier zu führende Verfahren erteilt worden war, das nicht nur allgemein für eine Verfassungsbeschwerde, sondern konkret bezeichnet werden muss (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Oktober 2014 - 2 BvR 2446/14 - und vom 4. Dezember 2014 - 2 BvR 1052/13 - ; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 28. Dezember 2012 - 1 BvR 2620/11 -).

IV.

16

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

V.

17

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

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