Beschluss vom Bundesverwaltungsgericht (7. Senat) - 7 B 24/12
Gründe
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I.
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Der Kläger, ein anerkannter Naturschutzverein, wendet sich gegen den Vorbescheid und die 1. Teilgenehmigung für die Errichtung und den Betrieb eines Steinkohlekraftwerks in L. Mit dem Vorbescheid stellte der Beklagte die Genehmigungsfähigkeit der Anlage in Bezug auf die Anforderungen des Immissionsschutz- und Naturschutzrechts sowie die Standortwahl fest. Die Teilgenehmigung erlaubt die Baufeldfreimachung sowie die Errichtung einer Umzäunung und enthält Befreiungen von den Festsetzungen des maßgeblichen Bebauungsplans.
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Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Oberverwaltungsgericht beide Regelungen aufgehoben. Sie seien rechtswidrig, weil die Verträglichkeit des Vorhabens der Beigeladenen mit den Schutzzwecken des im Einwirkungsbereich der Anlage betroffenen Natura-2000-Gebiets "Wälder bei C." nicht feststellbar sei. An den meisten der in der FFH-Verträglichkeitsprüfung untersuchten Beurteilungspunkte überschreite bereits die Vorbelastung die durch Critical Loads (CL) bestimmten ökologischen Belastungsgrenzen für die Versauerung. Für die Bewertung der zusätzlichen Schadstoffbelastung des Schutzgebiets durch das Vorhaben der Beigeladenen könne zwar von einer Relevanzschwelle ausgegangen werden, die bei 3 % des CL-Wertes liege. Für versauernde Einträge werde diese Schwelle aber überschritten, da die Auswirkungen des Vorhabens im Zusammenwirken mit anderen Plänen und Projekten zu beurteilen seien. Nach dem Prioritätsprinzip müssten auch die Auswirkungen der Kraftwerksvorhaben D. und H. berücksichtigt werden, für die bereits Vorbescheide erteilt seien. In der Summe steigere sich die Belastung um mehr als 3 % der CL.
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Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Beigeladenen.
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II.
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Die Beschwerde ist unbegründet. Die geltend gemachten Zulassungsgründe liegen nicht vor.
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1. Es besteht keine Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) des angefochtenen Urteils zu der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. April 2010 - BVerwG 9 A 5.08 - (BVerwGE 136, 291 = Buchholz 451.91 EuropUmweltR Nr. 45).
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Eine die Revision eröffnende Divergenz ist nur dann gegeben, wenn die Vorinstanz einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz aufgestellt hat, der einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts aufgestellten und deren Entscheidung tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widerspricht (Beschlüsse vom 21. Juni 1995 - BVerwG 8 B 61.95 - Buchholz 310 § 133
VwGO Nr. 18 und vom 13. Juli 1999 - BVerwG 8 B 166.99 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 2 VwGO Nr. 9). Ein solcher rechtlicher Auffassungsunterschied zur Anwendung derselben Rechtsvorschrift ist in der von der Beschwerde geltend gemachten Hinsicht zu verneinen.
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a) Das Oberverwaltungsgericht ist ausgegangen von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach es für die Erheblichkeit der Beeinträchtigung eines Gebiets von gemeinschaftlicher Bedeutung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 FFH-RL bzw. § 34 Abs. 1 Satz 1 BNatSchG darauf ankommt, ob diese Beeinträchtigung einem für das Gebiet festgelegten Erhaltungsziel (Art. 6 Abs. 1 FFH-RL) zuwiderläuft; in diesem Falle ist jede Überschreitung eines Wertes, der die Grenze der nach naturschutzfachlicher Einschätzung für das Erhaltungsziel unbedenklichen Auswirkungen markiert, als erheblich anzusehen. CL sind als naturwissenschaftlich begründete Belastungsgrenzen in diesem Sinne zu verstehen; sie sollen die Gewähr dafür bieten, dass an dem Schutzgut auch langfristig keine signifikant schädlichen Effekte auftreten (Urteil vom 12. März 2008 - BVerwG 9 A 3.06 - Buchholz 451.91 EuropUmweltR Nr. 30 Rn. 111 f.; Beschluss vom 10. November 2009 - BVerwG 9 B 28.09 - Buchholz 406.400 § 34 BNatSchG 2002 Nr. 3 Rn. 6). Werden solche Grenzen bereits von der Vorbelastung ausgeschöpft oder sogar überschritten, so folgt daraus, dass prinzipiell jede Zusatzbelastung mit dem Erhaltungsziel unvereinbar und deshalb erheblich ist, weil sie die kritische Grenze überschreitet oder schon mit der Vorbelastung verbundene Schadeffekte verstärkt (Urteil vom 14. April 2010 a.a.O. Rn. 91 f.). Allerdings steht eine eventuelle Zielunverträglichkeit unter einem Bagatellvorbehalt, der seine Rechtfertigung im unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz findet (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 EUV). Wann eine Zusatzbelastung Bagatellcharakter hat, ist eine zuvörderst naturschutzfachliche Frage.
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Das Oberverwaltungsgericht hat weiterhin berücksichtigt, dass sich die Verträglichkeitsprüfung nach § 34 Abs. 1 BNatSchG bzw. nach § 48d Abs. 1 Satz 1 LG NRW (Art. 6 Abs. 3 FFH-RL) auch auf solche Beeinträchtigungen der Erhaltungsziele eines Gebiets zu erstrecken hat, die sich durch Pläne und Projekte im Zusammenwirken mit anderen Plänen und Projekten ergeben können. Dazu müssen die Auswirkungen der anderen Pläne und Projekte und damit das Ausmaß der Summationswirkung jedoch verlässlich absehbar sein (Urteile vom 21. Mai 2008 - BVerwG 9 A 68.07 - Buchholz 406.400 § 34 BNatSchG 2002 Nr. 1 Rn. 21 und vom 14. Juli 2011 - BVerwG 9 A 12.10 - BVerwGE 140, 149 = Buchholz 406.400 § 61 BNatSchG 2000 Nr. 13
; Beschluss vom 9. Dezember 2011 - BVerwG 9 B 44.11 - NuR 2012, 125).
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b) Entgegen der Beschwerde weicht das Urteil des Oberverwaltungsgerichts bei Prüfung einer Überschreitung der Relevanzschwelle nicht von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ab. Dieses hat sich zu der Frage, ob Zusatzbelastungen im Rahmen der Relevanzschwelle ausschließlich vorhabensbezogen oder wiederum in einer Summationsbetrachtung unter Berücksichtigung weiterer zeitgleich anstehender, bereits genehmigter Kraftwerksvorhaben oder anderer Projekte zu erfolgen hat, bisher noch nicht verhalten. Zu Unrecht beruft sich die Beschwerde auf das Urteil vom 14. April 2010 (a.a.O. Rn. 94), in dem bei Erläuterung der Relevanzschwelle von 3 % von "vorhabensbedingten Zusatzbelastungen" die Rede ist. Denn in den weiteren Gründen dieser Entscheidung (Rn. 95) wird ausschließlich Bezug genommen auf den Neubau der Bundesautobahn A 44 und auf geschützte Waldlebensräume, deren projektbedingte Zusatzbelastung (Rn. 93) an keiner Stelle über die Relevanzschwelle von 3 % des CL-Wertes hinausgeht. Die Frage, ob Zusatzbelastungen durch andere Projekte bei der Bagatellprüfung zu berücksichtigen sind, stellte sich mithin gar nicht. Verhalten hat sich die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bisher lediglich allgemein dazu, dass bei der Prüfung einer Überschreitung der Erheblichkeitsschwelle im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 BNatSchG eine summative Betrachtung anstehender Projekte zu erfolgen hat, was sich bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes ergibt.
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2. Die Rechtssache weist keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO auf.
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Die Fragen,
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ob ein Projekt verträglich im Sinne von Art. 6 Abs. 3 der FFH-Richtlinie ist, wenn die von einem Projekt selbst ausgehenden Auswirkungen - ohne Summation mit den Auswirkungen anderer Pläne und Projekte - naturschutzfachlich irrelevant sind und ob die Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts zur Bagatellschwellenprüfung mit dem unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar ist, obwohl dies zu einer absoluten Obergrenze für Auswirkungen durch neue Vorhaben führt,
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lassen sich anhand des Gesetzes und der einschlägigen Rechtsprechung beantworten, ohne dass es der Durchführung eines Revisionsverfahrens bedarf. Die Vorinstanz hat zu Recht die Auffassung vertreten, dass bei der Prüfung, ob projektbedingte Schadstoffeinträge die Relevanzschwelle überschreiten, kumulativ die Auswirkungen anderer Projekte zu berücksichtigen sind, soweit sich diese Auswirkungen konkret absehen lassen.
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a) Mit der Regelung in Art. 6 Abs. 3 FFH-RL, wonach Vorhaben, die ein Schutzgebiet "einzeln oder im Zusammenwirken mit anderen Plänen und Projekten beeinträchtigen könnten", eine Verträglichkeitsprüfung erfordern, hat der Normgeber unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass die Verträglichkeit eines Projekts nicht isoliert anhand der von ihm selbst erzeugten Auswirkungen, sondern unter Einschluss der Auswirkungen anderer hinreichend verfestigter Pläne oder Projekte zu beurteilen ist. Wie von der Vorinstanz zutreffend ausgeführt, verfolgt diese Regelung das Ziel, eine schleichende Beeinträchtigung durch nacheinander genehmigte, jeweils für sich genommen das Gebiet nicht erheblich beeinträchtigende Projekte zu verhindern, soweit deren Auswirkungen sich in ihrer Summe nachteilig auf die Erhaltungsziele des Gebiets auswirken würden. Dieser Zielsetzung wird eine Verträglichkeitsprüfung nur dann konsequent gerecht, wenn sie Auswirkungen anderer hinreichend verfestigter Projekte auf das Gebiet auch bei der Beurteilung einbezieht, ob die Relevanzschwelle überschritten ist. Denn auch insoweit geht es darum, hinzutretende Beeinträchtigungen abzuwehren, die in der Summe die Erhaltungsziele nachteilig betreffen und damit nicht mehr als Bagatelle verstanden werden können. Andernfalls wäre auf längere Sicht eine nicht rückholbare erhebliche Beeinträchtigung des Schutzgebiets zu besorgen, die dem mit der besonderen Schutzgebietausweisung auf Dauer verfolgten Schutzziel diametral entgegenliefe und das unionsrechtliche Verschlechterungsverbot (vgl. hierzu Schumacher, in: Schumacher/Fischer-Hüftle, BNatSchG, 2. Aufl., § 34 Rn. 3) verletzte. Weshalb der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit es gebieten sollte, allein auf das einzelne Projekt bezogen die Überschreitung der Relevanzschwelle in Betracht zu nehmen, erschließt sich nicht. Die Annahme einer Relevanzschwelle ist Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, nicht aber das alleinige Abstellen auf das Emissionsverhalten eines Projekts unter Außerachtlassung der Gefahr von Schadstoffeinwirkungen bereits genehmigter anderer Projekte.
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b) Ein Klärungsbedarf für die aufgeworfenen Fragen ergibt sich auch nicht aus dem Hinweis der Beschwerde auf vom Habitatrecht abweichende Schutzvorgaben der TA Luft mit einer rein vorhabenbezogenen Irrelevanzprüfung zum Schutz der menschlichen Gesundheit in Nr. 4.2.1, 4.2.2 bzw. zum Schutz der Vegetation oder von Ökosystemen in Nr. 4.4.1, 4.4.2. Regelungen aus anderen Rechtsbereichen können nicht eine Handhabung der Verträglichkeitsprüfung rechtfertigen, die sich von den in Art. 6 Abs. 3 FFH-RL enthaltenen rechtlichen Vorgaben entfernt (vgl. in anderer Hinsicht bereits Urteil vom 14. April 2010 a.a.O. Rn. 92). Zudem ist der in § 34 Abs. 1 BNatSchG (bezüglich potenzieller Auswirkungen von Schadstoffeinträgen) verankerte Vorsorge- bzw. Besorgungsgrundsatz ausschließlich wirkungsbezogen konzipiert (vgl. Frenz, in: Frenz/Möggenborg, BNatSchG, § 34 Rn. 17).
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c) Soweit die Beschwerde sich für die von ihr geltend gemachte Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Rechtsfragen ergänzend auf das Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 15. Dezember 2011 - 5 A 195/09 - (ZUR 2012, 445) und den Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 19. März 2012 - 9 B 1916/11 - (ZUR 2012, 440) beruft, die die Relevanzschwelle rein vorhabenbezogen verständen, kann ihr nicht gefolgt werden. Keine der beiden zitierten Entscheidungen befasst sich mit der Frage, ob im Falle einer Vorbelastung, die die maßgeblichen CL überschreitet, die Relevanz einer Zusatzbelastung durch das zu beurteilende Vorhaben isoliert oder unter Einschluss der Auswirkungen weiterer, noch nicht in die Vorbelastung eingegangener Vorhaben zu bewerten ist.
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Referenzen
- 9 B 1916/11 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 132 2x
- § 34 BNatSchG 2x (nicht zugeordnet)
- § 61 BNatSchG 1x (nicht zugeordnet)
- § 48d Abs. 1 Satz 1 LG 1x (nicht zugeordnet)
- 5 A 195/09 1x (nicht zugeordnet)
- § 34 Abs. 1 BNatSchG 2x (nicht zugeordnet)
- § 34 Abs. 1 Satz 1 BNatSchG 2x (nicht zugeordnet)