Urteil vom Bundesverwaltungsgericht (9. Senat) - 9 C 1/15

Tatbestand

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Die Kläger sind Miteigentümer von fünf Grundstücken, für die die Beklagte durch Bescheide vom 16. August 2005 Ausbaubeiträge in Höhe von insgesamt 4 472,65 € festsetzte; die Fälligkeit sollte binnen eines Monats nach Bekanntgabe der Bescheide eintreten. Die Kläger legten gegen die Bescheide Widerspruch ein. Außerdem beantragten sie mit Schreiben vom 10. November 2005 und 26. Januar 2006 die Aussetzung der Vollziehung, was die Beklagte mit Schreiben vom 7. Februar 2006 ablehnte. Die von der Beklagten geforderten Ausbaubeiträge gingen bei ihr am 26. Oktober 2006 ein.

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Auf die am 7. Mai 2007 gestellten Anträge ordnete das Verwaltungsgericht W. mit im Wesentlichen gleichlautenden Beschlüssen vom 18. März 2008 die aufschiebende Wirkung der Widersprüche der Kläger gegen die Festsetzungsbescheide an und gab der Beklagten auf, den Klägern den Beitrag zu erstatten. Dem kam die Beklagte nach.

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Durch Widerspruchsbescheid vom 22. April 2009 wurden die Beitragsbescheide aufgehoben. Die Rückerstattung der Nebenleistungen (Säumniszuschläge, Mahnkosten, Pfändungsgebühren, Auslagen), die die Kläger zuvor an die Beklagte entrichtet hatten, lehnte diese allerdings mit Bescheid vom 2. März 2010 ab. Der dagegen eingelegte Widerspruch blieb erfolglos.

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Auf die am 21. Februar 2011 erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht W. die Beklagte mit Urteil vom 14. Dezember 2011 verpflichtet, den Klägern Säumniszuschläge in Höhe von 565,50 € zu erstatten, und sie verurteilt, weitere 144,25 € nebst Zinsen daraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 21. Februar 2011 zu zahlen. Das Oberverwaltungsgericht hat die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Die Kläger hätten einen Anspruch auf Erstattung der in Höhe von 565,50 € gezahlten Säumniszuschläge und 144,25 € weiteren Nebenforderungen nebst diesbezüglicher Prozesszinsen. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 1 VwGO suspendiere den angefochtenen Verwaltungsakt ab dem Zeitpunkt seines Erlasses. Dem Widerspruchsführer sollten aus dem Verwaltungsakt von Anfang an keine nachteiligen Konsequenzen erwachsen. Dieses Ziel lasse sich nur erreichen, wenn seit dem Eintritt der Fälligkeit der Abgabe verwirkte Säumniszuschläge sowie die angefallenen Nebenleistungen nachträglich entfielen.

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Mit der vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revision macht die Beklagte eine Verletzung von § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO geltend: Die gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen einen Abgabenbescheid lasse die Fälligkeit der Schuld unberührt. Die Behörde dürfe zwar keine Maßnahmen treffen, die rechtlich als Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts einzustufen seien. Die bis zum Eintritt der aufschiebenden Wirkung bereits entstandenen Rechtswirkungen bestünden dagegen fort. Die Säumniszuschläge entstünden kraft Gesetzes mit der Nichtzahlung zum Fälligkeitszeitpunkt; sie seien daher nicht als Vollstreckungsmaßnahme der Behörde zu qualifizieren. Ungeachtet der späteren Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts blieben entstandene Säumniszuschläge verwirkt. Die spätere Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs berühre die Entstehung der Mahnkosten, Pfändungsgebühren und Auslagen ebenfalls nicht.

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Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Thüringer Oberverwaltungsgerichts vom 8. Dezember 2014 sowie das Urteil des Verwaltungsgerichts W. vom 14. Dezember 2011 zu ändern und die Klage abzuweisen, soweit sie auf die Erstattung von Säumniszuschlägen in Höhe von 565,50 € und auf die Zahlung weiterer 144,25 € nebst Zinsen daraus in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz seit dem 21. Februar 2011 gerichtet ist.

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Die Kläger beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

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Sie verteidigen das angefochtene Urteil.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Revision ist unbegründet. Das Berufungsurteil verstößt nicht gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).

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1. Das Berufungsgericht hat die Verpflichtung der Beklagten zur Erstattung der umstrittenen Säumniszuschläge auf § 15 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b ThürKAG in Verbindung mit § 37 Abs. 2 AO gestützt. Es hat angenommen, dass Säumniszuschläge gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 5 Buchst. b ThürKAG in Verbindung mit § 240 Abs. 1 AO nach Eintritt der Fälligkeit der Straßenausbaubeiträge am 20. September 2005 bis zum Eingang des von den Klägern überwiesenen Betrages von 4 472,65 € bei der Beklagten am 26. Oktober 2006 entstanden, jedoch rückwirkend in vollem Umfang infolge der angeordneten aufschiebenden Wirkung der Widersprüche der Kläger gegen die angefochtenen Straßenausbaubeitragsbescheide entfallen sind.

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Diese Auffassung steht mit Bundesrecht in Einklang. Soweit das Berufungsgericht den Klageanspruch auf die kraft Verweisung im Kommunalabgabengesetz geltenden Vorschriften der Abgabenordnung stützt, kommen diese allerdings nur als Landesrecht zur Anwendung (stRspr, s. etwa BVerwG, Urteil vom 27. Juni 2012 - 9 C 7.11 - BVerwGE 143, 222 Rn. 10 m.w.N.). Die Auslegung und Anwendung von Landesrecht durch das Oberverwaltungsgericht ist der revisionsgerichtlichen Prüfung durch das Bundesverwaltungsgericht grundsätzlich entzogen. Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts ist jedoch der revisionsgerichtlichen Kontrolle insoweit unterworfen, als sie sich bei der Auslegung und Anwendung des Landesrechts auf Bundesrecht, hier auf § 80 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, Abs. 5 VwGO stützt.

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Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verpflichtet die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage (§ 80 Abs. 1 VwGO) die Behörde, für die Dauer des durch die Anfechtung des Verwaltungsaktes herbeigeführten Schwebezustandes alle Maßnahmen zu unterlassen, die - in einem weiten, auch die Besonderheiten rechtsgestaltender und feststellender Verwaltungsakte (§ 80 Abs. 1 Satz 2 VwGO) berücksichtigenden Sinne - als Vollziehung zu qualifizieren sind, d.h. der Verwirklichung der mit dem Verwaltungsakt ausgesprochenen Rechtsfolge und der sich aus ihr ergebenden weiteren Nebenfolgen dienen (vgl. nur BVerwG, Urteile vom 21. Juni 1961 - 8 C 398.59 - BVerwGE 13, 1 <6>, vom 6. Juli 1973 - 4 C 79.69 - Buchholz 310 § 80 VwGO Nr. 23 S. 21, vom 27. Oktober 1982 - 3 C 6.82 - BVerwGE 66, 218 <222>, vom 17. August 1995 - 3 C 17.94 - BVerwGE 99, 109 <112> und vom 20. November 2008 - 3 C 13.08 - BVerwGE 132, 250 Rn. 7 ff.). Demgemäß ist der Behörde durch § 80 Abs. 1 VwGO untersagt, einstweilen solche Folgerungen aus dem Verwaltungsakt zu ziehen, die sie vermöge ihrer Sonderstellung als Hoheitsträger ziehen könnte. Die aufschiebende Wirkung lässt die Wirksamkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes jedoch unberührt (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. November 2008 - 3 C 13.08 - BVerwGE 132, 250 Rn. 9, 12).

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In Fällen öffentlicher Abgaben, wie hier der Straßenausbaubeiträge, entfällt die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO); auf Antrag kann sie jedoch vom Gericht angeordnet werden (§ 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Erforderlich ist in diesem Fall regelmäßig ein vorheriger erfolgloser Aussetzungsantrag bei der Behörde (§ 80 Abs. 6 VwGO). Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung schließt die Rechtsfolge der Ausnahmeregelung des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO aus und führt somit wieder zum Regelfall des § 80 Abs. 1 VwGO.

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Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung wirkt generell auf den Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes zurück (BVerwG, Urteil vom 6. Juli 1973 - 4 C 79.69 - Buchholz 310 § 80 VwGO Nr. 23 S. 24; OVG Bautzen, Urteil vom 12. Oktober 2005 - 5 B 471/04 - NVwZ-RR 2007, 54 <55>; Finkelnburg, in: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 6. Aufl. 2011, Rn. 658; Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Oktober 2015, § 80 Rn. 535; a.A. OVG Greifswald, Urteil vom 20. Mai 2003 - 1 L 137/02 - NVwZ-RR 2004, 212 <213>; OVG Koblenz, Urteil vom 8. November 1988 - 6 A 118/87 - NVwZ-RR 1989, 324; Sauthoff, in: Driehaus, Kommunalabgabenrecht, Stand März 2015, § 12 Rn. 82). Denn die gerichtliche Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO soll grundsätzlich die Rechtslage in Kraft setzen, die bestände, wenn die in § 80 Abs. 1 VwGO vorgesehene aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs nicht ausnahmsweise entfiele (BVerwG, Urteil vom 27. Oktober 1987 - 1 C 19.85 - BVerwGE 78, 192 <209 f.>). Das Gericht kann allerdings im Rahmen seiner Ermessensausübung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die Rückwirkung zeitlich einschränken oder ausschließen, insbesondere die Wirkungen der Entscheidung nur für die Zukunft eintreten lassen (so zutreffend OVG Lüneburg, Urteil vom 14. März 1989 - 9 A 57/88 - NVwZ 1990, 270 <271>; Finkelnburg, Vorläufiger Rechtsschutz Rn. 658). Auf diese Weise kann dem Fall, dass etwa ein Abgabenpflichtiger bis zur Stellung des einstweiligen Rechtsschutzantrages bei Gericht eine unangemessene Zeit verstreichen lässt und dann bei einem Obsiegen bereits erfolgte Vollziehungsmaßnahmen aufgehoben wissen will (so das Argument des OVG Greifswald, Urteil vom 20. Mai 2003 - 1 L 137/02 - NVwZ-RR 2004, 212 <213>), Rechnung getragen werden. Ein Bedürfnis, einen uneingeschränkt stattgebenden Tenor "im Zweifel" dahin auszulegen, dass die aufschiebende Wirkung erst ab Antragstellung (so Sauthoff, in: Driehaus, Kommunalabgabenrecht, Stand März 2015, § 12 Rn. 82) oder erst ab Wirksamkeit des Beschlusses gilt, besteht danach nicht.

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Daraus folgt, dass verwirkte Säumniszuschläge mit der uneingeschränkten Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Abgabenbescheid rückwirkend entfallen (so auch OVG Lüneburg, Urteil vom 14. März 1989 - 9 A 57/88 - NVwZ 1990, 270 <271>; OVG Bautzen, Urteil vom 12. Oktober 2005 - 5 B 471/04 - NVwZ-RR 2007, 54 f.; Jachmann/Kellerer/Braun, ThürVBl. 2005, 130 <131>; a.A. VGH München, Beschlüsse vom 25. August 1989 - 23 CS 89.02090 und 23 CS 89.02092 - NVwZ-RR 1990, 328 <330> und vom 8. Januar 2010 - 20 CS 09.2918 - juris Rn. 13; Driehaus, Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 9. Aufl. 2012, § 24 Rn. 69). Das Oberverwaltungsgericht hat das Landesrecht insoweit - revisionsrechtlich nicht überprüfbar - übereinstimmend mit der finanzgerichtlichen Rechtsprechung dahin ausgelegt, dass es sich bei den Säumniszuschlägen zwar nicht um Vollstreckungsmaßnahmen handelt, weil sie kraft Gesetzes entstehen, wohl aber um ein Druckmittel eigener Art, das für die Dauer der gerichtlich angeordneten aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Abgabenbescheid seinen Zweck nicht erfüllen kann. Wirkt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung zurück, entfallen auch die Voraussetzungen für eine Druckausübung "rückwirkend".

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Der Einwand der Revision, die aufschiebende Wirkung beseitige nicht die Fälligkeit als gesetzlichen Entstehungsvorgang der Säumniszuschläge greift nicht durch. Zwar bleibt ein Abgabenbescheid in seiner Wirksamkeit von der Anfechtung und der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs unberührt. Die aufschiebende Wirkung führt aber dazu, dass die Behörde gehindert ist, diese spezifische hoheitliche Regelung des Verwaltungsakts umzusetzen. Soweit die hoheitliche Regelung die Fälligstellung einer Forderung umfasst, wie dies insbesondere bei Abgabenbescheiden der Fall ist, hat die Anordnung der aufschiebenden Wirkung zur Folge, dass die Forderung für die Behörde und ihren Rechtsträger einstweilen als nicht fällig gilt (BVerwG, Urteil vom 20. November 2008 - 3 C 13.08 - BVerwGE 132, 250 Rn. 11 f. in teilweiser Abweichung von dem Urteil vom 27. Oktober 1982 - 3 C 6.82 - BVerwGE 66, 218 <221 f.>). Dann aber können Säumniszuschläge für diese Zeitspanne nicht anfallen. Dementsprechend nimmt der Bundesfinanzhof für verwirkte Säumniszuschläge an, dass diese durch Aufhebung der Vollziehung gemäß § 69 Abs. 3 FGO rückwirkend beseitigt werden (vgl. Beschlüsse vom 10. Dezember 1986 - I B 121/86 - BFHE 149, 6 <8 ff.> und vom 29. August 2012 - VIII B 45/12 - BFHE 238, 187 Rn. 12). Der Abgabenpflichtige muss in Anbetracht der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG im Stande sein, die Säumniszuschläge, deren Bestand von der endgültigen Aufhebung oder Änderung der Abgabenfestsetzung unabhängig ist (vgl. § 240 Abs. 1 Satz 4 AO), jedenfalls mithilfe des vorläufigen Rechtsschutzes abzuwehren (BVerfG, Kammerbeschluss vom 30. Januar 1986 - 2 BvR 1336/85 - DStZ/E 1986, 101; BFH, Urteil vom 20. Mai 2010 - V R 42/08 - BFHE 229, 83 Rn. 21).

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2. Gleiches gilt für den Anspruch der Kläger auf Rückerstattung von Mahn- und Pfändungsgebühren sowie Auslagen, die ebenfalls nicht entstanden wären, wenn die aufschiebende Wirkung von vornherein bestanden hätte. Der Anspruch auf die Rechtshängigkeitszinsen ergibt sich aus §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB.

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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

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