Beschluss vom Bundesverwaltungsgericht (1. Senat) - 1 C 9/19

Tenor

Der Aussetzungs- und Vorlagebeschluss vom 23. April 2020 wird aufrechterhalten.

Gründe

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Das Gericht sieht auf die Anfrage des Gerichtshofs der Europäischen Union (Gerichtshof) im Schreiben vom 4. August 2020 auch nach dem Urteil des Gerichtshofs vom 16. Juli 2020 in den verbundenen Rechtssachen C-133/19, C-136/19 und C-137/19 (B.M.M. u.a. ./. État belge) weiterhin Klärungsbedarf hinsichtlich der Vorlagefragen im Beschluss vom 23. April 2020.

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1. Der vom Gerichtshof nunmehr entschiedene und der vorgelegte Rechtsstreit betreffen unterschiedliche Fallkonstellationen und Normen. Soweit der Gerichtshof in dem genannten Urteil für den Kindernachzug zu einem in einem Mitgliedstaat als Flüchtling anerkannten drittstaatsangehörigen Elternteil feststellt, dass das Alter des Antragstellers (Kindes) nicht als eine materielle Voraussetzung für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung angesehen werden kann, sondern (nur) eine Voraussetzung für die Zulässigkeit des Antrags auf Familienzusammenführung darstellt, und deshalb zur Bestimmung, ob ein unverheirateter Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser ein minderjähriges Kind ist, auf den Zeitpunkt der Einreichung des Antrags auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung für ein minderjähriges Kind - und nicht auf den Zeitpunkt der Entscheidung der Behörde über den Antrag - abzustellen ist (Rn. 46 f.), kann daraus aus Sicht des ersuchenden Gerichts zwar möglicherweise geschlossen werden, dass auch beim Elternnachzug zum unbegleiteten minderjährigen Flüchtling nach Art. 10 Abs. 3 und Art. 2 Buchst. f RL 2003/86/EG die Minderjährigkeit keine "Bedingung" im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Buchst. a RL 2003/86/EG ist (Vorlagefrage 1a) Satz 1).

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Die Differenzierung zwischen materiellen Voraussetzungen für den Familiennachzug einerseits und der Minderjährigkeit des Nachziehenden als Zulässigkeitsvoraussetzung für den Antrag andererseits, die in der Richtlinie keinen Niederschlag gefunden hat (vgl. insbesondere Art. 1 der Richtlinie), lässt indes nicht erkennen, inwieweit die Wahrung der Effektivität und Fairness des Verfahrens zur Durchsetzung des Anspruchs und das allgemeine Ziel der Begünstigung der Familienzusammenführung (vgl. Rn. 25 des Urteils) den - mit Volljährigkeit eines Kindes entfallenden - Zweck der Richtlinie, insbesondere den wegen ihrer Minderjährigkeit tatsächlich auf familiären Beistand, Betreuung und Sorge angewiesenen Minderjährigen Schutz zu gewähren (vgl. Rn. 25 des Urteils), unter besonderer Berücksichtigung des Kindeswohls (vgl. Rn. 35 des Urteils), überwiegen. Soweit der Gerichtshof das Abstellen auf den Zeitpunkt der Antragstellung mit den Grundsätzen der Gleichbehandlung und Rechtssicherheit begründet (Rn. 42 des Urteils), hätte dies konsequenterweise dazu führen müssen, dass beim Familiennachzug zu einem Flüchtling nicht auf den Antrag auf Familienzusammenführung, sondern auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung durch den Zusammenführenden abzustellen ist. Im Übrigen müssten dann die Folgewirkungen der Festschreibung eines der tatsächlichen Veränderung unterliegenden Tatbestandsmerkmals auch in anderen Bereichen berücksichtigt werden, wenn sie zu einer Ungleichbehandlung führen können. Würde etwa bei einem Antrag auf internationalen Schutz nach der Richtlinie 2011/95/EU allein auf die Verfolgungssituation im Zeitpunkt der Antragstellung abgestellt, könnten Veränderungen (zugunsten oder zuungunsten des Betroffenen) bis zur Entscheidung, bei der eine umfassende Prüfung der Sach- und Rechtslage vorzunehmen ist, keine Berücksichtigung finden.

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Offenbleibt zudem die Frage, ob eine gemäß Art. 15 Abs. 2 und Art. 4 Abs. 2 RL 2003/86/EG dem Umsetzungsspielraum der Mitgliedstaaten unterfallende nationale Regelung (wie die des § 36 Abs. 1 AufenthG), die ein (abgeleitetes) Aufenthaltsrecht der Eltern nur bis zur Volljährigkeit des Flüchtlings vorsieht, auch dann mit Unionsrecht vereinbar ist, wenn das Alter des Kindes nicht als materielle Voraussetzung für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung anzusehen ist (Vorlagefrage 1a) Satz 2). Nicht eindeutig beantwortet ist damit auch die Vorlagefrage 1b), ob es die Auslegung von Art. 16 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a und Art. 2 Buchst. f RL 2003/86/EG zulässt, in Anwendung der nationalen Regelung einen Antrag auf Elternnachzug in Ermangelung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts abzulehnen, wenn der Flüchtling nach (fristgerechter) Stellung eines Familienzusammenführungsantrages mit den Eltern volljährig geworden ist, weil das nationale Recht nur ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht der Eltern bis zur Volljährigkeit des zusammenführenden Kindes vorsieht.

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2. Das genannte Urteil des Gerichtshofs verhält sich für das ersuchende Gericht ersichtlich auch nicht zu der Vorlagefrage 2., die sich gerade bei Verneinung der Vorlagefragen 1a) und 1b) stellt.

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3. Entsprechendes gilt für das gleichlautende Vorlageersuchen im Beschluss des Senats vom 23. April 2020 im Verfahren 1 C 10.19.

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