Urteil vom Europäischer Gerichtshof - C-151/14

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

10. September 2015 ( *1 )

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats — Art. 49 AEUV — Niederlassungsfreiheit — Notare — Staatsangehörigkeitsvoraussetzung — Art. 51 AEUV — Teilhabe an der Ausübung öffentlicher Gewalt“

In der Rechtssache C‑151/14

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 31. März 2014,

Europäische Kommission, vertreten durch I. Rubene und H. Støvlbæk als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

gegen

Republik Lettland, vertreten durch D. Pelše, I. Kalniņš und K. Freimanis als Bevollmächtigte,

Beklagte,

unterstützt durch:

Tschechische Republik, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

Ungarn, vertreten durch M. Tátrai und M. Fehér als Bevollmächtigte,

Streithelfer,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot sowie der Richter A. Arabadjiev (Berichterstatter) und J. L. da Cruz Vilaça,

Generalanwalt: P. Cruz Villalón,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass die Republik Lettland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 49 AEUV und 51 AEUV verstoßen hat, dass sie für den Zugang zum Beruf des Notars eine Staatsangehörigkeitsvoraussetzung aufgestellt hat.

Rechtlicher Rahmen

Allgemeine Ausgestaltung des Notarberufs in Lettland

2

Die Ausgestaltung des Notariats ist im Gesetz über das Notariat (Notariāta likums) vom 9. Juli 1993 (Latvijas Vēstnesis, 1993, Nr. 48, im Folgenden: Notariatsgesetz) geregelt.

3

In Art. 1 Abs. 2 dieses Gesetzes wird ausgeführt, dass es die berufliche und unternehmerische Tätigkeit der Notare regelt. Diese üben nach Art. 238 desselben Gesetzes einen freien Beruf aus.

4

Nach Art. 3 dieses Gesetzes gelten Notare als öffentliche Amtsträger. Sie unterliegen gemäß Art. 5 dieses Gesetzes nur dem Gesetz und üben ihre Aufgaben in völliger Unabhängigkeit aus.

5

Nach Art. 8 Abs. 1 des Notariatsgesetzes erfolgt die Ernennung, Versetzung und Entlassung eines Notars durch den Justizminister.

6

In Bezug auf die Voraussetzungen für den Zugang zum Amt des Notars heißt es in Art. 9 Abs. 1 dieses Gesetzes, dass „nur Personen, die Staatsangehörige der Republik Lettland sind, Notare sein können“.

7

Nach Art. 38 Abs. 1 des Notariatsgesetzes übt der Notar seine Aufgaben innerhalb des Gerichtsbezirks seines Amtssitzes aus. Gemäß Art. 39 Abs. 1 dieses Gesetzes kann ein Notar Personen auf Anforderung seine Unterstützung gewähren, selbst wenn ihr Wohnsitz oder ihr Eigentum, auf die sich die notarielle Urkunde bezieht, außerhalb dieses Bezirks liegen.

8

Nach Art. 39 Abs. 2 dieses Gesetzes darf ein Notar die Ausübung seiner Tätigkeiten nur in den gesetzlich vorgesehenen Fällen verweigern. Allerdings ist er nach Art. 40 dieses Gesetzes verpflichtet, seine Leistungen zu verweigern, wenn seine Mitwirkung erforderlich ist, um an Tätigkeiten mit offensichtlich rechts- und sittenwidrigem Zweck teilzunehmen.

Tätigkeiten des Notars in Lettland

9

Im Rahmen der verschiedenen Tätigkeiten, die der Notar in der lettischen Rechtsordnung ausübt, besteht seine Hauptaufgabe darin, authentische Urkunden zu erstellen.

10

Art. 82.1 des Notariatsgesetzes sieht vor, dass „der Notar bei der Beurkundung einer Willensäußerung eine authentische Urkunde zu erstellen hat“. Art. 87.1 dieses Gesetzes bestimmt u. a., dass der Notar verpflichtet ist, den Willen der Parteien in der Urkunde und dem Text der Vereinbarung festzustellen und sie über mögliche rechtliche Folgen dieser Vereinbarung zu informieren.

11

Hinsichtlich der Vollstreckung notarieller Urkunden heißt es in Art. 107.4 dieses Gesetzes, dass ein Gläubiger einem Notar eine notarielle Urkunde im Hinblick auf die Zwangsvollstreckung einer Verbindlichkeit innerhalb einer Frist von einem Jahr ab dem Fälligkeitsdatum der Verbindlichkeit vorlegen kann. Ist nach Ansicht des Schuldners die Forderung des Gläubigers nicht begründet, so kann er nach Art. 107.9 desselben Gesetzes gemäß Art. 406 der Zivilprozessordnung (Latvijas Vēstnesis, 1998, Nr. 326/330) Klage erheben.

12

Nach den Art. 108 bis 139 dieses Gesetzes beglaubigt der Notar u. a. Unterschriften, Abschriften und Übersetzungen und bescheinigt das Vorliegen bestimmter Tatsachen, wie den Umstand, dass eine Person am Leben ist.

13

Der Notar verwahrt Gelder, Wertpapiere und Urkunden gemäß den Art. 140 bis 145 des Notariatsgesetzes.

14

In Erbschaftsangelegenheiten hat der Notar nach Art. 264 dieses Gesetzes eine notarielle Urkunde zu erstellen, wenn der überlebende Ehegatte und die Erben, die die Erbschaft angenommen haben, Einigkeit erlangt haben. Art. 315 dieses Gesetzes bestimmt, dass über jede Uneinigkeit in Erbschaftsangelegenheiten gemäß den einschlägigen Verfahren von einem Gericht zu entscheiden ist.

15

Art. 320 des Notariatsgesetzes besagt, dass der Notar die Aufteilung des Nachlasses vornehmen kann, vorausgesetzt, es besteht zwischen den Erben insoweit keine Uneinigkeit. Jede Uneinigkeit ist nach Art. 250.1 Abs. 1 der Zivilprozessordnung dem Richter vorzulegen. Dieser kann gemäß Art. 250.2 Abs. 3 der Zivilprozessordnung dem Notar die Überwachung des Ablaufs der Nachlassaufteilung übertragen. In diesem Fall hat der Notar nach Art. 250.3 Abs. 3 der Zivilprozessordnung beim Verfassen des Entwurfs für die Aufteilung des Nachlasses die Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet sind, zwischen den betroffenen Parteien zu vermitteln und den Abschluss einer Vereinbarung zwischen ihnen zu erleichtern. Nach Art. 250.3 Abs. 5 der Zivilprozessordnung hat der Notar das Verzeichnis und die Bewertung des Nachlasses sowie den Entwurf der Aufteilung des Nachlasses dem Richter vorzulegen.

16

Zur Zuständigkeit des Notars in Scheidungsangelegenheiten sehen die Art. 325 und 327 des Notariatsgesetzes vor, dass der Notar die Ehe auf gemeinsamen Antrag der Ehegatten auflösen kann, wenn sie keine gemeinsamen Kinder haben und nicht zusammen Eigentum besitzen. In den anderen Fällen kann er die Auflösung der Ehe aussprechen, wenn die Betroffenen zuvor einen Vertrag über das Sorgerecht für das Kind, die Modalitäten des Besuchsrechts und die für den Kindesunterhalt erforderlichen Mittel oder die Aufteilung des Eigentums geschlossen haben.

17

Nach Art. 338 dieses Gesetzes übermittelt der Notar Informationen über eine grenzüberschreitende Scheidung an das Außenministerium.

Vorverfahren

18

Mit Schreiben vom 12. Oktober 2006 forderte die Kommission die Republik Lettland auf, sich binnen zwei Monaten zur Vereinbarkeit der für den Zugang zum Notarberuf in Lettland erforderlichen Staatsangehörigkeitsvoraussetzung mit den Art. 49 AEUV und 51 AEUV zu äußern.

19

Die Republik Lettland antwortete auf dieses Aufforderungsschreiben mit Schreiben vom 21. Dezember 2006, in dem sie darlegte, warum Art. 51 Abs. 1 AEUV auf Notare anwendbar sei.

20

Da die von der Republik Lettland vorgebrachten Argumente sie nicht überzeugten, richtete die Kommission an sie mit Schreiben vom 17. Oktober 2007 eine mit Gründen versehene Stellungnahme, auf die die Republik Lettland mit Schreiben vom 3. Januar 2008 antwortete.

21

Am 24. Mai 2011 entschied der Gerichtshof in den Urteilen Kommission/Belgien (C‑47/08, EU:C:2011:334), Kommission/Frankreich (C‑50/08, EU:C:2011:335), Kommission/Luxemburg (C‑51/08, EU:C:2011:336), Kommission/Österreich (C‑53/08, EU:C:2011:338), Kommission/Deutschland (C‑54/08, EU:C:2011:339) und Kommission/Griechenland (C‑61/08, EU:C:2011:340), dass das in Belgien, Frankreich, Luxemburg, Österreich, Deutschland und Griechenland jeweils für den Zugang zum Notarberuf aufgestellte Staatsangehörigkeitserfordernis eine nach Art. 43 EG (jetzt Art. 49 AEUV) verbotene Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit darstellt. Die Republik Lettland war vor dem Gerichtshof als Streithelferin zur Unterstützung dieser Mitgliedstaaten aufgetreten.

22

Mit Schreiben vom 9. November 2011 wies die Kommission die Republik Lettland auf die in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Entscheidungen hin.

23

Hierauf antwortete die Republik Lettland mit Schreiben vom 5. Januar 2012.

24

Am 22. November 2012 richtete die Kommission eine ergänzende mit Gründen versehene Stellungnahme an die Republik Lettland, in der nur die Fragen erörtert wurden, die der Gerichtshof im Rahmen der in Rn. 21 des vorliegenden Urteils genannten Entscheidungen nicht behandelt hatte.

25

Mit Schreiben vom 21. Januar 2013 antwortete die Republik Lettland auf diese Stellungnahme und legte dar, aus welchen Gründen sie den von der Kommission vertretenen Standpunkt für unbegründet hielt.

26

Unter diesen Umständen hat die Kommission beschlossen, die vorliegende Klage zu erheben.

Zur Klage

Vorbringen der Parteien

27

Nach Ansicht der Kommission sind die Tätigkeiten des Notars in der lettischen Rechtsordnung nicht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 AEUV, wie er durch den Gerichtshof ausgelegt wurde, mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden.

28

Was erstens die Tätigkeit der Beurkundung von Schriftstücken und Verträgen betrifft, macht die Kommission zum einen geltend, dass das Tätigwerden des Notars voraussetze, dass zuvor zwischen den Parteien eine Einigung zustande gekommen sei. Zum anderen dürfe der Notar ein Schriftstück nicht ohne vorherige Einholung der Zustimmung der betroffenen Parteien einseitig ändern. In diesem Zusammenhang nimmt die Kommission Bezug auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach diese Beurkundungstätigkeit einer unmittelbaren und spezifischen Teilhabe an der Ausübung öffentlicher Gewalt nicht gleichgestellt werden könne.

29

Die Beglaubigung der Unterschriften von Bürgern im Rahmen des Verfahrens zur Einreichung von Gesetzgebungsvorschlägen durch Bürger sei ebenso zu beurteilen.

30

Zweitens stellten die Aufgaben des Notars bei der Verwahrung von Geldern, Wertpapieren und Schriftstücken nach Auffassung der Kommission ebenfalls keine Teilhabe an der Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne von Art. 51 Abs. 1 AEUV dar.

31

Drittens seien die Aufgaben des Notars in Erbschaftsangelegenheiten, ebenso wie die in Scheidungsangelegenheiten, nicht streitiger Art, da nach Art. 315 des Notariatsgesetzes über jeden Rechtsstreit auf diesem Gebiet im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens zu entscheiden sei.

32

Nach Ansicht der Kommission haben diese Tätigkeiten vorbereitenden Charakter für die Ausübung öffentlicher Gewalt, da sie zur Erstellung eines Nachlassverzeichnisses, einer Bewertung des Nachlasses und eines Entwurfs der Aufteilung des Nachlasses führten, die der Notar sodann dem Richter zu übermitteln habe. Daher könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Notar in diesem Zusammenhang über eine zwingende Entscheidungsbefugnis verfüge.

33

Viertens hebt die Kommission hinsichtlich der Tätigkeiten des Notars in Scheidungsangelegenheiten hervor, dass den Notaren durch das Notariatsgesetz lediglich der Ausspruch von Scheidungen im gegenseitigen Einverständnis übertragen werde. Bestehe zwischen den Ehegatten Uneinigkeit, sei allein der Richter zuständig. Im Hinblick auf grenzüberschreitende Scheidungen nehme der Notar nur die rein formale Feststellung vor, dass einer der Ehegatten tatsächlich seinen Wohnsitz im lettischen Staatsgebiet habe.

34

Des Weiteren seien der spezielle Charakter des Status des Notars im lettischen Recht, der vom Notar gegenüber dem lettischen Staat zu leistende Treueid, sein Zugang zu Informationen, die der Verantwortung des Staates unterstellt seien und die Verwendung staatlicher Symbole für die Beurteilung der Art der von den Notaren ausgeübten Tätigkeiten nicht unmittelbar maßgeblich.

35

Die Kommission weist insbesondere darauf hin, dass hinsichtlich des speziellen Status der Notare nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs anhand der Art der fraglichen Tätigkeiten für sich genommen und nicht anhand dieses Status als solchem zu prüfen sei, ob die Tätigkeiten unter die in Art. 51 Abs. 1 AEUV vorgesehene Ausnahme fielen.

36

Der Gerichtshof habe festgestellt, dass zwar zutreffe, dass ein Teil des Honorars der Notare gesetzlich festgelegt sei; gleichwohl könne die Qualität der erbrachten Leistungen von Notar zu Notar aufgrund ihrer beruflichen Fähigkeiten schwanken. Daher sei der Gerichtshof zu dem Ergebnis gekommen, dass die Notare ihren Beruf in den Grenzen ihrer jeweiligen örtlichen Zuständigkeiten unter Wettbewerbsbedingungen ausübten, was für die Ausübung öffentlicher Gewalt untypisch sei.

37

Die Republik Lettland, unterstützt durch die Tschechische Republik und Ungarn, bringt erstens vor, dass der Notarberuf nicht als eine unternehmerische Tätigkeit im Sinne von Art. 49 AEUV angesehen werden könne, wie dies in Art. 239 des Notariatsgesetzes bestätigt werde. Nach dieser Vorschrift bestehe die berufliche Tätigkeit der Notare in einer intellektuellen Tätigkeit, die nicht auf die Erzielung von Gewinnen ausgerichtet sei.

38

Außerdem übten die Notare ihren Beruf nicht im freien Wettbewerb aus, da sie weder die Leistungen, die sie erbrächten, noch den Ort ihrer Erbringung oder ihre Bezahlung im Gegenzug für die erbrachten Leistungen auswählten.

39

In jedem Fall übten die Notare in Lettland Tätigkeiten aus, die der Teilhabe an der Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne von Art. 51 Abs. 1 AEUV unterfielen, auch wenn dies bei den Notaren, die in den Mitgliedstaaten praktizierten, bezüglich derer in den in Rn. 21 des vorliegenden Urteils genannten Entscheidungen festgestellt worden sei, dass sie eine Vertragsverletzung begangen hätten, nicht der Fall sei.

40

Zum einen verfüge der Notar nämlich über ein Ermessen, da er es rechtmäßig ablehnen könne, mit illegalen Tätigkeiten im Zusammenhang stehende notarielle Urkunden zu erstellen.

41

Zum anderen seien die von den Notaren in Ausübung ihrer Aufgaben erstellten Urkunden staatliche Schriftstücke.

42

Zweitens sei die Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (ABl. L 255, S. 22) in der durch die Richtlinie 2013/55/EU (ABl. L 354, S. 132) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2005/36) auf Notare nicht anwendbar, wodurch diese vom Anwendungsbereich des freien Dienstleistungsverkehrs und der Niederlassungsfreiheit ausgeschlossen seien.

43

Drittens hebt die Republik Lettland hinsichtlich der von den Notaren ausgeübten Tätigkeiten hervor, dass die Erstellung authentischer Urkunden ein Ausdruck der Ausübung öffentlicher Gewalt sei, da die Beurkundung eines Dokuments dazu führe, dass es Dritten entgegengehalten werden könne.

44

Die vom Notar erstellten authentischen Urkunden besäßen somit volle Beweiskraft und seien vollstreckbar, und der Umstand, dass eine notarielle Urkunde Gegenstand einer gerichtlichen Klage sein könne, bedeute nicht, dass sie ein lediglich unterstützendes oder vorbereitendes Schriftstück sei.

45

Was die Zuständigkeiten des Notars in Erbschaftsangelegenheiten angehe, so übe er seine Aufgaben unabhängig aus und sei damit betraut, Urkunden über die Bestätigung der Rechte der Erben zu erstellen.

46

Hinsichtlich der vom Notar in Scheidungsangelegenheiten ausgeübten Tätigkeiten bringt die Republik Lettland vor, dass es unerheblich sei, dass sich diese Tätigkeiten auf Scheidungen im gegenseitigen Einverständnis beschränkten, da die vom Notar auf diesem Gebiet zu treffende Entscheidung eine endgültige Entscheidung darstelle, die gegenüber den Parteien wie Dritten Geltung entfalte. Der Notar unterliege bei der Erfüllung dieser besonderen Aufgaben, einschließlich dann, wenn die Scheidungen einen grenzüberschreitenden Charakter aufwiesen, keinerlei gerichtlicher Aufsicht.

47

Des Weiteren bestätige der Umstand, dass die Scheidungen im Personenstandsregister eingetragen würden, dass die Aufgabe des Notars auf diesem Gebiet eine Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse darstelle (Urteil Colegio de Oficiales de la Marina Mercante Española, C‑405/01, EU:C:2003:515, Rn. 42).

Würdigung durch den Gerichtshof

48

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in den in Rn. 21 des vorliegenden Urteils genannten Entscheidungen festgestellt hat, dass die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV auf den Notarberuf anwendbar ist.

49

Das Vorbringen der Republik Lettland, wie es in den Rn. 37 und 38 des vorliegenden Urteils zusammengefasst ist, wonach der Notarberuf nicht als unternehmerische Tätigkeit angesehen werden könne, ist nicht geeignet, diese Beurteilung in Frage zu stellen.

50

Zum einen üben die Notare nämlich nach Art. 238 des Notariatsgesetzes einen freien Beruf aus. Zum anderen steht fest, dass – außer in den Fällen, in denen der Notar durch Gesetz bestimmt wird – jede Partei den Notar frei wählen kann. Es trifft zwar zu, dass das Honorar der Notare gesetzlich festgelegt ist; gleichwohl kann die Qualität der erbrachten Leistungen von Notar zu Notar u. a. aufgrund der beruflichen Fähigkeiten der Betreffenden schwanken.

51

Folglich üben die Notare ihren Beruf in den Grenzen ihrer jeweiligen örtlichen Zuständigkeiten unter Wettbewerbsbedingungen aus.

52

Sodann ist darauf hinzuweisen, dass Art. 49 AEUV die Vergünstigung der Inländerbehandlung jedem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats garantieren soll, der sich in einem anderen Mitgliedstaat niederlässt, um dort eine selbständige Erwerbstätigkeit auszuüben, und jede Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit untersagt, die sich aus den nationalen Rechtsvorschriften als Beschränkung der Niederlassungsfreiheit ergibt (vgl. in diesem Sinne Urteile Kommission/Frankreich, 270/83, EU:C:1986:37, Rn. 14, und Kommission/Niederlande, C‑157/09, EU:C:2011:794, Rn. 53).

53

Im vorliegenden Fall behalten die streitigen nationalen Rechtsvorschriften den Zugang zum Beruf des Notars aber einzig lettischen Staatsangehörigen vor; sie schaffen damit eine Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit, die grundsätzlich nach Art. 49 AEUV verboten ist.

54

Die Republik Lettland macht allerdings geltend, die notariellen Tätigkeiten seien vom Anwendungsbereich des Art. 49 AEUV ausgenommen, da sie im Sinne von Art. 51 Abs. 1 AEUV mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden seien.

55

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass in den Rechtssachen, die zu den in Rn. 21 des vorliegenden Urteils genannten Entscheidungen geführt haben, festgestellt wurde, dass die den betreffenden Notaren übertragenen Tätigkeiten nicht mit der unmittelbaren und spezifischen Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs verbunden seien.

56

Daher ist im Licht dieser Rechtsprechung zu prüfen, ob die den Notaren in der lettischen Rechtsordnung übertragenen Tätigkeiten unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind.

57

Als Erstes ist hinsichtlich der Beurkundungstätigkeit unstreitig, dass diese dadurch gekennzeichnet ist, dass der Notar u. a. prüfen muss, dass alle gesetzlichen Voraussetzungen für die Erstellung der Urkunde erfüllt sind.

58

Ferner werden nach den lettischen Rechtsvorschriften Akte oder Verträge, denen sich die Parteien freiwillig unterworfen haben, beurkundet. Die Parteien können nämlich innerhalb der gesetzlich vorgegebenen Grenzen selbst den Umfang ihrer Rechte und Pflichten festlegen und können die Bestimmungen, denen sie sich unterwerfen wollen, frei wählen, wenn sie dem Notar einen Akt oder einen Vertrag zur Beurkundung unterbreiten. Dessen Tätigwerden setzt daher voraus, dass zuvor eine Einigung der Parteien oder eine Willensübereinstimmung zwischen ihnen zustande gekommen ist.

59

In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof entschieden, dass die Beurkundungstätigkeit der Notare als solche nicht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 AEUV mit einer unmittelbaren und spezifischen Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden ist (vgl. entsprechend u. a. Urteil Kommission/Belgien, C‑47/08, EU:C:2011:334, Rn. 92).

60

Zwar verfolgt der Notar, wie die Lettische Republik hervorhebt, wenn er vor Vornahme der Beurkundung eines Aktes oder Vertrags prüfen muss, dass alle gesetzlichen Voraussetzungen für die Erstellung des Aktes oder des Vertrags erfüllt sind, das im Allgemeininteresse liegende Ziel, die Rechtmäßigkeit und die Rechtssicherheit von Akten zwischen Privatpersonen zu gewährleisten. Die bloße Verfolgung dieses Ziels kann es jedoch nicht rechtfertigen, die dafür erforderlichen Vorrechte Notaren mit der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats vorzubehalten (Urteil Kommission/Belgien, C‑47/08, EU:C:2011:334, Rn. 94 und 95).

61

Es trifft auch zu, dass der Notar die Beurkundung eines Akts oder eines Vertrags, der nicht die gesetzlich vorgeschriebenen Voraussetzungen erfüllt, verweigern muss, und zwar unabhängig vom Willen der Parteien. Nach einer solchen Weigerung steht es den Parteien jedoch frei, die festgestellte Regelwidrigkeit abzustellen, die Bestimmungen des fraglichen Akts oder Vertrags zu ändern oder auf diesen Akt oder Vertrag zu verzichten (vgl. Urteil Kommission/Belgien, C‑47/08, EU:C:2011:334, Rn. 98).

62

Somit ist festzustellen, dass die Republik Lettland – mit Ausnahme des Vorbringens zur Wirksamkeit des Schriftstücks gegenüber Dritten, das jedoch keinen Erfolg haben kann, da diese Wirksamkeit nur mit der Beweiskraft des Schriftstücks in Verbindung steht – keinen Gesichtspunkt vorgebracht hat, der es ermöglichte, die notariellen Tätigkeiten in diesem Mitgliedstaat von denjenigen in den Mitgliedstaaten zu unterscheiden, bezüglich derer in den in Rn. 21 des vorliegenden Urteils genannten Entscheidungen festgestellt worden ist, dass sie eine Vertragsverletzung begangen haben.

63

Des Weiteren kann angesichts der Erwägungen in den Rn. 60 und 61 des vorliegenden Urteils auch die Beglaubigung der Unterschriften von Bürgern durch den Notar im Rahmen des Verfahrens zur Einreichung von Gesetzgebungsvorschlägen durch Bürger nicht als Teilhabe an der Ausübung öffentlicher Gewalt angesehen werden.

64

Als Zweites ist zu prüfen, ob die anderen dem Notar in der lettischen Rechtsordnung übertragenen Tätigkeiten, auf die die Republik Lettland Bezug nimmt, unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind.

65

Erstens ist hinsichtlich der Tätigkeiten in Bezug auf die Verwahrung von Geldern, Wertpapieren und Schriftstücken festzustellen, dass die Republik Lettland nicht in Abrede gestellt hat, dass diese Tätigkeiten nicht mit der Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne von Art. 51 Abs. 1 AEUV verbunden sind.

66

Zweitens ist im Hinblick auf die in Erbschaftsangelegenheiten wahrgenommenen Aufgaben zum einen hervorzuheben, dass der Notar die Aufteilung des Nachlasses nur dann vornehmen darf, wenn keine Uneinigkeit zwischen den Erben besteht, und dass er zum anderen bei bestehender Uneinigkeit verpflichtet ist, das Verzeichnis und die Bewertung des Nachlasses sowie den Entwurf der Aufteilung des Nachlasses nach Art. 250.3 Abs. 5 der Zivilprozessordnung dem Richter vorzulegen.

67

Da die dem Notar in Erbschaftsangelegenheiten übertragenen Aufgaben somit entweder auf Konsensbasis oder als vorbereitende Aufgaben unter der Aufsicht des Richters ausgeübt werden, können sie folglich als solche nicht als unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden angesehen werden.

68

Drittens ist hinsichtlich der in Scheidungsangelegenheiten ausgeübten Tätigkeiten festzustellen, dass der Notar nach den Art. 325 und 327 des Notariatsgesetzes einzig in dem Fall für die Auflösung einer Ehe zuständig ist, dass beide Ehegatten ihr Einverständnis zum Grundsatz der Scheidung zum Ausdruck gebracht haben und wenn sie, falls sie ein gemeinsames Kind haben oder zusammen Eigentum besitzen, einen Vertrag über das Sorgerecht für das Kind, die Modalitäten des Besuchsrechts und die für den Kindesunterhalt erforderlichen Mittel oder die Aufteilung des Eigentums geschlossen haben.

69

Hinsichtlich der anderen Fälle von Scheidungen geht aus dem Text des Art. 233 der Zivilprozessordnung, der Teil von Kapitel 29 („Gesichtspunkte der Aufhebung und Auflösung der Ehe“) ist, hervor, dass diese Sachen in die Zuständigkeit der Gerichte fallen.

70

Daher ist festzustellen, dass die Zuständigkeit des Notars in Scheidungsangelegenheiten, die ausschließlich auf dem Willen der Parteien beruht und die Vorrechte des Richters im Fall von Uneinigkeit zwischen den Parteien unberührt lässt, nicht unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden ist.

71

Bezüglich des Vorbringens zum Umstand, dass in Lettland die vom Notar ausgesprochene Scheidung im gegenseitigen Einverständnis von den Personenstandsämtern eingetragen wird, das die Republik Lettland auf das Urteil Colegio de Oficiales de la Marina Mercante Española (C‑405/01, EU:C:2003:515) stützt, geht aus Rn. 42 dieses Urteils hervor, dass der Gerichtshof bei seiner Entscheidung, dass die den Kapitänen und Ersten Offizieren der Handelsschiffe unter spanischer Flagge übertragenen Aufgaben eine Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse darstellen, auf die Gesamtheit der von diesen ausgeübten Aufgaben abgestellt hat, einschließlich der Rechte im Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung der Sicherheit und der Ausübung polizeilicher Befugnisse, die gegebenenfalls mit Untersuchungs-, Zwangs- oder Sanktionsbefugnissen verbunden sind, und nicht nur auf die Aufgaben der Kapitäne und Ersten Offizieren in Personenstandssachen.

72

Das in Rn. 70 des vorliegenden Urteils genannte Ergebnis wird auch nicht durch die den Notaren bei grenzüberschreitenden Ehescheidungen übertragene Zuständigkeit in Frage gestellt, da zum einen diese Scheidungen auf dem gemeinsamen Willen der Ehegatten zur Auflösung ihrer Ehe beruhen und zum anderen die Aufgabe des Notars in diesem Zusammenhang darin besteht, zu prüfen, dass alle gesetzlichen Voraussetzungen für den Ausspruch einer solchen Scheidung vorliegen. Wie sich jedoch aus den Rn. 60 und 61 des vorliegenden Urteils ergibt, kann diese Aufgabe nicht als unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden angesehen werden.

73

Drittens genügt zum speziellen Status der Notare in der lettischen Rechtsordnung der Hinweis, dass anhand der Art der fraglichen Tätigkeiten für sich genommen und nicht anhand dieses Status als solchem zu prüfen ist, ob die Tätigkeiten unter die in Art. 51 Abs. 1 AEUV vorgesehene Ausnahme fallen (vgl. u. a. Urteil Kommission/Belgien, C‑47/08, EU:C:2011:334, Rn. 85).

74

Des Weiteren steht fest, wie in Rn. 51 des vorliegenden Urteils ausgeführt, dass die Notare ihren Beruf unter Wettbewerbsbedingungen ausüben, was für die Ausübung öffentlicher Gewalt untypisch ist (vgl. entsprechend u. a. Urteil Kommission/Belgien, C‑47/08, EU:C:2011:334, Rn. 117).

75

Schließlich vermag auch das Argument, das die Republik Lettland daraus ableitet, dass die Richtlinie 2005/36 auf Notare nicht anwendbar ist, nicht zu überzeugen. Der Ausschluss der notariellen Tätigkeiten vom Anwendungsbereich eines Rechtsakts, im vorliegenden Fall dieser Richtlinie, durch den Gesetzgeber bedeutet nämlich nicht, dass diese Tätigkeiten zwangsläufig unter die in Art. 51 Abs. 1 AEUV vorgesehene Ausnahme fallen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil Kommission/Belgien, C‑47/08, EU:C:2011:334, Rn. 119).

76

Unter diesen Umständen sind die notariellen Tätigkeiten nach ihrer gegenwärtigen Definition in der lettischen Rechtsordnung nicht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 AEUV mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden.

77

Folglich ist festzustellen, dass das in den lettischen Rechtsvorschriften aufgestellte Staatsangehörigkeitserfordernis für den Zugang zum Notarberuf eine nach Art. 49 AEUV verbotene Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit darstellt.

78

Nach alledem ist die Klage der Kommission begründet.

Kosten

79

Gemäß Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung der Republik Lettland beantragt hat und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

80

Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Daher tragen die Tschechische Republik und Ungarn ihre eigenen Kosten.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

 

1.

Die Republik Lettland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 49 AEUV verstoßen, dass sie für den Zugang zum Beruf des Notars eine Staatsangehörigkeitsvoraussetzung aufgestellt hat.

 

2.

Die Republik Lettland trägt die Kosten.

 

3.

Die Tschechische Republik trägt ihre eigenen Kosten.

 

4.

Ungarn trägt seine eigenen Kosten.

 

Unterschriften


( *1 )   Verfahrenssprache: Lettisch.

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