Urteil vom Europäischer Gerichtshof - C-69/14

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

6. Oktober 2015 ( * )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität — Rechtskraft — Rückforderung zu viel gezahlter Beträge — Erstattung der von einem Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuern — Rechtskräftige gerichtliche Entscheidung, mit der die Zahlung einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren Steuer auferlegt wird — Antrag auf Wiederaufnahme bezüglich einer solchen gerichtlichen Entscheidung — Nationale Rechtsvorschriften, die die Wiederaufnahme im Hinblick auf in Vorabentscheidungsverfahren ergangene spätere Urteile des Gerichtshofs ausschließlich für in Verwaltungssachen ergangene rechtskräftige gerichtliche Entscheidungen ermöglichen“

In der Rechtssache C‑69/14

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Sibiu (Landgericht Sibiu, Rumänien) mit Entscheidung vom 16. Januar 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Februar 2014, in dem Verfahren

Dragoș Constantin Târșia

gegen

Statul român,

Serviciul public comunitar regim permise de conducere și înmatriculare a autovehiculelor

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidenten M. Ilešič (Berichterstatter), L. Bay Larsen, T. von Danwitz, A. Ó Caoimh und J.‑C. Bonichot, des Richters A. Arabadjiev, der Richterinnen C. Toader, M. Berger und A. Prechal sowie der Richter E. Jarašiūnas und C. G. Fernlund,

Generalanwalt: N. Jääskinen,

Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. Januar 2015,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn Târșia, vertreten durch sich selbst,

der rumänischen Regierung, vertreten durch R. Radu, V. Angelescu und D. Bulancea als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, B. Czech und K. Pawłowska als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Lyal und G.‑D. Bălan als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 23. April 2015

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 110 AEUV, von Art. 6 EUV, der Art. 17, 20, 21 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts.

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Târşia auf der einen und dem Statul român (rumänischer Staat), vertreten durch das Ministerul Finanţelor şi Economiei (Ministerium für Finanzen und Wirtschaft), sowie dem Serviciul public comunitar regim permise de conducere şi înmatriculare a autovehiculelor (Amt für öffentliche Angelegenheiten, Referat Fahrerlaubnisse und Fahrzeugzulassungen) auf der anderen Seite wegen eines Antrags auf Wiederaufnahme bezüglich einer rechtskräftigen Entscheidung eines nationalen Gerichts, mit der Herrn Târşia die Zahlung einer Steuer auferlegt wurde, die später für mit dem Unionsrecht unvereinbar erklärt wurde.

Rumänisches Recht

3

Art. 21 des Gesetzes Nr. 554/2004 über das verwaltungsgerichtliche Verfahren (Legea contenciosului administrativ nr. 554/2004) vom 2. Dezember 2004 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 1154 vom 7. Dezember 2004, im Folgenden: Gesetz über das verwaltungsgerichtliche Verfahren) in der zum Zeitpunkt der Stellung des Wiederaufnahmeantrags geltenden Fassung sah vor:

„(1)   Gegen rechtskräftige und unwiderrufliche Entscheidungen der Verwaltungsgerichte sind die nach der Zivilprozessordnung vorgesehenen Rechtsbehelfe statthaft.

(2)   Die Verkündung rechtskräftiger und unwiderruflicher Entscheidungen unter Verstoß gegen den in Art. 148 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 der neu bekannt gemachten Verfassung Rumäniens normierten Grundsatz des Vorrangs des [Unions]rechts stellt einen Wiederaufnahmegrund dar, der neben die in der Zivilprozessordnung geregelten Wiederaufnahmegründe tritt. Der Wiederaufnahmeantrag ist innerhalb von 15 Tagen ab Übermittlung der Entscheidung einzureichen, die abweichend von der in Art. 17 Abs. 3 festgelegten Regel auf gebührend begründeten Antrag der betroffenen Partei innerhalb von 15 Tagen ab Verkündung erfolgt. Über den Wiederaufnahmeantrag ist dringlich und vorrangig innerhalb von 60 Tagen nach seiner Eintragung in das Gerichtsregister zu entscheiden.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

4

Herr Târşia, ein rumänischer Staatsangehöriger, erwarb am 3. Mai 2007 in Frankreich ein Gebrauchtfahrzeug. Für die Zulassung dieses Fahrzeugs in Rumänien musste er am 5. Juni 2007 nach Art. 2141 und Art. 2142 des Steuergesetzbuchs in der zum Zeitpunkt der Zulassung des Fahrzeugs geltenden Fassung einen Betrag von 6899,51 RON (ungefähr 1560 Euro) als Sondersteuer für Pkw entrichten.

5

Da Herr Târşia der Auffassung war, dass diese Steuer mit Art. 110 AEUV unvereinbar sei, erhob er bei der Judecătorie Sibiu (Amtsgericht Sibiu) eine zivilrechtliche Klage auf Erstattung der genannten Steuer. Dieses Gericht gab der Klage mit Urteil vom 13. Dezember 2007 mit der Begründung statt, dass die Steuer gegen Art. 110 AEUV verstoße.

6

Der rumänische Staat, vertreten durch den Minister für Finanzen und Wirtschaft, erhob gegen dieses Urteil Kassationsbeschwerde. Mit der Entscheidung Nr. 401/2008 begrenzte die Zivilkammer des Tribunal Sibiu (Landgericht Sibiu) die Erstattung der von Herrn Târşia entrichteten Sondersteuer für Pkw auf einen Betrag in Höhe der Differenz zwischen dieser Steuer und der nach der Dringlichkeitsverordnung Nr. 50/2008 der Regierung zur Einführung einer Umweltsteuer für Kraftfahrzeuge (Ordonanţă de urgenţă a Guvernului nr. 50/2008 pentru instituirea taxei pe poluare pentru autovehicule) vom 21. April 2008 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 327 vom 25. April 2008) geschuldeten späteren Umweltsteuer.

7

Diese Entscheidung ist Gegenstand eines Wiederaufnahmeantrags, den Herr Târşia am 29. September 2011 beim Tribunal Sibiu einreichte. Herr Târşia beantragt nach Art. 21 Abs. 2 des Gesetzes über das verwaltungsgerichtliche Verfahren zum einen die Aufhebung der Entscheidung Nr. 401/2008 dieses Gerichts und zum anderen eine erneute Entscheidung. Zur Begründung führt er an, der Gerichtshof habe im Urteil Tatu (C‑402/09, EU:C:2011:219) für Recht erkannt, dass Art. 110 AEUV eine Steuer wie die Umweltsteuer nach der genannten Dringlichkeitsverordnung Nr. 50/2008 der Regierung verbiete. Daher sei der Kassationsbeschwerde des rumänischen Staates unter Verstoß gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts stattgegeben worden, so dass ihm die Sondersteuer für Pkw in voller Höhe erstattet werden müsse.

8

Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass die für zivilrechtliche Streitsachen geltenden Verfahrensvorschriften keine Möglichkeit vorsähen, bezüglich einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung einen Wideraufnahmeantrag wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht zu stellen, während nach den für verwaltungsrechtliche Streitsachen geltenden Vorschriften ein solcher Antrag gestellt werden könne.

9

Unter diesen Umständen hat das Tribunal Sibiu beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Können die Art. 17, 20, 21 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 6 EUV, Art. 110 AEUV und der sich aus dem Unionsrecht und der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebende Grundsatz der Rechtssicherheit dahin ausgelegt werden, dass sie einer Regelung wie Art. 21 Abs. 2 des Gesetzes über das verwaltungsgerichtliche Verfahren entgegenstehen, die bei einem Verstoß gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ausschließlich für in verwaltungsrechtlichen Streitsachen ergangene nationale gerichtliche Entscheidungen die Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens vorsieht, diese Möglichkeit für gerichtliche Entscheidungen, die in anderen Bereichen als verwaltungsrechtlichen Streitsachen (Zivil- oder Strafsachen) ergangen sind und gegen den genannten Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen, jedoch nicht eröffnet?

Zur Vorlagefrage

Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

10

Nach Ansicht der rumänischen Regierung ist das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen unzulässig. Sie trägt insoweit erstens vor, dass das Rechtsverhältnis zwischen Herrn Târşia und dem rumänischen Staat unter das Steuerrecht falle. Daher gelte für den Antrag von Herrn Târşia das Steuerverfahrensrecht, das unter das Verwaltungsgerichtsverfahrensrecht falle. Unter diesen Umständen sei das vorlegende Gericht – obgleich der Antrag auf Wiederaufnahme bezüglich dieser Entscheidung beim für Zivilsachen zuständigen Spruchkörper dieses Gerichts, der die Entscheidung Nr. 401/2008 erlassen habe, gestellt worden sei – verpflichtet, das Verwaltungsgerichtsverfahrensrecht einschließlich der Bestimmungen über den Wiederaufnahmegrund in Art. 21 Abs. 2 des Gesetzes über das verwaltungsgerichtliche Verfahren anzuwenden.

11

Zweitens hätte Herr Târşia einen außerordentlichen Antrag auf Aufhebung der genannten Entscheidung stellen können. Dieser Rechtsbehelf hätte es ermöglicht, die betreffende Rechtssache an den für verwaltungsgerichtliche Streitigkeiten zuständigen Spruchkörper zu verweisen, der Art. 21 Abs. 2 des Gesetzes über das verwaltungsgerichtliche Verfahren hätte anwenden können. Da die rumänische Rechtsordnung einen effektiven Rechtsbehelf vorsehe, mit dem die Vereinbarkeit der Situation von Herrn Târşia mit dem Unionsrecht gewährleistet werden könne, sei die Beantwortung der Frage für die Entscheidung des beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits nicht zweckdienlich.

12

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat (Urteile Fish Legal und Shirley, C‑279/12, EU:C:2013:853, Rn. 30, und Verder LabTec, C‑657/13, EU:C:2015:331, Rn. 29).

13

Insbesondere ist es nicht Sache des Gerichtshofs, im Rahmen des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Systems der justiziellen Zusammenarbeit die Richtigkeit der Auslegung des nationalen Rechts durch das nationale Gericht zu überprüfen oder in Frage zu stellen, da diese Auslegung in die ausschließliche Zuständigkeit dieses Gerichts fällt. Der Gerichtshof hat demnach, wenn ihm ein nationales Gericht ein Vorabentscheidungsersuchen vorlegt, von der Auslegung des nationalen Rechts auszugehen, die ihm dieses Gericht vorgetragen hat (vgl. in diesem Sinne Urteile Winner Wetten, C‑409/06, EU:C:2010:503, Rn. 35, Padawan, C‑467/08, EU:C:2010:620, Rn. 22, und Logstor ROR Polska, C‑212/10, EU:C:2011:404, Rn. 30).

14

Im Übrigen darf der Gerichtshof die Entscheidung über ein Ersuchen eines nationalen Gerichts nur dann verweigern, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteile Nicula, C‑331/13, EU:C:2014:2285, Rn. 23, und Verder LabTec, C‑657/13, EU:C:2015:331, Rn. 29).

15

Folgte man dem Vorbringen der rumänischen Regierung, wonach das vorlegende Gericht verpflichtet sei, die verwaltungsgerichtlichen Verfahrensvorschriften anzuwenden, obwohl es mit einem Antrag auf Wiederaufnahme bezüglich einer gerichtlichen Entscheidung befasst sei, die im Rahmen einer Klage zivilrechtlicher Natur ergangen sei, liefe dies im vorliegenden Fall auf eine Auslegung des nationalen Rechts hinaus, die jedoch allein in die Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts fällt.

16

Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist Art. 21 Abs. 2 des Gesetzes über das verwaltungsgerichtliche Verfahren – der die Möglichkeit der Wiederaufnahme bezüglich rechtskräftiger, im Rahmen einer Verwaltungsklage ergangener gerichtlicher Entscheidungen vorsieht – aber im Ausgangsverfahren nicht anwendbar, da dieses zivilrechtlicher Natur ist.

17

Im Übrigen ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass sich die Qualifizierung der Rechtsbeziehungen, die durch eine gegen das Unionsrecht verstoßende Erhebung einer Abgabe zwischen der Finanzverwaltung eines Mitgliedstaats und den Steuerpflichtigen entstehen, zum Zweck der Festsetzung der Modalitäten für die Erstattung dieser Abgabe nach nationalem Recht bestimmt (vgl. in diesem Sinne Urteil IN. CO. GE.’90 u. a., C‑10/97 bis C‑22/97, EU:C:1998:498, Rn. 26).

18

Die erste von der rumänischen Regierung erhobene Einrede der Unzulässigkeit ist daher zurückzuweisen.

19

Was die Einrede der Unzulässigkeit betrifft, die darauf gestützt wird, dass die nationale Rechtsordnung effektive Rechtsbehelfe vorsehe, die es Herrn Târşia in jedem Fall ermöglicht hätten, seinen Anspruch durchzusetzen, genügt der Hinweis, dass allein das nationale Gericht – das im Ausgangsverfahren die Frage nach der Möglichkeit einer Wideraufnahme bezüglich einer im Rahmen einer Klage zivilrechtlicher Natur ergangenen rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung aufwirft – im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen hat. Der Gerichtshof ist nämlich grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen (vgl. in diesem Sinne Urteile Transportes Urbanos y Servicios Generales, C‑118/08, EU:C:2010:39, Rn. 25, und Nicula, C‑331/13, EU:C:2014:2285, Rn. 21).

20

Da die dem Gerichtshof vorgelegten Akten keine Angaben enthalten, die den Schluss zuließen, dass die erbetene Auslegung des Unionsrechts für das vorlegende Gericht nicht zweckdienlich wäre, kann die zweite Einrede der Unzulässigkeit der rumänischen Regierung nicht durchgreifen.

21

Nach der in Rn. 14 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung muss die erbetene Auslegung des Unionsrechts jedoch mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits in Zusammenhang stehen. Das vorlegende Gericht ersucht den Gerichtshof mit seiner Frage aber um die Auslegung des Unionsrechts im Hinblick auf eine nationale Regelung, nach der die Wiederaufnahme bezüglich rechtskräftiger, in Zivil- und Strafsachen ergangener Entscheidungen, die mit dem Unionsrecht unvereinbar sind, nicht möglich ist. Da aus den Akten eindeutig hervorgeht, dass das Ausgangsverfahren keinen strafrechtlichen Charakter hat, ist, wie die rumänische und die polnische Regierung vorgetragen haben, festzustellen, dass eine Antwort des Gerichtshofs insoweit offensichtlich in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits stünde.

22

Nach alledem ist festzustellen, dass das Vorabentscheidungsersuchen zulässig ist, soweit es sich nicht auf die Unmöglichkeit der Wiederaufnahme bezüglich rechtskräftiger gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen bezieht, die mit dem Unionsrecht unvereinbar sind.

Zur Beantwortung der Frage

23

Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass aus den Akten hervorgeht, dass Herr Târşia mit einer gerichtlichen Entscheidung, die im Rahmen einer Klage zivilrechtlicher Natur erging, zur Zahlung der Umweltsteuer für Kraftfahrzeuge verurteilt wurde, die der Gerichtshof im Urteil Tatu (C‑402/09, EU:C:2011:219) – das nach dem Zeitpunkt erging, zu dem diese gerichtliche Entscheidung rechtskräftig wurde – im Wesentlichen für mit Art. 110 AEUV unvereinbar erklärt hat.

24

Nach ständiger Rechtsprechung stellt der Anspruch auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen Vorschriften des Unionsrechts erhoben hat, eine Folge und eine Ergänzung der Rechte dar, die dem Einzelnen aus den diesen Abgaben entgegenstehenden Bestimmungen des Unionsrechts in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof erwachsen. Die Mitgliedstaaten sind also grundsätzlich verpflichtet, unionsrechtswidrig erhobene Abgaben zu erstatten (Urteile Littlewoods Retail u. a., C‑591/10, EU:C:2012:478, Rn. 24, Irimie, C‑565/11, EU:C:2013:250, Rn. 20, und Nicula, C‑331/13, EU:C:2014:2285, Rn. 27).

25

Außerdem hat der Einzelne, wenn ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen Vorschriften des Unionsrechts Steuern erhoben hat, Anspruch auf Erstattung nicht nur der zu Unrecht erhobenen Steuer, sondern auch der Beträge, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dieser Steuer an diesen Staat gezahlt oder von ihm einbehalten wurden. Daraus folgt, dass sich der Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuerbeträge zuzüglich Zinsen zu erstatten, aus dem Unionsrecht ergibt (vgl. in diesem Sinne Urteile Littlewoods Retail u. a., C‑591/10, EU:C:2012:478, Rn. 25 und 26, sowie Irimie, C‑565/11, EU:C:2013:250, Rn. 21 und 22).

26

In Ermangelung einer Unionsregelung zur Erstattung zu Unrecht erhobener nationaler Steuern ist es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache jedes Mitgliedstaats, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der den Steuerpflichtigen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen (vgl. in diesem Sinne Urteile Rewe-Zentralfinanz und Rewe-Zentral, 33/76, EU:C:1976:188, Rn. 5, Aprile, C‑228/96, EU:C:1998:544, Rn. 18, und Test Claimants in the Franked Investment Income Group Litigation, C‑362/12, EU:C:2013:834, Rn. 31).

27

Die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Steuerpflichtigen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, dürfen jedoch nicht weniger günstig ausgestaltet sein als die für entsprechende innerstaatliche Klagen (Grundsatz der Äquivalenz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität) (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile Rewe-Zentralfinanz und Rewe-Zentral, 33/76, EU:C:1976:188, Rn. 5, Transportes Urbanos y Servicios Generales, C‑118/08, EU:C:2010:39, Rn. 31, und Test Claimants in the Franked Investment Income Group Litigation, C‑362/12, EU:C:2013:834, Rn. 32).

28

Soweit der Erstattung einer für mit dem Unionsrecht unvereinbar erklärten Steuer im vorliegenden Fall eine rechtskräftige, zur Zahlung dieser Steuer verpflichtende gerichtliche Entscheidung entgegensteht, ist auf die Bedeutung hinzuweisen, die die Rechtskraft sowohl in der Unionsrechtsordnung als auch in den nationalen Rechtsordnungen hat. Zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege sollen nämlich nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordene Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden können (Urteil Impresa Pizzarotti, C‑213/13, EU:C:2014:2067, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29

Daher gebietet es das Unionsrecht einem nationalen Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Gerichtsentscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren nationalen Situation abgeholfen werden könnte (Urteil Impresa Pizzarotti, C‑213/13, EU:C:2014:2067, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30

Besteht für das nationale Gericht nach den anwendbaren innerstaatlichen Verfahrensvorschriften unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, eine rechtskräftig gewordene Entscheidung rückgängig zu machen, um die Situation mit dem nationalen Recht in Einklang zu bringen, muss jedoch, sofern diese Voraussetzungen erfüllt sind, nach den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht werden, damit die Vereinbarkeit der in Rede stehenden Situation mit dem Unionsrecht wiederhergestellt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil Impresa Pizzarotti, C‑213/13, EU:C:2014:2067, Rn. 62).

31

In Anbetracht der vorstehenden einleitenden Erwägungen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht wissen möchte, ob das Unionsrecht – insbesondere die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität – dahin auszulegen ist, dass es der Tatsache entgegensteht, dass ein nationales Gericht keine Möglichkeit zur Wiederaufnahme bezüglich einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung hat, die im Rahmen einer Klage zivilrechtlicher Natur ergangen ist, wenn sich diese Entscheidung als unvereinbar mit einer Auslegung des Unionsrechts erweist, die der Gerichtshof nach dem Zeitpunkt vorgenommen hat, zu dem die genannte Entscheidung rechtskräftig geworden ist, während bei rechtskräftigen, mit dem Unionsrecht unvereinbaren gerichtlichen Entscheidungen, die im Rahmen von Klagen verwaltungsrechtlicher Natur ergangen sind, eine solche Möglichkeit besteht.

Zum Grundsatz der Äquivalenz

32

Aus der in Rn. 27 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung geht hervor, dass der Grundsatz der Äquivalenz den Mitgliedstaaten verbietet, die Verfahrensmodalitäten für Klagen auf Erstattung einer unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Abgabe weniger günstig auszugestalten als die für entsprechende Klagen, mit denen ein Verstoß gegen innerstaatliches Recht gerügt wird (vgl. auch Urteil Weber’s Wine World u. a., C‑147/01, EU:C:2003:533, Rn. 104).

33

Das vorlegende Gericht ersucht den Gerichtshof mit seiner Frage jedoch, zum Zweck der Anwendung des genannten Grundsatzes auf die Nichtbeachtung des Unionsrechts gestützte gerichtliche Rechtsbehelfe verwaltungsrechtlicher Natur einerseits und auf die Nichtbeachtung des Unionsrechts gestützte gerichtliche Rechtsbehelfe zivilrechtlicher Natur andererseits zu vergleichen.

34

Wie der Generalanwalt in Nr. 49 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, verlangt der Grundsatz der Äquivalenz die Gleichbehandlung auf einen Verstoß gegen das nationale Recht gestützter Rechtsbehelfe und entsprechender, auf einen Verstoß gegen das Unionsrecht gestützter Rechtsbehelfe, nicht aber die Gleichwertigkeit nationaler Verfahrensvorschriften, die für Streitsachen unterschiedlicher Natur gelten, z. B. – wie im Ausgangsverfahren – zivilrechtliche Streitsachen auf der einen und verwaltungsrechtliche Streitsachen auf der anderen Seite. Außerdem kommt dem Grundsatz der Äquivalenz in einer Situation, die wie im Ausgangsverfahren zwei Arten von Rechtsbehelfen betrifft, die beide auf einem Verstoß gegen das Unionsrecht beruhen, keine Bedeutung zu (Urteil ÖBB Personenverkehr, C‑417/13, EU:C:2015:38, Rn. 74).

35

Folglich steht der Grundsatz der Äquivalenz der Tatsache nicht entgegen, dass ein nationales Gericht keine Möglichkeit zur Wiederaufnahme bezüglich einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung hat, die im Rahmen einer Klage zivilrechtlicher Natur ergangen ist, wenn sich diese Entscheidung als unvereinbar mit einer Auslegung des Unionsrechts erweist, die der Gerichtshof nach dem Zeitpunkt vorgenommen hat, zu dem die genannte Entscheidung rechtskräftig geworden ist, während bei rechtskräftigen, mit dem Unionsrecht unvereinbaren gerichtlichen Entscheidungen, die im Rahmen von Klagen verwaltungsrechtlicher Natur ergangen sind, eine solche Möglichkeit besteht.

Zum Grundsatz der Effektivität

36

Bezüglich des Grundsatzes der Effektivität ist darauf hinzuweisen, dass jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Ausübung der den Bürgern durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung der betreffenden Vorschriften im gesamten Verfahren, des Ablaufs dieses Verfahrens und der Besonderheiten dieser Vorschriften vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Asturcom Telecomunicaciones, C‑40/08, EU:C:2009:615, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37

Im Hinblick darauf sind gegebenenfalls Grundsätze zu berücksichtigen, die dem betreffenden nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens (vgl. u. a. Urteile Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 27, sowie Agrokonsulting-04, C‑93/12, EU:C:2013:432, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38

Wie aus Rn. 28 des vorliegenden Urteils hervorgeht, hat der Gerichtshof jedoch mehrfach auf die Bedeutung des Grundsatzes der Rechtskraft hingewiesen (vgl. in diesem Sinne auch Urteil Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 38). So ist entschieden worden, dass das Unionsrecht nicht verlangt, dass ein Rechtsprechungsorgan eine in Rechtskraft erwachsene Entscheidung nach einer späteren Auslegung einer einschlägigen unionsrechtlichen Bestimmung durch den Gerichtshof grundsätzlich rückgängig zu machen hat, um dieser Auslegung Rechnung zu tragen (Urteil Impresa Pizzarotti, C‑213/13, EU:C:2014:2067, Rn. 60).

39

Im vorliegenden Fall ergeben sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten keine besonderen Umstände des Ausgangsverfahrens, die es rechtfertigen würden, von dem Ansatz abzuweichen, den der Gerichtshof in der in den Rn. 28 und 29 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung verfolgt hat und der dahin geht, dass das Unionsrecht es einem nationalen Gericht nicht gebietet, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Gerichtsentscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren nationalen Situation abgeholfen werden könnte.

40

Da die rechtskräftige gerichtliche Entscheidung, mit der Herr Târşia die Zahlung einer Steuer auferlegt wurde, die später im Wesentlichen für mit dem Unionsrecht unvereinbar erklärt wurde, von einem letztinstanzlichen nationalen Gericht erlassen wurde, ist allerdings darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung dem Einzelnen insbesondere aufgrund des Umstands, dass eine Verletzung aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte durch eine solche Entscheidung regelmäßig nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, nicht die Befugnis genommen werden darf, den Staat haftbar zu machen, um auf diesem Weg einen gerichtlichen Schutz seiner Rechte zu erlangen (vgl. in diesem Sinne Urteile Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 34, und Traghetti del Mediterraneo, C‑173/03, EU:C:2006:391, Rn. 31).

41

Nach alledem ist auf die Frage zu antworten, dass das Unionsrecht – insbesondere die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität – dahin auszulegen ist, dass es unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens der Tatsache nicht entgegensteht, dass ein nationales Gericht keine Möglichkeit zur Wiederaufnahme bezüglich einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung hat, die im Rahmen einer Klage zivilrechtlicher Natur ergangen ist, wenn sich diese Entscheidung als unvereinbar mit einer Auslegung des Unionsrechts erweist, die der Gerichtshof nach dem Zeitpunkt vorgenommen hat, zu dem die genannte Entscheidung rechtskräftig geworden ist, während bei rechtskräftigen, mit dem Unionsrecht unvereinbaren gerichtlichen Entscheidungen, die im Rahmen von Klagen verwaltungsrechtlicher Natur ergangen sind, eine solche Möglichkeit besteht.

Kosten

42

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

Das Unionsrecht – insbesondere die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität – ist dahin auszulegen, dass es unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens dem nicht entgegensteht, dass ein nationales Gericht keine Möglichkeit zur Wiederaufnahme bezüglich einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung hat, die im Rahmen einer Klage zivilrechtlicher Natur ergangen ist, wenn sich diese Entscheidung als unvereinbar mit einer Auslegung des Unionsrechts erweist, die der Gerichtshof der Europäischen Union nach dem Zeitpunkt vorgenommen hat, zu dem die genannte Entscheidung rechtskräftig geworden ist, während bei rechtskräftigen, mit dem Unionsrecht unvereinbaren gerichtlichen Entscheidungen, die im Rahmen von Klagen verwaltungsrechtlicher Natur ergangen sind, eine solche Möglichkeit besteht.

 

Unterschriften


( * )   Verfahrenssprache: Rumänisch.

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Referenzen

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