Schlussantrag des Generalanwalts vom Europäischer Gerichtshof - C-145/15, C-146/15

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 14. Januar 2016 ( 1 )

Verbundene Rechtssachen C‑145/15 und C‑146/15

K. Ruijssenaars,

A. Jansen (C‑145/15),

J. H. Dees-Erf (C‑146/15)

gegen

Staatssecretaris van Infrastructuur en Milieu

(Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State [Staatsrat, Niederlande])

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Luftverkehr — Verordnung (EG) Nr. 261/2004 — Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste — Annullierung eines Flugs — Art. 16 — Nationale Stellen, die für die Durchsetzung der Verordnung zuständig sind — Subjektive Rechte — Rolle der nationalen Stellen, die für die Durchsetzung der Verordnung zuständig sind — Individuelle Beschwerde — Sanktionen“

1. 

Mit seiner Frage möchte der Raad van State (Staatsrat) wissen, ob nach Art. 16 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 ( 2 ) eine für die Durchsetzung der Verordnung zuständige nationale Stelle verpflichtet ist, Durchsetzungsmaßnahmen zu erlassen, um ein Luftfahrtunternehmen dazu anzuhalten, einem Fluggast eine Ausgleichsleistung zu zahlen, die ihm aufgrund der Verspätung oder der Annullierung eines Flugs gemäß den Art. 5 und 7 der Verordnung zusteht.

2. 

Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 verpflichtet die Mitgliedstaaten dazu, eine nationale Stelle zu benennen, die für die Durchsetzung dieser Verordnung zuständig ist und die gegebenenfalls die notwendigen Maßnahmen ergreift, um sicherzustellen, dass die Fluggastrechte gewahrt werden.

3. 

In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich die Gründe erklären, aus denen ich der Ansicht bin, dass Art. 16 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass eine für die Durchsetzung der Verordnung zuständige nationale Stelle, die mit der individuellen Beschwerde eines Fluggasts befasst ist, keine Durchsetzungsmaßnahmen gegen das Luftfahrtunternehmen erlassen darf, um es dazu anzuhalten, dem Fluggast eine Ausgleichsleistung zu zahlen, die ihm aufgrund der Verordnung zusteht.

I – Rechtlicher Rahmen

A – Unionsrecht

4.

Nach dem ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 261/2004 „[sollten] [d]ie Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs … unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen“.

5.

In Art. 5 der Verordnung heißt es:

„(1)   Bei Annullierung eines Fluges [wird] den betroffenen Fluggästen

c)

vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn,

i)

sie werden über die Annullierung mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet, oder

ii)

sie werden über die Annullierung in einem Zeitraum zwischen zwei Wochen und sieben Tagen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als zwei Stunden vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens vier Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen, oder

iii)

sie werden über die Annullierung weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.

(3)   Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen ist nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.

…“

6.

Art. 7 Abs. 1 der Verordnung bestimmt:

„Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:

a)

250 EUR bei allen Flügen über eine Entfernung von 1500 km oder weniger,

b)

400 EUR bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1500 km und 3500 km,

…“

7.

Art. 16 der Verordnung Nr. 261/2004 lautet wie folgt:

„(1)   Jeder Mitgliedstaat benennt eine Stelle, die für die Durchsetzung dieser Verordnung in Bezug auf Flüge von in seinem Hoheitsgebiet gelegenen Flughäfen und Flüge von einem Drittland zu diesen Flughäfen zuständig ist. Gegebenenfalls ergreift diese Stelle die notwendigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Fluggastrechte gewahrt werden. Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission mit, welche Stelle gemäß diesem Absatz benannt worden ist.

(2)   Unbeschadet des Artikels 12 kann jeder Fluggast bei einer gemäß Absatz 1 benannten Stelle oder einer sonstigen von einem Mitgliedstaat benannten zuständigen Stelle Beschwerde wegen eines behaupteten Verstoßes gegen diese Verordnung erheben, der auf einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats begangen wurde oder einen Flug von einem Drittstaat zu einem Flughafen in diesem Gebiet betrifft.

(3)   Die von den Mitgliedstaaten für Verstöße gegen diese Verordnung festgelegten Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.“

B – Niederländisches Recht

8.

Zur Umsetzung von Art. 16 der Verordnung Nr. 261/2004 hat das Königreich der Niederlande den Staatssecretaris van Infrastructuur en Milieu (Staatssekretär für Infrastruktur und Umwelt, im Folgenden: Staatssekretär) als die für die Durchsetzung der Verordnung zuständige Stelle benannt. So kann nach Art. 11.15 Buchst. b Nr. 1 des Luftfahrtgesetzes (Wet luchtvaart) vom 18. Juni 1992 ( 3 ) in der in den Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Luftfahrtgesetz) der Staatssekretär den Zuwiderhandelnden durch eine mit Verwaltungszwang bewehrte Anordnung dazu verpflichten, die durch oder aufgrund der Verordnung erlassenen Bestimmungen einzuhalten, um den Verstoß wiedergutzumachen. Tut er dies nicht oder nicht rechtzeitig, kann der Staatssekretär selbst für die Wiedergutmachung des Verstoßes sorgen.

9.

Nach Art. 11.16 Abs. 1 Buchst. e Nr. 1 des Luftfahrtgesetzes kann der Staatssekretär bei Verstößen gegen die durch oder aufgrund der Verordnung Nr. 261/2004 erlassenen Bestimmungen eine Geldbuße verhängen.

10.

Das vorlegende Gericht präzisiert, dass dieses Gesetz eine allgemeine Ermächtigungsgrundlage für den Staatssekretär enthalte, um bei Verstößen gegen die Verordnung Nr. 261/2004 Durchsetzungsmaßnahmen zu erlassen, und führt als Beispiel eine Fluggesellschaft an, die sich systematisch weigert, ihren Verpflichtungen aus der Verordnung nachzukommen. Dieses Gesetz erlaube es dem Staatssekretär jedoch nicht, in jedem Einzelfall, in dem sich eine Fluggesellschaft weigert, den aufgrund von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 der Verordnung geltend gemachten Anspruch auf Ausgleichsleistungen zu erfüllen, auf Antrag eines Fluggasts Durchsetzungsmaßnahmen zu erlassen.

II – Sachverhalt

11.

Herr Ruijssenaars und Herr Jansen (Rechtssache C‑145/15) sowie Herr Dees-Erf (Rechtssache C‑146/15) (im Folgenden gemeinsam: die Kläger des Ausgangsverfahrens), deren Flüge annulliert wurden bzw. 26 Stunden Verspätung hatten, beantragten zweimal bei den für diese Flüge verantwortlichen Luftfahrtunternehmen, nämlich der Royal Air Maroc (Rechtssache C‑145/15) und der Koninklijke Luchtvaart Maatschappij NV (Rechtssache C‑146/15), die Zahlung von Ausgleichsleistungen gemäß Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004.

12.

Nach den nacheinander erfolgten Weigerungen der beiden Luftfahrtunternehmen, die Kläger des Ausgangsverfahrens zu entschädigen, beantragten diese beim Staatssekretär, die erforderlichen Durchsetzungsmaßnahmen zu erlassen, um die Luftfahrtunternehmen dazu anzuhalten, den Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 zu beseitigen und ihnen gemäß Art. 7 der Verordnung eine Ausgleichsleistung zu zahlen.

13.

Die Anträge und Forderungen der Kläger des Ausgangsverfahrens lehnte der Staatssekretär ab. Herr Ruijssenaars und Herr Jansen klagten daraufhin vor der Rechtbank Oost-Brabant (erstinstanzliches Gericht Ost-Brabant) gegen den sie betreffenden ablehnenden Bescheid des Staatssekretärs. Herr Dees-Erf klagte vor der Rechtbank Den Haag (erstinstanzliches Gericht Den Haag) gegen den ihn betreffenden ablehnenden Bescheid des Staatssekretärs. Diese beiden Gerichte wiesen die Klagen als unbegründet ab. Die Kläger des Ausgangsverfahrens entschlossen sich daher, beim Raad van State (Staatsrat) Rechtsmittel einzulegen.

14.

In den vorliegenden Rechtssachen hat der Raad van State (Staatsrat) Zweifel hinsichtlich der Zuständigkeit des Staatssekretärs für den Erlass von Durchsetzungsmaßnahmen gegen Luftfahrtunternehmen in jedem Einzelfall, in dem ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 vorliegt.

15.

Da das Verhältnis zwischen einem Luftfahrtunternehmen und einem Fluggast zivilrechtlicher Natur sei, fällt nach Auffassung des vorlegenden Gerichts die Nichtbefolgung der Verpflichtungen dieses Unternehmens in die Zuständigkeit der Zivilgerichte. Dem Staatssekretär eine solche Zuständigkeit einzuräumen, würde die Verteilung der gerichtlichen Zuständigkeiten in den Niederlanden untergraben. Des Weiteren stehe nach den parlamentarischen Materialien zum Luftfahrtgesetz der Behörde nicht zu, vom Luftfahrtunternehmen im Namen der Passagiere eine Ausgleichsleistung zu fordern.

16.

In diesem Rahmen hat der Raad van State (Staatsrat) beschlossen, die beiden Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind die nationalen Behörden nach Art. 16 der Verordnung Nr. 261/2004 im Hinblick darauf, dass nach niederländischem Recht zum Schutz der den Fluggästen nach den unionsrechtlichen Bestimmungen von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 der Verordnung zustehenden Rechte der Weg zu den Zivilgerichten eröffnet ist, zum Erlass von Durchsetzungsmaßnahmen verpflichtet, die eine Grundlage für die verwaltungsrechtliche Durchsetzung durch die nach diesem Artikel bezeichnete Stelle in jedem Einzelfall bieten, in dem gegen Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 der Verordnung verstoßen wird, um in jedem Einzelfall den Anspruch des Fluggasts auf Ausgleichsleistungen gewährleisten zu können?

III – Analyse

17.

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 16 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass eine nationale Stelle, die für die Durchsetzung dieser Verordnung zuständig ist und mit der individuellen Beschwerde eines Fluggasts befasst ist, verpflichtet ist, Durchsetzungsmaßnahmen gegen das betreffende Luftfahrtunternehmen zu erlassen, um es dazu anzuhalten, die dem Fluggast nach der Verordnung zustehende Ausgleichsleistung zu zahlen.

18.

Tatsächlich stellt sich in den vorliegenden Rechtssachen die Frage, in welchem Umfang den für die Durchsetzung der Verordnung Nr. 261/2004 zuständigen nationalen Stellen nach dieser Verordnung Aufgaben übertragen worden sind.

19.

Art. 16 der Verordnung Nr. 261/2004 wurde bislang noch nicht durch den Gerichtshof ausgelegt. Er wurde allenfalls in den Rechtssachen, in denen die Urteile Kommission/Luxemburg (C‑264/06, EU:C:2007:240), Kommission/Schweden (C‑333/06, EU:C:2007:351) und McDonagh (C‑12/11, EU:C:2013:43) ergangen sind, erwähnt, ohne jedoch dass die uns hier vorgelegte Frage erörtert wurde.

20.

Die Kläger des Ausgangsverfahrens tragen vor, dass diese Vorschrift die für die Durchsetzung der Verordnung Nr. 261/2004 zuständigen nationalen Stellen dazu verpflichte, Durchsetzungsmaßnahmen gegen Luftfahrtunternehmen zu erlassen, um diese dazu anzuhalten, die dem Fluggast nach den Art. 5 und 7 der Verordnung zustehende Ausgleichsleistung zu zahlen. Es müsse unterschieden werden zwischen dem Schadensersatz aufgrund einer Verletzung vertraglicher Pflichten, der vor den Zivilgerichten geltend zu machen sei, und der Verpflichtung zur Zahlung der Ausgleichsleistung, die unmittelbar aus der Verordnung Nr. 261/2004 folge und die die nationale Stelle, die für die Durchsetzung der Verordnung zuständig sei, einfordern müsse ( 4 ).

21.

Ich teile diese Auffassung aus den nachfolgenden Gründen nicht.

22.

Gemäß Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 „[benennt] [j]eder Mitgliedstaat … eine Stelle, die für die Durchsetzung dieser Verordnung … zuständig ist. Gegebenenfalls ergreift diese Stelle die notwendigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Fluggastrechte gewahrt werden.“ Abs. 2 dieses Artikels bestimmt, dass „jeder Fluggast bei einer gemäß Absatz 1 benannten Stelle oder einer sonstigen von einem Mitgliedstaat benannten zuständigen Stelle Beschwerde wegen eines behaupteten Verstoßes gegen diese Verordnung erheben [kann], der auf einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats begangen wurde oder einen Flug von einem Drittstaat zu einem Flughafen in diesem Gebiet betrifft“. Abs. 3 des Artikels schließlich bestimmt, dass „[d]ie von den Mitgliedstaaten für Verstöße gegen diese Verordnung festgelegten Sanktionen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein [müssen]“.

23.

Die Aufgabe der nationalen Stelle, die für die Durchsetzung der Verordnung zuständig ist, kann daher eine doppelte sein. Ihre erste, obligatorische Aufgabe besteht darin, die Einhaltung dieser Verordnung zu überwachen. Die zweite, die nicht unbedingt dieser Stelle übertragen wird, sondern mit der eine andere Stelle betraut werden kann, besteht darin, Beschwerden von Fluggästen zu bearbeiten.

24.

Der Wortlaut des Art. 16 der Verordnung Nr. 261/2004 enthält keine Anhaltspunkte dafür, dass die für die Durchsetzung dieser Verordnung zuständige nationale Stelle verpflichtet wäre, Durchsetzungsmaßnahmen gegen Luftfahrtunternehmen zu erlassen, um diese dazu anzuhalten, den betreffenden Fluggästen die nach den Art. 5 und 7 der Verordnung zustehende Ausgleichsleistung zu zahlen.

25.

Zwar trifft es zu, dass in Art. 16 der Verordnung Nr. 261/2004 „notwendige Maßnahmen“ und „Sanktionen“ erwähnt sind. Diese Begriffe beziehen sich tatsächlich jedoch auf die erste Funktion der für die Durchsetzung dieser Verordnung zuständigen nationalen Stelle, die darin besteht, die ordnungsgemäße generelle Einhaltung der Verordnung zu überwachen.

26.

Art. 16 ist nämlich in Verbindung mit dem 22. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 261/2004 zu lesen, der wie folgt lautet: „Die Mitgliedstaaten sollten die generelle Einhaltung dieser Verordnung durch ihre Luftfahrtunternehmen sicherstellen und überwachen und eine geeignete Stelle zur Erfüllung dieser Durchsetzungsaufgaben benennen. Die Überwachung sollte das Recht von Fluggästen und Luftfahrtunternehmen unberührt lassen, ihre Rechte nach den im nationalen Recht vorgesehenen Verfahren gerichtlich geltend zu machen.“ ( 5 )

27.

Liest man diese beiden Bestimmungen zusammen, ergibt sich, dass die erste, obligatorische Aufgabe der für die Durchsetzung der Verordnung Nr. 261/2004 zuständigen nationalen Stelle darin besteht, allgemein sicherzustellen, dass die Luftfahrtunternehmen ihre aus der Verordnung folgenden Verpflichtungen einhalten. Zum Beispiel muss die Stelle überwachen, dass die Fluggäste durch die Luftfahrtunternehmen ordnungsgemäß über ihre Rechte informiert werden, oder dass sie wissen, an wen sie sich wenden müssen, wenn sie der Ansicht sind, dass ihre Rechte nicht gewahrt worden seien ( 6 ). Zudem müssen diese Stellen etwaige Verstöße der Luftfahrtunternehmen gegen deren Verpflichtungen aus der Verordnung identifizieren und ihnen abhelfen.

28.

Bei einem Verstoß gegen diese Verpflichtungen ergreift die nationale Stelle, die für die Durchsetzung der Verordnung Nr. 261/2004 zuständig ist, die notwendigen Maßnahmen zur Wahrung der Fluggastrechte, und erlässt insbesondere Sanktionen gegen Luftfahrtunternehmen ( 7 ). Die Verwendung des Begriffs „Sanktionen“ in Art. 16 Abs. 3 der Verordnung lässt keinen Raum für Zweifel. Diese Sanktionen können keinesfalls an die Stelle der Ausgleichsleistung für den Fluggast treten, dessen Rechte nicht gewahrt worden sind. Sie werden nur auferlegt, wenn ein Luftfahrtunternehmen seine Verpflichtungen aus der Verordnung Nr. 261/2004 nicht erfüllt hat, und nicht bei einer Verletzung der subjektiven Rechte, die einem Fluggast aufgrund eines mit dem Luftfahrtunternehmen geschlossenen Vertrags aus dieser Verordnung zustehen. Vielmehr verteidigt die für die Durchsetzung der Verordnung zuständige nationale Stelle in ihrer ersten Funktion die kollektiven Interessen der Fluggäste.

29.

Diese Auslegung wird durch die derzeit laufenden vorbereitenden Arbeiten zur Änderung der Verordnung Nr. 261/2004 bestätigt. Die Kommission erinnert daran, dass diese Verordnung „die Mitgliedstaaten … zur Errichtung nationaler Durchsetzungsstellen [verpflichtet], die [ihre] ordnungsgemäße Anwendung … gewährleisten sollen“ ( 8 ), und legt dar, dass die Rolle der nationalen Durchsetzungsstellen präzisiert werden muss, indem ihnen allgemeine Durchsetzungsaufgaben zugewiesen werden und sichergestellt wird, dass sie ihre Überwachungsaufgaben proaktiver wahrnehmen werden als heute ( 9 ).

30.

Die Mitgliedstaaten verfügen über einen gewissen Handlungsspielraum bei der Benennung der genannten Stellen, insbesondere bei der Zuweisung der Zuständigkeiten, die sie ihnen übertragen möchten. Hierbei gibt es gewisse institutionelle Unterschiede. Einige Mitgliedstaaten haben sich entschieden, als für die Durchsetzung der Verordnung Nr. 261/2004 zuständige nationale Stelle ihre nationale Zivilluftfahrtbehörde zu benennen, während andere es bevorzugt haben, ihre nationale Verbraucherschutzbehörde zu benennen ( 10 ). Während bestimmte Mitgliedstaaten (tatsächlich die große Mehrheit) diese Stelle als zuständig für die Bearbeitung individueller Beschwerden im Sinne von Art. 16 Abs. 2 der Verordnung benannt haben, haben andere eine andere Stelle mit dieser Aufgabe betraut ( 11 ).

31.

Wie verhält es sich, wenn die nationale Stelle, die für die Durchsetzung der Verordnung Nr. 261/2004 zuständig ist, zugleich mit der Bearbeitung individueller Beschwerden beauftragt ist? Hat sie dann die Pflicht, Durchsetzungsmaßnahmen zu ergreifen, um ein Luftfahrtunternehmen dazu anzuhalten, einen Fluggast zu entschädigen? Das ist nicht anzunehmen.

32.

Wie dargelegt kann die nationale Stelle, die für die Durchsetzung der Verordnung Nr. 261/2004 zuständig ist, gemäß Art. 16 Abs. 2 der Verordnung auch mit der Bearbeitung von Beschwerden beauftragt werden. Der Wortlaut dieser Bestimmung enthält keinen Anhaltspunkt dafür, dass sie verpflichtet wäre, auf die Beschwerde eines Fluggasts wegen der Verletzung seiner Rechte aus der Verordnung hin tätig zu werden. Unserer Auffassung nach verfügen die Mitgliedstaaten insoweit über einen gewissen Handlungsspielraum hinsichtlich des Umfangs der an diese Stelle übertragenen Zuständigkeiten. Die Stelle kann demnach so ausgestaltet sein, dass sie mit der außergerichtlichen Beilegung von Streitfällen zwischen Luftfahrtunternehmen und Fluggästen betraut ist und die Rolle eines Mediators übernimmt, oder aber ihre Rolle kann sich darauf beschränken, den Fluggast, der bei ihr eine Beschwerde eingereicht hat, mit Informationen zu versorgen, insbesondere zu den möglichen Vorgehensweisen wie etwa der Einreichung einer Beschwerde beim Luftfahrtunternehmen, oder ihn auf das europäische Standard-Beschwerdeformular hinzuweisen ( 12 ).

33.

Auch wenn für die für die Durchsetzung der Verordnung Nr. 261/2004 zuständige nationale Stelle, die die Beschwerden bearbeitet, keine Verpflichtung besteht, aufgrund einer einzelnen Beschwerde tätig zu werden, kann jedoch die Anzahl der Beschwerden, mit der sie befasst ist, ein guter Indikator für einen wiederholten Verstoß gegen die dem Luftfahrtunternehmen obliegenden Pflichten sein und sie deswegen dazu veranlassen, Durchsetzungsmaßnahmen gegen dieses zu ergreifen ( 13 ).

34.

Eine solche Auslegung vermag die mit der Verordnung Nr. 261/2004 verfolgten Ziele, nämlich ein hohes Maß an Schutz der Fluggäste sicherzustellen und den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung zu tragen ( 14 ), nicht in Frage zu stellen. Ganz im Gegenteil.

35.

Die Verordnung Nr. 261/2004 zielt nämlich darauf ab, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, indem ihnen im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung ihres Flugs Mindestrechte zuerkannt werden ( 15 ). Sind sie der Ansicht, dass ihre Rechte verletzt worden sind und dass das außergerichtliche Verfahren gescheitert ist, bleibt den Fluggästen die Möglichkeit, auf die klassischen Rechtsbehelfe zurückzugreifen. Sie können also das zuständige Gericht anrufen. In den meisten Mitgliedstaaten gibt es ein vereinfachtes Verfahren für Rechtsstreitigkeiten, deren Streitwert eine bestimmte Schwelle nicht überschreitet, so dass den Fluggästen der Zugang zu den Gerichten erleichtert wird ( 16 ). Hierzu präzisiert das vorlegende Gericht, dass diese Schwelle in den Niederlanden bei 25000 Euro liege und dass die Vertretung durch einen Rechtsanwalt nicht erforderlich sei.

36.

Hinsichtlich grenzüberschreitender Rechtssachen sei daran erinnert, dass es ein europäisches Verfahren für geringfügige Forderungen nach der Verordnung (EG) Nr. 861/2007 ( 17 ) gibt, die für Rechtssachen gilt, deren Streitwert 2000 Euro nicht überschreitet und bei denen die Vertretung durch einen Rechtsanwalt auch nicht erforderlich ist ( 18 ).

37.

Demnach verfügen die Fluggäste durch diese Verfahren über einen vereinfachten gerichtlichen Rechtsbehelf gegenüber Luftfahrtunternehmen.

38.

Außerdem können nur das Zusammenspiel und die Festlegung der jeweiligen Rollen der für die Durchsetzung der Verordnung Nr. 261/2004 zuständigen nationalen Stellen, der mit der Bearbeitung von Beschwerden beauftragten Stellen und gegebenenfalls der nationalen Gerichte, wie sie sich aus unserer Analyse ergeben, den Schutz der Fluggäste und der Verbraucher im Allgemeinen sicherstellen.

39.

Überließe man es den für die Durchsetzung der Verordnung Nr. 261/2004 zuständigen nationalen Stellen, den subjektiven Rechten der Fluggäste aus der Verordnung Geltung zu verschaffen und die Luftfahrtunternehmen dazu anzuhalten, die aufgrund der Bestimmungen der Verordnung geschuldete Ausgleichsleistung zu zahlen, würde dies unweigerlich zu unterschiedlichen Auslegungen des Unionsrechts führen, die eine Quelle der Rechtsunsicherheit für die Fluggäste wären. Es ist gut denkbar, dass eine nationale Stelle, die für die Durchsetzung der Verordnung zuständig und mit einer individuellen Beschwerde befasst ist, zur Auffassung gelangt, dass die Annullierung eines Flugs nicht auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, und dem Antrag des Fluggasts stattgibt, indem sie das Luftfahrtunternehmen zu Ausgleichsleistungen verpflichtet, während das parallel oder später angerufene zuständige Gericht feststellt, dass solche Umstände vorliegen und diese Ausgleichsleistung daher nicht geschuldet ist.

40.

Des Weiteren stellt sich notwendigerweise die Frage, ob eine nationale Stelle, die für die Durchsetzung der Verordnung Nr. 261/2004 zuständig ist, als „Gericht“ im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs eingestuft werden kann, was ihr den Zugang zum Vorabentscheidungsverfahren gewähren würde. Unserer Auffassung nach kann eine solche Stelle nicht als „Gericht“ eingestuft werden ( 19 ). Ließe man zu, dass diese Stelle Durchsetzungsmaßnahmen gegen ein Luftfahrtunternehmen erlassen könnte, um es dazu anzuhalten, einen Fluggast zu entschädigen, bestünde bei Zweifeln über die Auslegung der einschlägigen Bestimmungen der Verordnung Nr. 261/2004 das Risiko, dass die verschiedenen für die Durchsetzung der Verordnung zuständigen nationalen Stellen unterschiedliche Auslegungen der Bestimmungen entwickeln und so, da die Auslegung der genannten Vorschriften Quelle zahlreicher Schwierigkeiten ist, in zahlreichen beim Gerichtshof anhängigen Rechtsstreitigkeiten die einheitliche Auslegung und Anwendung des Unionsrechts gefährdet würden.

41.

Nach alledem ist Art. 16 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass eine für die Durchsetzung der Verordnung zuständige nationale Stelle, die mit der Bearbeitung einer individuellen Beschwerde eines Fluggasts befasst ist, keine Durchsetzungsmaßnahmen gegen Luftfahrtunternehmen erlassen darf, um diese dazu anzuhalten, die dem Fluggast nach dieser Verordnung zustehende Ausgleichsleistung zu zahlen.

IV – Ergebnis

42.

Nach den vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die Frage des Raad van State (Staatsrat) wie folgt zu beantworten:

Art. 16 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 ist dahin auszulegen, dass eine für die Durchsetzung der Verordnung Nr. 261/2004 zuständige nationale Stelle, die mit der Bearbeitung einer individuellen Beschwerde eines Fluggasts befasst ist, keine Durchsetzungsmaßnahmen gegen ein Luftfahrtunternehmen erlassen darf, um es dazu anzuhalten, die dem Fluggast nach dieser Verordnung zustehende Ausgleichsleistung zu zahlen.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. L 46, S. 1).

( 3 ) Stb. 1992, Nr. 368.

( 4 ) Rn. 20 der Erklärungen in der Rechtssache C‑145/15.

( 5 ) Hervorhebung nur hier.

( 6 ) Vgl. Ziff. 3.3 und 3.4 der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Anwendung der Verordnung Nr. 261/2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Betreuungsleistungen für Fluggäste im Falle der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen (KOM[2011] 174 endgültig).

( 7 ) Vgl. Art. 16 Abs. 1 und 3 der Verordnung.

( 8 ) Vgl. Ziff. 1.1 des Vorschlags für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung Nr. 261/2004 und der Verordnung (EG) Nr. 2027/97 über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei der Beförderung von Fluggästen und deren Gepäck im Luftverkehr (COM[2013] 130 final).

( 9 ) Vgl. Ziff. 3.3.1.2 des Vorschlags.

( 10 ) Vgl. Dokument der Kommission, verfügbar unter der Internetadresse http://ec.europa.eu/transport/themes/passengers/air/doc/2004_261_national_enforcement_bodies.pdf.

( 11 ) Ebd. Dies gilt insbesondere für Ungarn, die Republik Finnland und das Königreich Schweden.

( 12 ) Dieses Formular ist verfügbar unter der Internetadresse http://ec.europa.eu/transport/themes/passengers/air/doc/complain_form/eu_complaint_form_de.pdf.

( 13 ) Im Übrigen schlägt die Kommission in ihrem in Fn. 8 genannten Verordnungsvorschlag eine bessere Koordinierung zwischen der nationalen Stelle, die für die Durchsetzung der Verordnung Nr. 261/2004 zuständig ist, und der Stelle, die mit der Bearbeitung individueller Beschwerden beauftragt ist, vor, um Verstöße gegen die Verpflichtungen aus der Verordnung leicht feststellen zu können und dann gegebenenfalls gegen das verstoßende Luftfahrtunternehmen Sanktionen zu verhängen (vgl.. Art. 16 und 16a).

( 14 ) Vgl. erster Erwägungsgrund der Verordnung.

( 15 ) Vgl. Art. 1 Abs. 1 der Verordnung.

( 16 ) Vgl. Dokument des Europäischen Parlaments mit dem Titel „Europäisches Verfahren für geringfügige Forderungen – Rechtliche Analyse des Vorschlags der Kommission zur Behebung von Unzulänglichkeiten im derzeitigen System“, verfügbar unter der Internetadresse http://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/IDAN/2014/542137/EPRS_IDA%282014%29542137_DE.pdf.

( 17 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen (ABl. L 199, S. 1).

( 18 ) Vgl. Art. 2 Abs. 1 und Art. 10 der Verordnung.

( 19 ) Es sei daran erinnert, dass „der Gerichtshof nach ständiger Rechtsprechung zur Beurteilung der rein unionsrechtlichen Frage, ob es sich bei der vorlegenden Einrichtung um ein ‚Gericht‘ im Sinne von Art. 267 AEUV handelt, auf eine Reihe von Merkmalen abstellt, wie z. B. gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ständiger Charakter, obligatorische Gerichtsbarkeit, streitiges Verfahren, Anwendung von Rechtsnormen durch die Einrichtung sowie deren Unabhängigkeit … Zudem können die nationalen Gerichte den Gerichtshof nur anrufen, wenn bei ihnen ein Rechtsstreit anhängig ist und sie im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden haben, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt“ (vgl. Urteil Ascendi Beiras Litoral e Alta, Auto Estradas das Beiras Litoral e Alta, C‑377/13, EU:C:2014:1754, Rn. 23).

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