Urteil vom Europäischer Gerichtshof - C-428/14

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

20. Januar 2016 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Wettbewerbspolitik — Art. 101 AEUV — Verordnung (EG) Nr. 1/2003 — Internationaler Frachtverkehrssektor — Nationale Wettbewerbsbehörden — Rechtlicher Stellenwert der Instrumente des Europäischen Wettbewerbsnetzes — Kronzeugenregelungsmodell dieses Netzes — Bei der Kommission gestellter Antrag auf Erlass der Geldbuße — Bei nationalen Wettbewerbsbehörden gestellter Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße — Verhältnis zwischen diesen beiden Anträgen“

In der Rechtssache C‑428/14

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Entscheidung vom 1. April 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 18. September 2014, in dem Verfahren

DHL Express (Italy) Srl,

DHL Global Forwarding (Italy) SpA

gegen

Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato,

Beteiligte:

Schenker Italiana SpA,

Agility Logistics Srl,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Präsidentin der Ersten Kammer R. Silva de Lapuerta in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Zweiten Kammer sowie der Richter J. L. da Cruz Vilaça (Berichterstatter), A. Arabadjiev, C. Lycourgos und J.‑C. Bonichot,

Generalanwalt: M. Wathelet,

Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. Juli 2015,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der DHL Express (Italy) Srl und der DHL Global Forwarding (Italy) SpA, vertreten durch M. Siragusa und G. Rizza, avvocati,

der Schenker Italiana SpA, vertreten durch G. L. Zampa, G. Barone und A. Di Giò, avvocati,

der Agility Logistics Srl, vertreten durch A. Lirosi, M. Padellaro und A. Pera, avvocati,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Fiorentino und P. Gentili, avvocati dello Stato,

der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und A. Lippstreu als Bevollmächtigte,

der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas und J. Bousin als Bevollmächtigte,

der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,

der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch V. Kaye als Bevollmächtigte im Beistand von D. Beard, QC, und V. Wakefield, Barrister,

der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Malferrari, G. Meeßen und T. Vecchi als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. September 2015

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 101 AEUV, Art. 4 Abs. 3 EUV sowie Art. 11 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101 AEUV] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der DHL Express (Italy) Srl und der DHL Global Forwarding (Italy) SpA (im Folgenden zusammen: DHL) auf der einen und der Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato (italienische Wettbewerbs- und Kartellbehörde, im Folgenden: AGCM) auf der anderen Seite wegen der Entscheidung, mit der diese Behörde gegen DHL Geldbußen verhängt hat, da sie unter Verstoß gegen Art. 101 AEUV an einem Kartell auf dem Sektor der internationalen Straßenfrachtverkehrsdienste von und nach Italien beteiligt war (im Folgenden: streitige Entscheidung).

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Der 15. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1/2003 lautet:

„Die Kommission und die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten sollen gemeinsam ein Netz von Behörden bilden, die die EG-Wettbewerbsregeln in enger Zusammenarbeit anwenden. Zu diesem Zweck müssen Informations- und Konsultationsverfahren eingeführt werden. Nähere Einzelheiten betreffend die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes werden von der Kommission in enger Abstimmung mit den Mitgliedstaaten festgelegt und überarbeitet.“

4

Art. 11 („Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten“) der Verordnung Nr. 1/2003 bestimmt:

„(1)   Die Kommission und die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten arbeiten bei der Anwendung der Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft eng zusammen.

(2)   Die Kommission übermittelt den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten eine Kopie der wichtigsten Schriftstücke, die sie zur Anwendung der Artikel 7, 8, 9, 10 und 29 Absatz 1 zusammengetragen hat. Die Kommission übermittelt der Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaates auf Ersuchen eine Kopie anderer bestehender Unterlagen, die für die Beurteilung des Falls erforderlich sind.

(3)   Werden die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten aufgrund von Artikel [101 AEUV] oder Artikel [102 AEUV] tätig, so unterrichten sie hierüber schriftlich die Kommission vor Beginn oder unverzüglich nach Einleitung der ersten förmlichen Ermittlungshandlung. Diese Unterrichtung kann auch den Wettbewerbsbehörden der anderen Mitgliedstaaten zugänglich gemacht werden.

(4)   Spätestens 30 Tage vor Erlass einer Entscheidung, mit der die Abstellung einer Zuwiderhandlung angeordnet wird, Verpflichtungszusagen angenommen werden oder der Rechtsvorteil einer Gruppenfreistellungsverordnung entzogen wird, unterrichten die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten die Kommission. Zu diesem Zweck übermitteln sie der Kommission eine zusammenfassende Darstellung des Falls, die in Aussicht genommene Entscheidung oder, soweit diese Unterlage noch nicht vorliegt, jede sonstige Unterlage, der die geplante Vorgehensweise zu entnehmen ist. Diese Informationen können auch den Wettbewerbsbehörden der anderen Mitgliedstaaten zugänglich gemacht werden. Auf Ersuchen der Kommission stellt die handelnde Wettbewerbsbehörde der Kommission sonstige ihr vorliegende Unterlagen zur Verfügung, die für die Beurteilung des Falls erforderlich sind. Die der Kommission übermittelten Informationen können den Wettbewerbsbehörden der anderen Mitgliedstaaten zugänglich gemacht werden. Die einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden können zudem Informationen untereinander austauschen, die zur Beurteilung eines von ihnen nach Artikel [101 AEUV] und [102 AEUV] behandelten Falls erforderlich sind.

(5)   Die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten können die Kommission zu jedem Fall, in dem es um die Anwendung des Gemeinschaftsrechts geht, konsultieren.

(6)   Leitet die Kommission ein Verfahren zum Erlass einer Entscheidung nach Kapitel III ein, so entfällt damit die Zuständigkeit der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten für die Anwendung der Artikel [101 AEUV] und [102 AEUV]. Ist eine Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats in einem Fall bereits tätig, so leitet die Kommission ein Verfahren erst ein, nachdem sie diese Wettbewerbsbehörde konsultiert hat.“

5

Art. 35 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten bestimmen die für die Anwendung der Artikel [101 AEUV] und [102 AEUV] zuständige(n) Wettbewerbsbehörde(n) so, dass die Bestimmungen dieser Verordnung wirksam angewandt werden … Zu den bestimmten Behörden können auch Gerichte gehören.“

6

In Ziff. 1 der Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden (ABl. 2004, C 101, S. 43, im Folgenden: Bekanntmachung über die Zusammenarbeit) heißt es:

„Mit der Verordnung … Nr. 1/2003 … wird ein System paralleler Zuständigkeiten geschaffen, in dessen Rahmen die Kommission und die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten … Artikel [101 AEUV] und Artikel [102 AEUV] anwenden können. Zusammen bilden die nationalen Wettbewerbsbehörden und die Kommission ein Netz von Behörden; diese handeln im öffentlichen Interesse und arbeiten beim Schutz des Wettbewerbs eng zusammen. Das Netz ist ein Diskussions- und Kooperationsforum für die Anwendung und Durchsetzung der EG-Wettbewerbspolitik. Es schafft einen Rahmen für die Zusammenarbeit europäischer Wettbewerbsbehörden in Fällen …, in denen die Artikel [101 AEUV] und [102 AEUV] angewandt werden, und ist die Basis für die Schaffung und Wahrung einer gemeinsamen Wettbewerbskultur in Europa. Dieses Netz wird als ‚Europäisches Wettbewerbsnetz‘ (ECN) bezeichnet …“.

7

Angesichts dieses Systems paralleler Zuständigkeiten, durch das alle Wettbewerbsbehörden zur Anwendung von Art. 101 AEUV befugt sind, führen die Ziff. 8 bis 15 der Bekanntmachung über die Zusammenarbeit die Kriterien auf, anhand deren die Behörden ermittelt werden können, die „gut geeignet“ sind, sich eines Falls anzunehmen. So ist nach Ziff. 14 dieser Mitteilung „[d]ie Kommission … besonders gut geeignet, sich eines Falls anzunehmen, wenn eine oder mehrere Vereinbarungen oder Verhaltensweisen in mehr als drei Mitgliedstaaten … Auswirkungen auf den Wettbewerb haben“.

8

Ziff. 38 dieser Bekanntmachung lautet:

„In Ermangelung eines gemeinschaftsweiten Systems vollständig harmonisierter Kronzeugenprogramme gilt ein bei einer bestimmten Behörde gestellter Antrag auf Kronzeugenbehandlung nicht als Antrag auf Kronzeugenbehandlung bei einer anderen Behörde. Daher liegt es im Interesse des Antragstellers, bei allen Wettbewerbsbehörden eine Kronzeugenbehandlung zu beantragen, die für die Anwendung von Artikel [101 AEUV] auf dem von der Zuwiderhandlung betroffenen Gebiet zuständig sind und die gut geeignet sein können, gegen die fragliche Zuwiderhandlung vorzugehen … Angesichts der Bedeutung, die bei der Mehrzahl der vorhandenen Kronzeugenprogramme dem Zeitpunkt des Antrags zukommt, müssen die Antragsteller auch in Erwägung ziehen, ob nicht eine gleichzeitige Beantragung von Kronzeugenregelungen bei den in Frage kommenden Behörden angebracht wäre. Es ist Sache des Antragstellers, die Maßnahmen zu ergreifen, die er zum Schutz seiner Position in Bezug auf mögliche Verfahren dieser Behörden für angebracht hält.“

9

Im Rahmen des ECN wurde im Jahr 2006 ein Kronzeugenregelungsmodell (im Folgenden: ECN-Kronzeugenregelungsmodell) angenommen. Dieses Programm, das nicht im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurde, kann nur auf der Internetseite der Kommission aufgerufen werden. Es wurde im November 2012, also nach den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Ereignissen und folglich nach der im Rechtsstreit vor dem vorlegenden Gericht streitigen Entscheidung der AGCM überarbeitet.

10

Rn. 3 des ECN-Kronzeugenregelungsmodells lautet:

„[Das ECN-Kronzeugenregelungsmodell] setzt einen Regelungsrahmen für die Behandlung von Anträgen auf Kronzeugenbehandlung für alle Unternehmen fest, die an unter die Regelung fallenden Absprachen, Vereinbarungen und Verhaltensweisen beteiligt sind. Die ECN-Mitglieder verpflichten sich, sich innerhalb ihrer Zuständigkeit nach Kräften um die Angleichung ihrer Regelungen an [das ECN-Kronzeugenregelungsmodell] zu bemühen. Unbeschadet des [ECN-Kronzeugenregelungsmodells] können Wettbewerbsbehörden im Rahmen ihrer Regelungen Antragstellern eine günstigere Behandlung gewähren. [Für sich genommen kann das ECN-Kronzeugenregelungsmodell kein berechtigtes Vertrauen dieser Unternehmen begründen.]“

11

Rn. 5 dieses Regelungsmodells, die den Erlass der Geldbuße „Typ 1A“ betrifft, bestimmt:

„Die Wettbewerbsbehörde erlässt einem Unternehmen die Geldbuße, die andernfalls verhängt worden wäre, sofern

a)

das Unternehmen als erstes Beweismittel vorlegt, die es der Behörde ihrer Ansicht nach zum Zeitpunkt der Prüfung des Antrags ermöglichen, gezielte Nachprüfungen/Durchsuchungen im Zusammenhang mit einem mutmaßlichen Kartell durchzuführen;

b)

der Wettbewerbsbehörde zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht bereits hinreichende Beweise für eine Nachprüfungsentscheidung/das Erwirken einer richterlichen Durchsuchungsanordnung vorlagen oder sie nicht bereits eine Nachprüfung/Durchsuchung im Zusammenhang mit den mutmaßlichen Kartellabsprachen durchgeführt hatte;

c)

die Bedingungen für eine Kronzeugenbehandlung erfüllt sind.“

12

Nach Rn. 22 des ECN-Kronzeugenregelungsmodells kann „[i]n Fällen, in denen die Kommission zur Verfolgung eines Falls ‚besonders gut geeignet ist‘ im Sinne von [Ziff.] 14 der Bekanntmachung über die Zusammenarbeit … der Antragsteller, der bei der Kommission einen Antrag auf Erlass der Geldbuße gestellt hat oder im Begriff ist, dies zu tun, einen Kurzantrag bei den nationalen Wettbewerbsbehörden stellen, die seiner Auffassung nach auf der Grundlage der Bekanntmachung über die Zusammenarbeit … ‚gut geeignet‘ sein könnten, sich des Falls anzunehmen. Die Kurzanträge sollten folgende Angaben in Kurzform enthalten:

...

die Art des mutmaßlichen Kartells;

...;

Informationen über seine bisherigen oder etwaigen künftigen Anträge auf Kronzeugenbehandlung im Zusammenhang mit dem mutmaßlichen Kartell.“

13

Rn. 24 des ECN-Kronzeugenregelungsmodells lautet:

„Beschließt eine nationale Wettbewerbsbehörde nach Eingang eines Kurzantrags, bestimmte weitere Informationen anzufordern, sollte der Antragsteller diese Informationen unverzüglich übermitteln. Beschließt eine nationale Wettbewerbsbehörde, sich des Falls anzunehmen, setzt sie eine Frist fest, innerhalb der der Antragsteller die relevanten Beweismittel und Informationen, die zur Erfüllung der Mindestanforderungen erforderlich sind, einreichen muss. Übermittelt der Antragsteller diese Informationen innerhalb der gesetzten Frist, wird davon ausgegangen, dass die Informationen und Beweismittel an dem Tag vorgelegt wurden, an dem der Kurzantrag gestellt wurde“.

14

Rn. 7 der Erläuterungen zum ECN-Kronzeugenregelungsmodell sieht vor:

„[Das ECN-Kronzeugenregelungsmodell] soll die Belastung der Antragsteller in Fällen, in denen Anträge bei mehreren Behörden parallel gestellt werden müssen, mindern und eine größere Vorhersehbarkeit für potenzielle Antragsteller erreichen … [D]arin [sind] die Merkmale einer einheitlichen Form von Kurzanträgen ausgeführt, die die Belastung aufgrund mehrfacher Antragstellung in großen, grenzüberschreitenden Kartellsachen sowohl für Unternehmen als auch für Wettbewerbsbehörden mindern soll.“

Italienisches Recht

15

Am 15. Februar 2007 erließ die AGCM die Mitteilung über die Nichtfestsetzung und die Ermäßigung von Geldbußen im Sinne von § 15 des Gesetzes vom 10. Oktober 1990, Nr. 287 (Comunicazione sulla non imposizione e sulla riduzione delle sanzioni ai sensi dell’articolo 15 della legge 10 ottobre 1990, n. 287), die die italienische Kronzeugenregelung (im Folgenden: nationale Kronzeugenregelung) enthält.

16

Art. 16 („Kurzantrag“) der nationalen Kronzeugenregelung bestimmt:

„In Fällen, in denen die Kommission zur Verfolgung eines Falls und zur Durchführung des Verfahrens besonders gut geeignet ist, kann der Antragsteller, der bei der Kommission bereits einen Antrag auf Verschonung von Sanktionen gestellt hat oder im Begriff ist, dies zu tun, einen entsprechenden Antrag auf Kronzeugenbehandlung in vereinfachter Form bei der Autorità stellen, wenn er der Auffassung ist, dass auch diese ‚gut geeignet‘ sein könnte, sich des Falls anzunehmen. Nach [Ziff.] 14 der [Bekanntmachung über die Zusammenarbeit] ist die Kommission besonders gut geeignet, sich eines Falls anzunehmen, wenn eine oder mehrere Vereinbarungen oder Verhaltensweisen, darunter Netze ähnlicher Vereinbarungen oder Verhaltensweisen, in mehr als drei Mitgliedstaaten Auswirkungen auf den Wettbewerb haben.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

17

Am 5. Juni 2007 stellte DHL bei der Kommission einen Antrag auf Erlass der Geldbußen betreffend mehrere Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht der Union auf dem Sektor der internationalen Frachtverkehrsdienste. Am 24. September 2007 gewährte die Kommission DHL einen bedingten Erlass der Geldbuße für den gesamten Sektor des internationalen Frachtverkehrs, also für den See-, Luft- und Straßenfrachtverkehr. Am 20. Dezember 2007 unterrichtete DHL die Kommission über bestimmte Punkte, die Verhaltensweisen betrafen, die in Italien auf dem Sektor des internationalen Straßenfrachtverkehrs beobachtet wurden. Im Juni 2008 beschloss die Kommission, nur den Teil des Kartells zu verfolgen, der die Frachtdienste im internationalen Luftverkehr betraf, und gab somit den nationalen Wettbewerbsbehörden die Möglichkeit, die Verstöße betreffend die Frachtdienste im Seeverkehr und auf der Straße zu verfolgen.

18

Parallel dazu reichte DHL am 12. Juli 2007 nach der nationalen Kronzeugenregelung einen Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße bei der AGCM ein. In diesem Antrag lieferte DHL Informationen über rechtswidrige Verhaltensweisen auf dem Markt des internationalen Frachtverkehrs. Nach Ansicht der AGCM betraf diese Erklärung nur den Sektor des internationalen See- und Luftfrachtverkehrs, nicht aber den Straßenfrachtverkehr. DHL vertrat jedoch die Auffassung, dass der genannte Kurzantrag rechtswidrige Verhaltensweisen auf dem gesamten Markt des internationalen Frachtverkehrs betroffen habe. Ihr Antrag vom 12. Juli 2007 habe nur deshalb keine konkreten und spezifischen Beispiele von Verhaltensweisen im Straßenfrachtverkehr enthalten, weil solche Beispiele noch nicht entdeckt gewesen seien.

19

Am 23. Juni 2008 stellte DHL bei der AGCM in Ergänzung ihres am 12. Juli 2007 eingereichten Antrags einen zusätzlichen Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße, um den Antrag ausdrücklich auf den Sektor des internationalen Straßenfrachtverkehrs zu erstrecken. In diesem Antrag gab DHL an, dass „die vorliegende Erklärung … für alle Belange und für alle Zwecke insofern eine bloße Ergänzung der Erklärung vom 12. Juli 2007 [darstellt], als das darin angesprochene spätere Verhalten keine eigene, von der ursprünglichen Erklärung nicht umfasste Zuwiderhandlung darstellt, sondern lediglich ein weiterer Ausdruck der bereits angezeigten Verstöße ist, die als solche von der Kommission bei der dem Unternehmen gewährten Kronzeugenbehandlung berücksichtigt worden sind“.

20

In der Zwischenzeit stellte die Deutsche Bahn AG am 5. November 2007 bei der Kommission – auch im Namen ihrer Tochtergesellschaften, zu denen die Schenker Italiana SpA (im Folgenden: Schenker) gehört – einen Antrag auf Erlass der Geldbuße, der sich zunächst auf den Seefrachtverkehr und dann, am 19. November 2007, auf den Straßenfrachtverkehr bezog. Darüber hinaus stellte Schenker am 12. Dezember 2007 bei der AGCM einen Kurzantrag auf Kronzeugenbehandlung und lieferte Informationen über den Straßenfrachtverkehr in Italien.

21

Am 20. November 2007 beantragte die Agility Logistics Srl (im Folgenden: Agility) im Rahmen der Zuwiderhandlungen auf dem Markt des internationalen Frachtverkehrs bei der Kommission die Ermäßigung der Geldbuße. Am 12. Mai 2008 stellte die Agility Logistics International bei der AGCM – auch im Namen ihrer Tochtergesellschaft Agilit – einen Kurzantrag auf Kronzeugenbehandlung hinsichtlich des italienischen Kartells betreffend den Straßenfrachtverkehr.

22

Am 18. November 2009 eröffnete die AGCM ein Verfahren, um eventuelle Verstöße gegen Art. 101 AEUV auf dem Sektor des internationalen Frachtverkehrs festzustellen.

23

Mit ihrer streitigen Entscheidung vom 15. Juni 2011 stellte die AGCM fest, dass mehrere Unternehmen, darunter DHL, Schenker und Agility, unter Verstoß gegen Art. 101 AEUV an einem Kartell auf dem Sektor der internationalen Straßenfrachtverkehrsdienste von und nach Italien beteiligt waren.

24

In dieser Entscheidung ging die AGCM davon aus, dass Schenker das erste Unternehmen gewesen sei, das in Italien einen Antrag auf Erlass der Geldbuße hinsichtlich des Straßenfrachtverkehrs gestellt habe. In Anwendung der nationalen Kronzeugenregelung wurde gegen Schenker keine Geldbuße verhängt. DHL und Agility wurden hingegen zur Zahlung von Geldbußen verurteilt, die in der Folge gegenüber ihrem ursprünglichen Betrag um 49 % bzw. 50 % herabgesetzt wurden. Die AGCM ging in dieser Entscheidung auch davon aus, dass DHL mit ihrem Antrag vom 12. Juli 2007 einen Erlass der Geldbuße lediglich für den Luft- und den Seefrachtverkehr begehrt habe, da der Antrag hinsichtlich des Straßenfrachtverkehrs von diesem Unternehmen erst am 23. Juni 2008 eingereicht worden sei.

25

DHL wandte sich an das Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Verwaltungsgericht der Region Latium), um die teilweise Nichtigerklärung der streitigen Entscheidung zu erreichen. Sie brachte insbesondere vor, dass ihr auf der Liste der nationalen Kronzeugenregelung zu Unrecht nicht der erste Rang zugeteilt worden sei und sie daher nicht in den Genuss des Erlasses der Geldbuße gekommen sei. Die nationale Behörde, bei der ein Kurzantrag auf Kronzeugenbehandlung eingehe, sei nach den Grundsätzen des Unionsrechts verpflichtet, diesen unter Berücksichtigung des von derselben Gesellschaft bei der Kommission gestellten Hauptantrags auf Erlass der Geldbuße zu würdigen. Darüber hinaus rügte DHL die Unzulässigkeit der von Schenker und Agility bei der AGCM gestellten Kurzanträge.

26

Das Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Verwaltungsgericht der Region Latium) wies die Klage von DHL ab und stützte sich dabei auf einen Grundsatz, wonach die verschiedenen Kronzeugenregelungen und die sich darauf beziehenden Anträge eigenständig und voneinander unabhängig seien.

27

DHL focht die erstinstanzliche Entscheidung vor dem vorlegenden Gericht an. Die streitige Entscheidung verstoße gegen die Grundsätze, die sich insbesondere aus der Bekanntmachung über die Zusammenarbeit und dem ECN-Kronzeugenregelungsmodell ergäben. Die Regelungen und Instrumente des ECN seien für die AGCM verbindlich, da diese eine zu diesem Netz gehörende nationale Wettbewerbsbehörde sei.

28

Unter diesen Umständen hat der Consiglio di Stato (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind Art. 101 AEUV, Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 11 der Verordnung Nr. 1/2003 dahin auszulegen, dass

1.

die nationalen Wettbewerbsbehörden in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens in ihrer Anwendungspraxis nicht von den Instrumenten abweichen dürfen, die vom Europäischen Wettbewerbsnetz definiert und beschlossen wurden, insbesondere nicht vom Kronzeugenregelungsmodell, ohne den Feststellungen des Gerichtshofs der Europäischen Union in den Rn. 21 und 22 des Urteils Pfleiderer (C‑360/09, EU:C:2011:389) zuwiderzuhandeln;

2.

zwischen dem Hauptantrag auf Erlass der Geldbuße, den ein Unternehmen bei der Kommission eingereicht hat bzw. im Begriff ist einzureichen, und dem Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße, den es für dasselbe Kartell bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde eingereicht hat, ein rechtlicher Zusammenhang derart besteht, dass die nationale Wettbewerbsbehörde – ungeachtet der Bestimmung in Ziff. 38 der Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden – nach Rn. 22 des ECN-Kronzeugenregelungsmodells von 2006 (jetzt Rn. 24 des ECN-Kronzeugenregelungsmodells von 2012) und der dazugehörigen Erläuterung Nr. 45 (jetzt Erläuterung Nr. 49 zum ECN-Kronzeugenregelungsmodell von 2012) verpflichtet ist:

den Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße im Licht des Hauptantrags dahin zu prüfen, ob er genau dem Inhalt des Hauptantrags entspricht;

hilfsweise – falls sie zu dem Ergebnis gelangen sollte, dass der eingegangene Kurzantrag einen engeren inhaltlichen Umfang als der Hauptantrag des Unternehmens hat, auf dessen Grundlage die Kommission einen bedingten Geldbußenerlass gewährt hat –, die Kommission oder das Unternehmen selbst zu kontaktieren, um sich zu vergewissern, ob das Unternehmen nach Einreichung des Kurzantrags infolge seiner internen Untersuchungen konkrete und spezifische Beispiele für Verhaltensweisen in dem Bereich festgestellt hat, der angeblich vom Hauptantrag auf Erlass der Geldbuße, nicht aber vom Kurzantrag umfasst ist;

3.

nach den Rn. 3 und 22 bis 24 des ECN-Kronzeugenregelungsmodells von 2006 und den dazugehörigen Erläuterungen Nrn. 8, 41, 45 und 46 sowie unter Berücksichtigung der Änderungen durch die Rn. 24 bis 26 des ECN-Kronzeugenregelungsmodells von 2012 und die dazugehörigen Erläuterungen Nrn. 44 und 49 eine nationale Wettbewerbsbehörde, die zu dem für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Zeitpunkt eine Kronzeugenregelung wie jene des Ausgangsverfahrens anwendete, für ein bestimmtes geheimes Kartell, für das das erste Unternehmen bei der Kommission einen Hauptantrag auf Erlass der Geldbuße gestellt hat bzw. im Begriff ist zu stellen, befugt war, Folgendes entgegenzunehmen:

nur einen Kurzantrag dieses Unternehmens auf Erlass der Geldbuße oder

auch nachfolgende Kurzanträge anderer Unternehmen, die bei der Kommission in erster Linie einen „unzulässigen“ Antrag auf Erlass der Geldbuße oder einen Antrag auf Ermäßigung der Geldbuße gestellt hatten, insbesondere wenn die Hauptanträge dieser Unternehmen gestellt wurden, nachdem dem ersten Unternehmen ein bedingter Erlass der Geldbuße gewährt worden war?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

29

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Bestimmungen des Unionsrechts, insbesondere Art. 101 AEUV und die Verordnung Nr. 1/2003, dahin auszulegen sind, dass die im Rahmen des ECN beschlossenen Instrumente, insbesondere das ECN-Kronzeugenregelungsmodell, für die nationalen Wettbewerbsbehörden verbindlich sind.

30

Nach ständiger Rechtsprechung soll mit dem in Kapitel IV der Verordnung Nr. 1/2003 eingerichteten Mechanismus der Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden eine kohärente Anwendung der Wettbewerbsregeln in den Mitgliedstaaten gewährleistet werden (vgl. in diesem Sinne Urteile X, C‑429/07, EU:C:2009:359, Rn. 20, und Tele2 Polska, C‑375/09, EU:C:2011:270, Rn. 26).

31

Gemäß dem 15. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1/2003 bilden die Kommission und die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten gemeinsam ein Netz von Behörden, die die Wettbewerbsregeln der Union in enger Zusammenarbeit anwenden. Im Hinblick hierauf ist in Ziff. 1 der Bekanntmachung über die Zusammenarbeit ausgeführt, dass dieses Netz ein Diskussions- und Kooperationsforum für die Anwendung und Durchsetzung der Wettbewerbspolitik der Union darstellt.

32

Hieraus ergibt sich, dass das ECN, mit dem die Diskussion und die Zusammenarbeit bei der Durchführung der Wettbewerbspolitik gefördert werden soll, nicht befugt ist, rechtsverbindliche Regelungen zu erlassen.

33

Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang bereits entschieden, dass weder die Bekanntmachung über die Zusammenarbeit noch die Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen (ABl. 2006, C 298, S. 17, im Folgenden: Kronzeugenregelung) für die Mitgliedstaaten verbindlich sind (vgl. Urteil Pfleiderer, C‑360/09, EU:C:2011:389, Rn. 21).

34

Zudem ist darauf hinzuweisen, dass die Bekanntmachung über die Zusammenarbeit und die Kronzeugenregelung, die im Rahmen des ECN erlassen wurden, im Jahr 2004 bzw. 2006 in der Reihe „C“ des Amtsblatts der Europäischen Union veröffentlicht wurden, in der, anders als in der Reihe „L“ des Amtsblatts, keine rechtlich verbindlichen Rechtsakte, sondern nur Informationen, Empfehlungen und Stellungnahmen betreffend die Union veröffentlicht werden (Urteile Polska Telefonia Cyfrowa, C‑410/09, EU:C:2011:294, Rn. 35, und Expedia, C‑226/11, EU:C:2012:795, Rn. 30).

35

Folglich können diese Mitteilungen keine Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten begründen.

36

Was insbesondere die Kronzeugenregelung angeht, die innerhalb der Union den Unternehmen, die mit der Kommission oder mit den nationalen Wettbewerbsbehörden zusammenarbeiten, um rechtswidrige Kartelle aufzudecken, zugute kommt, ist festzustellen, dass weder die Bestimmungen des AEU-Vertrags noch die Verordnung Nr. 1/2003 eine gemeinsame Kronzeugenregelung vorsehen (Urteil Pfleiderer, C‑360/09, EU:C:2011:389, Rn. 20). Mangels eines zentralisierten Systems auf Unionsebene für die Entgegennahme und Beurteilung von Anträgen auf Kronzeugenbehandlung in Bezug auf Verstöße gegen Art. 101 AEUV bestimmt die nationale Wettbewerbsbehörde die Behandlung solcher an sie gerichteter Anträge nach Maßgabe des Rechts des Mitgliedstaats, dem sie angehört.

37

Ferner bezieht sich die Kronzeugenregelung nur auf Kronzeugenprogramme, die von der Kommission durchgeführt werden (Urteil Pfleiderer, C‑360/09, EU:C:2011:389, Rn. 21).

38

In diesem Rahmen ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass das ECN-Kronzeugenregelungsmodell keine verbindliche Wirkung gegenüber den Gerichten der Mitgliedstaaten hat (Urteil Pfleiderer, C‑360/09, EU:C:2011:389, Rn. 22).

39

DHL ist allerdings der Ansicht, dass diese Rechtsprechung nur auf die nationalen Gerichte und nicht auf die nationalen Wettbewerbsbehörden abziele. Das vom Gerichtshof in der Rechtssache Pfleiderer (C‑360/09, EU:C:2011:389) gefundene Ergebnis sei nur durch den Umstand gerechtfertigt gewesen, dass die in Rede stehenden Bestimmungen nicht unmittelbar wirksam seien und somit von den nationalen Gerichten in Zivil- oder Verwaltungsrechtsstreitigkeiten nicht angewendet werden könnten.

40

Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden.

41

Da die Mitgliedstaaten nach Art. 35 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 nationale Gerichte als nationale Wettbewerbsbehörden bestimmen können, könnte zum einen die einheitliche Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten gefährdet sein. Der verbindliche Charakter des ECN-Kronzeugenregelungsmodells würde nämlich je nach der – gerichtlichen oder administrativen – Natur der nationalen Wettbewerbsbehörden der verschiedenen Mitgliedstaaten variieren.

42

Zum anderen hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass das von der Kommission mittels der Kronzeugenregelung eingeführte Kronzeugenprogramm für die Mitgliedstaaten nicht verbindlich ist (Urteil Kone u. a., C‑557/12, EU:C:2014:1317, Rn. 36). Diese Feststellung gilt auch für das ECN-Kronzeugenregelungsmodell.

43

Ferner ändert der von DHL vorgebrachte Umstand, wonach sich die nationalen Wettbewerbsbehörden zur Beachtung der in der Bekanntmachung über die Zusammenarbeit genannten Grundsätze förmlich verpflichtet haben, im Hinblick auf das Unionsrecht weder den rechtlichen Stellenwert dieser Bekanntmachung noch den des ECN-Kronzeugenregelungsmodells.

44

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Bestimmungen des Unionsrechts, insbesondere Art. 101 AEUV und die Verordnung Nr. 1/2003, dahin auszulegen sind, dass die im Rahmen des ECN beschlossenen Instrumente, insbesondere das ECN-Kronzeugenregelungsmodell, für die nationalen Wettbewerbsbehörden nicht verbindlich sind.

Zur zweiten Frage

45

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht erstens wissen, ob die Bestimmungen des Unionsrechts, insbesondere Art. 101 AEUV und die Verordnung Nr. 1/2003, dahin auszulegen sind, dass zwischen dem Antrag auf Erlass der Geldbuße, den ein Unternehmen bei der Kommission eingereicht hat oder im Begriff ist einzureichen, und dem für dasselbe Kartell bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde eingereichten Kurzantrag ein rechtlicher Zusammenhang besteht, der diese Behörde verpflichtet, den Kurzantrag – für den Fall, dass er dem bei der Kommission gestellten Antrag auf Erlass der Geldbuße inhaltlich genau entspricht – im Licht des Antrags auf Erlass der Geldbuße zu beurteilen. Zweitens stellt das vorlegende Gericht die Frage, ob die nationale Wettbewerbsbehörde – sollte der inhaltliche Umfang des Kurzantrags enger sein als der des Antrags auf Erlass der Geldbuße – verpflichtet ist, die Kommission oder das Unternehmen selbst zu kontaktieren, um sich zu vergewissern, ob dieses Unternehmen das Vorliegen konkreter Beispiele für rechtswidrige Verhaltensweisen auf dem Sektor festgestellt hat, der angeblich vom Antrag auf Erlass der Geldbuße, nicht aber vom Kurzantrag umfasst ist.

Zur Zulässigkeit

46

Agility und die französische Regierung haben die Einrede der Unzulässigkeit des ersten Teils der zweiten Frage geltend gemacht und dies mit ihrer fehlenden Relevanz bzw. ihrem hypothetischen Charakter begründet.

47

Sie sind der Ansicht, dass sich im Ausgangsrechtsstreit die Frage stelle, ob ein Kurzantrag im Licht des bei der Kommission gestellten Antrags auf Erlass der Geldbuße zu beurteilen ist, wenn diese Anträge nicht den gleichen inhaltlichen Umfang aufweisen. Hingegen möchte das vorlegende Gericht mit seiner in erster Linie formulierten Frage wissen, ob der Kurzantrag im Licht des bei der Kommission gestellten Antrags auf Erlass der Geldbuße auszulegen ist, wenn der Kurzantrag diesem inhaltlich genau entspricht.

48

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des nationalen Gerichts ist, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (vgl. u. a. Urteile Kamberaj, C‑571/10, EU:C:2012:233, Rn. 40, sowie Banco Privado Português und Massa Insolvente do Banco Privado Português, C‑667/13, EU:C:2015:151, Rn. 34).

49

Daher ist die Zurückweisung des Vorabentscheidungsersuchens eines nationalen Gerichts nur möglich, wenn offensichtlich ist, dass die erbetene Auslegung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. u. a. Urteile Kamberaj, C‑571/10, EU:C:2012:233, Rn. 42, und Banco Privado Português und Massa Insolvente do Banco Privado Português, C‑667/13, EU:C:2015:151, Rn. 36).

50

Dies ist hier nicht der Fall.

51

Es ist nämlich festzustellen, dass sich zum einen aus der Vorlageentscheidung ergibt, dass DHL am 5. Juni 2007 bei der Kommission einen Antrag auf Erlass der Geldbuße hinsichtlich mehrerer Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht der Union auf dem Sektor der internationalen Frachtverkehrsdienste gestellt hat. Zum anderen hat DHL am 12. Juli 2007 bei der AGCM einen Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße bezüglich rechtswidriger Verhaltensweisen auf dem Markt für den internationalen Frachtverkehr von und nach Italien gestellt.

52

Angesichts des Umstands, dass zwischen der AGCM und DHL Uneinigkeit über den sachlichen Inhalt des Kurzantrags und folglich über eventuelle Ähnlichkeiten oder Abweichungen bezüglich des inhaltlichen Umfangs der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Anträge herrscht, ist nicht offensichtlich, dass die Beantwortung des ersten Teils der zweiten Frage für das vorlegende Gericht nicht zweckdienlich wäre.

53

Unter diesen Umständen ist der erste Teil der zweiten Frage als zulässig anzusehen.

Zur Beantwortung der Frage

54

Das System der Kronzeugenregelungen beruht auf dem Grundsatz, wonach die Wettbewerbsbehörden das Unternehmen, das seine Beteiligung an einem Kartell anzeigt, von der Zahlung der Geldbuße befreit, wenn es als erstes Informationen übermittelt, aufgrund deren insbesondere ein Verstoß gegen Art. 101 AEUV festgestellt werden kann.

55

Nach Ziff. 38 der Bekanntmachung über die Zusammenarbeit gilt jedoch in Ermangelung eines unionsweiten Systems vollständig harmonisierter Kronzeugenprogramme ein bei einer bestimmten Behörde gestellter Antrag auf Kronzeugenbehandlung nicht als Antrag auf Kronzeugenbehandlung bei einer anderen Behörde. Wie in Rn. 36 des vorliegenden Urteils festgestellt wurde, bestimmt sich nämlich die Behandlung eines Antrags auf Kronzeugenbehandlung nach dem Recht jedes Mitgliedstaats.

56

Im Hinblick hierauf weist Rn. 1 des ECN-Kronzeugenregelungsmodells darauf hin, dass es im Interesse der Unternehmen liegt, bei allen Wettbewerbsbehörden, die für die Anwendung von Art. 101 AEUV in dem von der Zuwiderhandlung betroffenen Gebiet zuständig sind und gegebenenfalls als gut geeignet angesehen werden, gegen die fragliche Zuwiderhandlung vorzugehen, eine Kronzeugenbehandlung zu beantragen.

57

Des Weiteren steht es den nationalen Wettbewerbsbehörden frei, Kronzeugenregelungen zu erlassen, und jede dieser Regelungen ist nicht nur im Verhältnis zu den anderen nationalen Regelungen, sondern auch zur Kronzeugenregelung der Union eigenständig.

58

Die Koexistenz und die Eigenständigkeit, die somit die Beziehungen zwischen der Kronzeugenregelung der Union und den Kronzeugenregelungen der Mitgliedstaaten kennzeichnen, sind Ausdruck des durch die Verordnung Nr. 1/2003 errichteten Systems paralleler Zuständigkeiten der Kommission und der nationalen Wettbewerbsbehörden.

59

Hieraus ergibt sich, dass es im Fall eines Kartells, dessen wettbewerbswidrige Auswirkungen möglicherweise in mehreren Mitgliedstaaten auftreten und die folglich das Tätigwerden verschiedener nationaler Wettbewerbsbehörden und der Kommission nach sich ziehen können, im Interesse des Unternehmens liegt, das wegen seiner Beteiligung am betreffenden Kartell an einer Kronzeugenregelung teilhaben möchte, Anträge auf Erlass der Geldbuße nicht nur bei der Kommission zu stellen, sondern auch bei den nationalen Wettbewerbsbehörden, die möglicherweise für die Anwendung von Art. 101 AEUV zuständig sind.

60

Die Eigenständigkeit der Kronzeugenregelungen muss sich notwendigerweise auf die verschiedenen bei der Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden gestellten Anträge auf Erlass der Geldbuße erstrecken, da diese integraler Bestandteil dieser Regelungen sind. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass sich die Eigenständigkeit dieser Anträge unmittelbar aus dem Umstand ergibt, dass auf Unionsebene kein einheitliches System der Selbstanzeige von Unternehmen besteht, die unter Verstoß gegen Art. 101 AEUV an Kartellen beteiligt sind. Aus dieser Eigenständigkeit ändert es im Übrigen nichts, dass die verschiedenen Anträge denselben Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht zum Gegenstand haben.

61

Das behauptete Vorliegen eines rechtlichen Zusammenhangs zwischen dem bei der Kommission gestellten Antrag auf Erlass der Geldbuße und dem bei den nationalen Wettbewerbsbehörden gestellten Kurzantrag, der diese Behörden dazu verpflichten soll, den letztgenannten Antrag im Licht des Antrags auf Erlass der Geldbuße zu beurteilen, würde die Eigenständigkeit der verschiedenen Anträge und folglich den Sinn und Zweck des Systems der Kurzanträge selbst in Frage stellen. Dieses System beruht nämlich auf dem Grundsatz, wonach es auf Unionsebene keinen einheitlichen Antrag auf Kronzeugenbehandlung oder einen parallel zu „akzessorischen“ Anträgen gestellten „Hauptantrag“ gibt, sondern Anträge auf Erlass der Geldbuße, die bei der Kommission gestellt werden, und Kurzanträge, die bei den nationalen Wettbewerbsbehörden gestellt werden, deren Beurteilung ausschließlich Sache der Behörde ist, an die diese Anträge gerichtet sind.

62

In jedem Fall verpflichtet keine Bestimmung des Unionsrechts in Kartellangelegenheiten die nationalen Wettbewerbsbehörden dazu, einen Kurzantrag im Licht eines bei der Kommission gestellten Antrags auf Erlass der Geldbuße auszulegen, unabhängig davon, ob dieser Kurzantrag dem bei der Kommission gestellten Antrag inhaltlich genau entspricht oder nicht.

63

Was ferner die eventuelle Verpflichtung der nationalen Wettbewerbsbehörde anbetrifft, die Kommission oder das Unternehmen, das bei ihr einen Kurzantrag gestellt hat, zu kontaktieren, wenn dieser Antrag einen engeren inhaltlichen Umfang hat als der Antrag auf Erlass der Geldbuße, ist darauf hinzuweisen, dass – wie der Generalanwalt in Nr. 78 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – eine solche Verpflichtung die Pflicht der Antragsteller auf Kronzeugenbehandlung zur Zusammenarbeit, die einer der Pfeiler jeder Kronzeugenregelung ist, abschwächen könnte.

64

Unter diesen Umständen ist es Sache des Unternehmens, das bei den nationalen Wettbewerbsbehörden die Behandlung nach der Kronzeugenregelung beantragt, sich zu vergewissern, dass keiner seiner Anträge Unsicherheiten hinsichtlich seines Umfangs aufweist, und dies umso mehr, als – wie in Rn. 62 des vorliegenden Urteils ausgeführt wurde – die nationalen Wettbewerbsbehörden nicht verpflichtet sind, einen Kurzantrag im Licht eines bei der Kommission gestellten Antrags auf Erlass der Geldbuße zu beurteilen.

65

Nur diese Auslegung, die auf der Verpflichtung für das Unternehmen beruht, die nationalen Wettbewerbsbehörden zu informieren, wenn sich herausstellt, dass die tatsächliche Tragweite des Kartells von der bei diesen Behörden oder bei der Kommission erklärten abweicht, ist geeignet, sicherzustellen, dass die Eigenständigkeit der verschiedenen Kronzeugenregelungen gewahrt wird.

66

Wenn nämlich die den nationalen Wettbewerbsbehörden zur Verfügung stehende bloße Möglichkeit, sich an die Unternehmen, die Kurzanträge bei ihnen eingereicht haben, zu wenden, um ergänzende Informationen zu erhalten, durch eine Verpflichtung ersetzt würde, diese Unternehmen oder die Kommission zu kontaktieren, wenn diese Anträge einen engeren inhaltlichen Umfang haben als die bei der Kommission gestellten Anträge auf Erlass der Geldbuße, würde unter den betreffenden Anträgen eine Hierarchie geschaffen, was gegen das von der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehene dezentralisierte System verstieße.

67

Auf die zweite Frage ist daher wie folgt zu antworten:

Die Bestimmungen des Unionsrechts, insbesondere Art. 101 AEUV und die Verordnung Nr. 1/2003, sind dahin auszulegen, dass zwischen dem Antrag auf Erlass der Geldbuße, den ein Unternehmen bei der Kommission eingereicht hat oder im Begriff ist einzureichen, und dem für dasselbe Kartell bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde eingereichten Kurzantrag kein rechtlicher Zusammenhang besteht, der diese Behörde verpflichtet, den Kurzantrag im Licht des Antrags auf Erlass der Geldbuße zu beurteilen. Ob der Kurzantrag dem bei der Kommission gestellten Antrag inhaltlich genau entspricht oder nicht, ist hierbei ohne Belang.

Ist der inhaltliche Umfang des bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde gestellten Kurzantrags enger als der des bei der Kommission gestellten Antrags auf Erlass der Geldbuße, so ist diese nationale Behörde nicht verpflichtet, die Kommission oder das Unternehmen selbst zu kontaktieren, um sich zu vergewissern, ob dieses Unternehmen das Vorliegen konkreter Beispiele für rechtswidrige Verhaltensweisen auf dem Sektor festgestellt hat, der angeblich vom Antrag auf Erlass der Geldbuße, nicht aber vom Kurzantrag umfasst ist.

Zur dritten Frage

68

Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Bestimmungen des Unionsrechts, insbesondere Art. 101 AEUV und die Verordnung Nr. 1/2003, dahin auszulegen sind, dass, wenn ein erstes Unternehmen einen Antrag auf Erlass der Geldbuße bei der Kommission gestellt hat, nur dieses Unternehmen einen Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde stellen kann, oder ob hierzu auch andere Unternehmen, die bei der Kommission die Ermäßigung der Geldbuße beantragt hatten, befugt sind.

Zur Zulässigkeit

69

Nach Ansicht der italienischen und der österreichischen Regierung ist die dritte Vorlagefrage unzulässig, weil das vorlegende Gericht damit den Gerichtshof um Auslegung des nationalen Rechts, insbesondere der nationalen Kronzeugenregelung, ersuche.

70

Nach ständiger Rechtsprechung kann der Gerichtshof im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nicht über die Vereinbarkeit innerstaatlicher Rechtsnormen mit dem Unionsrecht oder über die Auslegung nationaler Vorschriften entscheiden (vgl. u. a. Urteile Jaeger, C‑151/02, EU:C:2003:437, Rn. 43, und Consorci Sanitari del Maresme, C‑203/14, EU:C:2015:664, Rn. 43).

71

Im vorliegenden Fall ergibt sich jedoch aus der dritten Frage, dass das vorlegende Gericht im Rahmen der Durchführung der Regelung paralleler Zuständigkeiten zwischen der Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden den Gerichtshof um Auslegung des Unionsrechts, insbesondere des Art. 101 AEUV und der Verordnung Nr. 1/2003, ersucht, um festzustellen, ob die AGCM in Anwendung der nationalen Kronzeugenregelung „befugt war“, bestimmte Kurzanträge auf Erlass der Geldbuße entgegenzunehmen.

72

Daher ist dem vorlegenden Gericht durch Mitteilung von aus dem Unionsrecht herrührenden Auslegungsgesichtspunkten, die ihm eine Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der streitigen Entscheidung ermöglichen werden, eine zweckmäßige Antwort zu geben.

73

Daraus folgt, dass die dritte Vorlagefrage als zulässig anzusehen ist.

Zur Beantwortung der Frage

74

Der dieser Vorlagefrage zugrunde liegende Zweifel des vorlegenden Gerichts ist darauf zurückzuführen, dass nach dem ECN-Kronzeugenregelungsmodell der Rückgriff auf das System der Kurzanträge auf Erlass der Geldbuße auf nationaler Ebene dem Unternehmen offenstand, das bei der Kommission einen Antrag auf Erlass der Geldbuße gestellt hatte, während nicht klar war, ob dies auch für Unternehmen galt, die bei der Kommission eine bloße Ermäßigung der Geldbuße beantragt hatten.

75

Die Möglichkeit für ein Unternehmen, das nicht als erstes einen Antrag auf Erlass der Geldbuße bei der Kommission gestellt hatte und folglich keinen vollständigen Erlass, sondern nur eine Ermäßigung der Geldbuße erhalten konnte, bei den nationalen Wettbewerbsbehörden einen Kurzantrag auf Erlass zu stellen, war im ECN-Kronzeugenregelungsmodell erst nach den im Laufe des Jahres 2012 in dieser Regelung eingeführten Änderungen ausdrücklich vorgesehen.

76

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass das ECN-Kronzeugenregelungsmodell in seiner Fassung zum Zeitpunkt des Sachverhalts im Ausgangsverfahren nicht ausdrücklich die Möglichkeit vorsah, dass Unternehmen, die bei der Kommission einen Antrag auf Ermäßigung der Geldbuße gestellt hatten, bei den nationalen Wettbewerbsbehörden einen Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße stellen, nicht dahin ausgelegt werden kann, dass er diese Behörden daran hindert, unter diesen Umständen einen solchen Kurzantrag entgegenzunehmen.

77

Wie in Rn. 44 des vorliegenden Urteils ausgeführt, sind nämlich die im Rahmen des ECN beschlossenen Instrumente, insbesondere das ECN-Kronzeugenregelungsmodell, für die nationalen Wettbewerbsbehörden nicht verbindlich. Diese fehlende Verbindlichkeit hat zum einen die Wirkung, dass für die Mitgliedstaaten keine Verpflichtung besteht, die Bestimmungen des ECN-Kronzeugenregelungsmodells in ihre Kronzeugenregelungen zu inkorporieren, und zum anderen, dass ihnen auch nicht verboten werden kann, auf nationaler Ebene Vorschriften zu erlassen, die in diesem Regelungsmodell nicht enthalten sind oder von diesem abweichen, solange diese Zuständigkeit unter Beachtung des Unionsrechts, insbesondere des Art. 101 AEUV und der Verordnung Nr. 1/2003, ausgeübt wird.

78

Die Zuständigkeit, über die die Mitgliedstaaten für die Festlegung ihrer Kronzeugenregelungen verfügen, muss unter Beachtung des Unionsrechts, insbesondere der Verordnung Nr. 1/2003, ausgeübt werden. Insbesondere dürfen die Mitgliedstaaten die Verwirklichung des Unionsrechts nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren und müssen, speziell im Bereich des Wettbewerbsrechts, dafür sorgen, dass die Vorschriften, die sie erlassen oder anwenden, die wirksame Anwendung der Art. 101 AEUV und 102 AEUV nicht beeinträchtigen (Urteile Pfleiderer, C‑360/09, EU:C:2011:389, Rn. 24, sowie Kone u. a., C‑557/12, EU:C:2014:1317, Rn. 26).

79

Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass Kronzeugenprogramme nützliche Instrumente sind, um Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht effizient aufzudecken und zu beenden, und damit der wirksamen Anwendung der Art. 101 AEUV und 102 AEUV dienen (Urteil Pfleiderer, C‑360/09, EU:C:2011:389, Rn. 25).

80

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die wirksame Anwendung von Art. 101 AEUV einer nationalen Kronzeugenregelung, die die Entgegennahme eines Kurzantrags auf Erlass der Geldbuße eines Unternehmens, das keinen Antrag auf vollständigen Erlass bei der Kommission gestellt hatte, zulässt, nicht entgegensteht.

81

Vielmehr entspricht ein solcher Ansatz dem der Errichtung des Systems der Anträge auf Kronzeugenbehandlung zugrunde liegenden Sinn und Zweck. Dieses System soll nämlich insbesondere die Aufdeckung von Verhaltensweisen fördern, die gegen Art. 101 AEUV verstoßen, indem den Kartellbeteiligten ein Anreiz gegeben wird, diese anzuzeigen. Folglich zielt es darauf ab, die Einreichung solcher Anträge zu fördern, und nicht darauf, ihre Anzahl zu begrenzen.

82

So hat der Gerichtshof entschieden, dass die Kronzeugenregelung den Zweck hat, ein Klima der Unsicherheit innerhalb der Kartelle zu schaffen, um sie zu deren Anzeige bei der Kommission zu ermutigen (Urteil LG Display und LG Display Taiwan/Kommission, C‑227/14 P, EU:C:2015:258, Rn. 87). Diese Unsicherheit ergibt sich insbesondere daraus, dass nur ein Kartellbeteiligter einen vollständigen Erlass erlangen kann, und dass die Kommission jederzeit auf seine Initiative hin von diesem Kartell erfahren kann.

83

In diesem Zusammenhang kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein Unternehmen, das bei der Kommission nicht als erstes einen Antrag auf Erlass der Geldbuße gestellt hat und folglich nur eine Ermäßigung der Geldbuße erreichen kann, durch die Einreichung eines Kurzantrags auf Erlass möglicherweise als erstes Unternehmen die nationale Wettbewerbsbehörde vom Bestehen des betreffenden Kartells informiert. In einem solchen Fall – sollte die Kommission ihre Untersuchung hinsichtlich desselben Sachverhalts wie des bei der nationalen Behörde angezeigten nicht weiterverfolgen – könnte das betreffende Unternehmen einen vollständigen Erlass nach der nationalen Kronzeugenregelung erhalten.

84

Daher ist auf die dritte Frage zu antworten, dass die Bestimmungen des Unionsrechts, insbesondere Art. 101 AEUV und die Verordnung Nr. 1/2003, dahin auszulegen sind, dass sie eine nationale Wettbewerbsbehörde nicht daran hindern, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens einen Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße eines Unternehmens entgegenzunehmen, das bei der Kommission keinen Antrag auf vollständigen Erlass, sondern auf Ermäßigung der Geldbuße gestellt hat.

Kosten

85

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Die Bestimmungen des Unionsrechts, insbesondere Art. 101 AEUV und die Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101 AEUV] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln, sind dahin auszulegen, dass die im Rahmen des Europäischen Wettbewerbsnetzes beschlossenen Instrumente, insbesondere das Kronzeugenregelungsmodell dieses Netzes, für die nationalen Wettbewerbsbehörden nicht verbindlich sind.

 

2.

Die Bestimmungen des Unionsrechts, insbesondere Art. 101 AEUV und die Verordnung Nr. 1/2003, sind dahin auszulegen, dass zwischen dem Antrag auf Erlass der Geldbuße, den ein Unternehmen bei der Europäischen Kommission eingereicht hat oder im Begriff ist einzureichen, und dem für dasselbe Kartell bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde eingereichten Kurzantrag kein rechtlicher Zusammenhang besteht, der diese Behörde verpflichtet, den Kurzantrag im Licht des Antrags auf Erlass der Geldbuße zu beurteilen. Ob der Kurzantrag dem bei der Kommission gestellten Antrag inhaltlich genau entspricht oder nicht, ist hierbei ohne Belang.

Ist der inhaltliche Umfang des bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde gestellten Kurzantrags enger als der des bei der Kommission gestellten Antrags auf Erlass der Geldbuße, so ist diese nationale Behörde nicht verpflichtet, die Kommission oder das Unternehmen selbst zu kontaktieren, um sich zu vergewissern, ob dieses Unternehmen das Vorliegen konkreter Beispiele für rechtswidrige Verhaltensweisen auf dem Sektor festgestellt hat, der angeblich vom Antrag auf Erlass der Geldbuße, nicht aber vom Kurzantrag umfasst ist.

 

3.

Die Bestimmungen des Unionsrechts, insbesondere Art. 101 AEUV und die Verordnung Nr. 1/2003, sind dahin auszulegen, dass sie eine nationale Wettbewerbsbehörde nicht daran hindern, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens einen Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße eines Unternehmens entgegenzunehmen, das bei der Kommission keinen Antrag auf vollständigen Erlass, sondern auf Ermäßigung der Geldbuße gestellt hat.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.

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Referenzen

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