Urteil vom Europäischer Gerichtshof - C-12/14

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

3. März 2016 ( *1 )

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats — Soziale Sicherheit — Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 — Art. 46b — Verordnung (EG) Nr. 883/2004 — Art. 54 — Altersversorgung — Doppelleistungsbestimmungen — Personen, die eine Altersrente nach der nationalen Regelung und eine Beamtenpension nach der Regelung eines anderen Mitgliedstaats erhalten — Kürzung des Betrags der Altersrente“

In der Rechtssache C‑12/14

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 10. Januar 2014,

Europäische Kommission, vertreten durch K. Mifsud-Bonnici und D. Martin als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

gegen

Republik Malta, vertreten durch A. Buhagiar und P. Grech als Bevollmächtigte,

Beklagte,

unterstützt durch

Republik Österreich, vertreten durch C. Pesendorfer und G. Hesse als Bevollmächtigte,

Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland, vertreten durch J. Beeko, S. Behzadi-Spencer und V. Kaye als Bevollmächtigte im Beistand von T. de la Mare, QC,

Streithelfer,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Dritten Kammer L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Vierten Kammer, der Richter J. Malenovský und M. Safjan sowie der Richterinnen A. Prechal (Berichterstatterin) und K. Jürimäe,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. Juli 2015,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. November 2015

folgendes

Urteil

1

Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass die Republik Malta dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 46b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, geändert und aktualisiert durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1), in der durch die Verordnung (EG) Nr. 592/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 (ABl. L 177, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71) sowie gegen Art. 54 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166, S. 1, und – Berichtigung – ABl. L 200, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 (ABl. L 149, S. 4) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004) verstoßen hat, dass sie maltesische Altersrenten um den Betrag von Beamtenpensionen anderer Mitgliedstaaten kürzt.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Verordnung Nr. 1408/71

2

Art. 1 („Begriffsbestimmungen“) Buchst. j der Verordnung Nr. 1408/71 sieht vor:

„Für die Anwendung dieser Verordnung werden die nachstehenden Begriffe wie folgt definiert:

j)

Rechtsvorschriften‘: in jedem Mitgliedstaat die bestehenden und künftigen Gesetze, Verordnungen, Satzungen und alle anderen Durchführungsvorschriften in Bezug auf die in Artikel 4 [Absatz 1] genannten Zweige und Systeme der sozialen Sicherheit …

…“

3

Art. 4 („Sachlicher Geltungsbereich“) Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:

„Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die folgende Leistungsarten betreffen:

c)

Leistungen bei Alter,

…“

4

Art. 5 der Verordnung Nr. 1408/71 sieht eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Abgabe von Erklärungen zum Geltungsbereich dieser Verordnung vor. Dort heißt es:

„Die Mitgliedstaaten geben in Erklärungen, die gemäß Artikel 97 notifiziert und veröffentlicht werden, die Rechtsvorschriften und Systeme, die unter Artikel 4 [Absatz 1] fallen, … an.“

5

In Art. 46b („Besondere Vorschriften für das Zusammentreffen von Leistungen gleicher Art, die nach den Rechtsvorschriften von zwei oder mehr Mitgliedstaaten geschuldet werden“) der Verordnung Nr. 1408/71 heißt es:

„(1)   Die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vorgesehenen Kürzungs-, Ruhens- oder Entziehungsbestimmungen gelten nicht für eine nach Artikel 46 Absatz 2 berechnete Leistung.

(2)   Die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats über die Kürzung, das Ruhen oder die Entziehung einer Leistung dürfen auf eine nach Artikel 46 Absatz 1 Buchstabe a) Ziffer i) berechnete Leistung nur dann angewandt werden, wenn es sich:

a)

um eine Leistung handelt, deren Höhe von der Dauer der zurückgelegten Versicherungs- oder Wohnzeiten unabhängig ist und die in Anhang IV Teil D aufgeführt ist, oder

b)

um eine Leistung handelt, deren Höhe aufgrund einer fiktiven Zeit bestimmt wird, die als zwischen dem Eintritt des Versicherungsfalls und einem späteren Zeitpunkt zurückgelegt betrachtet wird. In diesem letzteren Fall finden die genannten Vorschriften Anwendung bei Zusammentreffen einer solchen Leistung

i)

mit einer Leistung gleichen Typs, außer wenn ein Abkommen zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten zur Vermeidung einer zwei- oder mehrfachen Berücksichtigung der gleichen fiktiven Zeit geschlossen wurde, oder

ii)

mit einer Leistung der in Buchstabe a) genannten Art.

Die unter den Buchstaben a) und b) genannten Leistungen und die Abkommen sind in Anhang IV Teil D aufgeführt.“

6

Art. 97 („Notifizierungen in Bezug auf bestimmte Vorschriften“) der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:

„(1)   Die Notifizierungen gemäß … Artikel 5 … sind an den Präsidenten des Rates [der Europäischen Union] zu richten. Dabei ist der Zeitpunkt des Inkrafttretens der in Betracht kommenden Rechtsvorschriften und Systeme … anzugeben …

(2)   Notifizierungen nach Absatz 1 werden im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht.“

Verordnung Nr. 883/2004

7

Die Verordnung Nr. 1408/71 wurde durch die Verordnung Nr. 883/2004 ersetzt, die gemäß ihren Art. 91 und 97 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung Nr. 883/2004 (ABl. L 284, S. 1) am 1. Mai 2010 ‐ dem Zeitpunkt, zu dem die Verordnung Nr. 1408/71 aufgehoben wurde – anwendbar wurde.

8

Art. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 definiert den Begriff „Rechtsvorschriften“ folgendermaßen:

„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:

l)

‚Rechtsvorschriften‘ für jeden Mitgliedstaat die Gesetze, Verordnungen, Satzungen und alle anderen Durchführungsvorschriften in Bezug auf die in Artikel 3 Absatz 1 genannten Zweige der sozialen Sicherheit.

…“

9

Art. 3 („Sachlicher Geltungsbereich“) Abs. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt:

„Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften, die folgende Zweige der sozialen Sicherheit betreffen:

d)

Leistungen bei Alter;

…“

10

In Art. 9 („Erklärungen der Mitgliedstaaten zum Geltungsbereich dieser Verordnung“) der Verordnung Nr. 883/2004 heißt es:

„(1)   Die Mitgliedstaaten notifizieren der … Kommission schriftlich … die Rechtsvorschriften, Systeme und Regelungen im Sinne des Artikels 3 … In diesen Notifizierungen ist das Datum anzugeben, ab dem diese Verordnung auf die von den Mitgliedstaaten darin genannten Regelungen Anwendung findet.

(2)   Diese Notifizierungen werden der … Kommission jährlich übermittelt und im erforderlichen Umfang bekannt gemacht.“

11

Nach Art. 54 („Zusammentreffen von Leistungen gleicher Art“) der Verordnung Nr. 883/2004 gilt:

„(1)   Treffen Leistungen gleicher Art, die nach den Rechtsvorschriften von zwei oder mehr Mitgliedstaaten geschuldet werden, zusammen, so gelten die in den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vorgesehenen Doppelleistungsbestimmungen nicht für eine anteilige Leistung.

(2)   Doppelleistungsbestimmungen gelten nur dann für eine autonome Leistung, wenn es sich:

a)

um eine Leistung handelt, deren Höhe von der Dauer der zurückgelegten Versicherungs- oder Wohnzeiten unabhängig ist,

oder

b)

um eine Leistung handelt, deren Höhe unter Berücksichtigung einer fiktiven Zeit bestimmt wird, die als zwischen dem Eintritt des Versicherungsfalls und einem späteren Zeitpunkt zurückgelegt angesehen wird, und die zusammentrifft:

i)

mit einer Leistung gleicher Art, außer wenn zwei oder mehr Mitgliedstaaten ein Abkommen zur Vermeidung einer mehrfachen Berücksichtigung der gleichen fiktiven Zeit geschlossen haben,

oder

ii)

mit einer Leistung nach Buchstabe a).

Die unter den Buchstaben a) und b) genannten Leistungen und Abkommen sind in Anhang IX aufgeführt.“

Richtlinie 98/49/EG

12

In Art. 1 der Richtlinie 98/49/EG des Rates vom 29. Juni 1998 zur Wahrung ergänzender Rentenansprüche von Arbeitnehmern und Selbständigen, die innerhalb der Europäischen Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 209, S. 46) heißt es:

„Ziel dieser Richtlinie ist es, Ansprüche von Anspruchsberechtigten ergänzender Rentensysteme, die sich von einem Mitgliedstaat in einen anderen begeben, zu schützen und dadurch dazu beizutragen, dass Hindernisse für die Freizügigkeit von Arbeitnehmern und Selbständigen innerhalb der Gemeinschaft beseitigt werden. Dieser Schutz betrifft Rentenansprüche aus freiwilligen wie auch aus vorgeschriebenen ergänzenden Rentensystemen mit Ausnahme der von der Verordnung … Nr. 1408/71 erfassten Systeme.“

Nationales Recht

Maltesisches Recht

13

Art. 56 des maltesischen Gesetzes über die soziale Sicherheit (Maltese Social Security Act) sieht vor:

„Wenn eine Person einen Anspruch auf eine andere Pension als eine Pension hat, die zu einem beliebigen Zeitpunkt vollständig als Einmalzahlung geleistet wurde, wird der Betrag dieser Pension von jeder nach den Art. 53 bis 55 des vorliegenden Teils erhaltenen Rente abgezogen.“

Recht des Vereinigten Königreichs

14

Die drei im Vereinigten Königreich geltenden und in der vorliegenden Rechtssache anwendbaren Pensionsregelungen sind die Pensionsregelung des nationalen Gesundheitsdiensts (National Health Service Pension Scheme), die Hauptpensionsregelung des öffentlichen Dienstes (Principal Civil Service Pension Scheme) und die Pensionsregelung der Streitkräfte von 1975 (Armed Forces Pension Scheme 1975), soweit sie das Personal der königlichen Luftwaffe (Royal Air Force) betrifft, das vor dem 6. April 2005 den Dienst aufgenommen hat (im Folgenden zusammen: in Rede stehende Pensionsregelungen). Die Hauptpensionsregelung des öffentlichen Dienstes und die Pensionsregelung des nationalen Gesundheitsdiensts wurden auf der Grundlage des Altersversorgungsgesetzes von 1972 (Superannuation Act 1972) erlassen. Die in der Pensionsregelung der Streitkräfte von 1975 enthaltenen Bestimmungen über die Pensionsregelung für das Personal der königlichen Luftwaffe wurden auf der Grundlage der mit dem Gesetz von 1917 über die Errichtung der Luftwaffe (Air Force [Constitution] Act 1917) verliehenen Befugnisse erlassen.

Vorverfahren

15

Im Anschluss an drei Petitionen an das Europäische Parlament, die von maltesischen Bürgern eingereicht wurden, die rügten, dass der Betrag der Pension, die sie nach den in Rede stehenden Pensionsregelungen erhielten, nach Art. 56 des maltesischen Gesetzes über die soziale Sicherheit von ihrer gesetzlichen maltesischen Altersrente abgezogen worden sei, richtete die Kommission am25. November 2010 ein Mahnschreiben an die Republik Malta, in dem sie diesen Mitgliedstaat auf die mögliche Unvereinbarkeit dieser nationalen Bestimmung mit Art. 46b der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 54 der Verordnung Nr. 883/2004 aufmerksam machte.

16

Die Republik Malta antwortete auf dieses Mahnschreiben mit Schreiben vom 27. Januar und vom 28. Dezember 2011.

17

Mit Schreiben vom 28. Februar 2012 richtete die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme an die Republik Malta, in der sie ihren Standpunkt bekräftigte und diesen Mitgliedstaat aufforderte, der mit Gründen versehenen Stellungnahme innerhalb einer Frist von zwei Monaten ab ihrer Zustellung nachzukommen. Die Republik Malta erhielt ihren Standpunkt in einem Schreiben vom 25. Juli 2012 aufrecht.

18

Da die Antwort der Republik Malta sie nicht zufriedenstellte, beschloss die Kommission, die vorliegende Klage zu erheben.

19

Mit Beschlüssen des Präsidenten des Gerichtshofs vom 4. August 2014 wurden die Republik Österreich und das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Republik Malta zugelassen.

Zur Klage

Zur Zulässigkeit

Vorbringen der Parteien

20

Die Republik Malta stellt die Zulässigkeit der vorliegenden Klage mit der Begründung in Abrede, dass die Kommission die Klage nicht gegen sie, sondern gegen das Vereinigte Königreich hätte richten müssen.

21

Die Republik Malta macht geltend, die in Rede stehenden Pensionsregelungen seien deshalb nicht in den Erklärungen des Vereinigten Königreichs nach Art. 5 der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 9 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 genannt worden, weil das Vereinigte Königreich davon ausgehe, dass die betreffenden Pensionen nicht in den sachlichen Geltungsbereich dieser Verordnungen fielen. Wenn sich die Kommission gegen eine Erklärung wende, die ein Mitgliedstaat in Bezug auf die Leistungen abgegeben habe, die in den Geltungsbereich einer Verordnung über die soziale Sicherheit fielen, dann habe sie, so die Republik Malta, die Prüfung dieser Angelegenheit unmittelbar mit dem betroffenen Mitgliedstaat fortzusetzen. Im vorliegenden Fall sei der einzige Mitgliedstaat, der in der Lage sei, Argumente und Beweise beizubringen, das Vereinigte Königreich. Somit stelle eine Klage gegen die Republik Malta eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren dar.

22

Das Vereinigte Königreich, das die Republik Malta in ihrem Vorbringen unterstützt, macht geltend, dass die Kommission ihr Ermessen missbrauche, indem sie von dem in Art. 258 AEUV vorgesehenen Verfahren Gebrauch mache, um die Maßnahmen eines anderen Mitgliedstaats in Frage zu stellen. Nach Auffassung des Vereinigten Königreichs wird dem Mitgliedstaat, dessen Maßnahmen in Frage gestellt würden, der mit dem Vertragsverletzungsverfahren verliehene Schutz vorenthalten, und auch dann, wenn er als Streithelfer zugelassen werde, verfüge er in diesem Zusammenhang nur über begrenztere Verfahrensrechte.

23

Die Kommission beantragt die Zurückweisung der von der Republik Malta und dem Vereinigten Königreich erhobenen Unzulässigkeitseinrede.

Würdigung durch den Gerichtshof

24

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es Sache der Kommission, wenn sie der Auffassung ist, dass ein Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen verstoßen hat, die Zweckmäßigkeit eines Einschreitens gegen diesen Mitgliedstaat zu beurteilen, die von ihm verletzten Bestimmungen zu benennen und den Zeitpunkt für die Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens zu wählen, wobei die Erwägungen, die für diese Wahl bestimmend sind, die Zulässigkeit ihrer Klage nicht beeinflussen (Urteil Kommission/Polen, C‑311/09, EU:C:2010:257, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25

In Anbetracht dieses Beurteilungsspielraums ist es für die Zulässigkeit der gegen einen Mitgliedstaat erhobenen Vertragsverletzungsklage ohne Bedeutung, dass gegen einen anderen Mitgliedstaat keine derartige Klage erhoben wurde. Gegen die Zulässigkeit der vorliegenden Klage lässt sich daher nicht der Umstand einwenden, dass die Kommission keine Vertragsverletzungsklage gegen das Vereinigte Königreich erhoben hat.

26

Zu der Rüge eines Ermessensmissbrauchs genügt der Hinweis, dass die Kommission nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs kein Klageinteresse nachzuweisen braucht und auch nicht die Gründe darlegen muss, die sie zur Erhebung einer Vertragsverletzungsklage veranlasst haben. Da der Gegenstand der Klage im vorliegenden Fall dem Streitgegenstand entspricht, wie er in dem Mahnschreiben und der mit Gründen versehenen Stellungnahme festgelegt wurde, kann nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, dass die Kommission ermessensmissbräuchlich gehandelt habe (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Spanien, C‑562/07, EU:C:2009:614, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27

Wie der Generalanwalt in Nr. 40 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann die Zulässigkeit einer Vertragsverletzungsklage gegen einen Mitgliedstaat auch nicht durch den Umstand in Frage gestellt werden, dass der Gerichtshof im Rahmen dieser Klage dazu angehalten wäre, zu klären, wie die Regelung eines anderen Mitgliedstaats im Hinblick auf das Unionsrecht einzustufen ist. Durch eine solche Klärung werden auch die Verfahrensrechte dieses zuletzt genannten Mitgliedstaats, der Streithelfer in dem Verfahren ist, nicht verletzt.

28

Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die vorliegende Klage zulässig ist.

Zur Begründetheit

Vorbringen der Parteien

29

In ihrer Klageschrift macht die Kommission erstens geltend, dass die in Rede stehenden Pensionsregelungen in den Geltungsbereich der Verordnungen Nrn. 1408/71 und 883/2004 fielen.

30

Nach Auffassung dieses Organs sehen die Pensionsregelungen des öffentlichen Dienstes des Vereinigten Königreichs zum einen Leistungen bei Alter im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1408/71 und von Art. 3 Abs. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 883/2004 vor und beruhen zum anderen auf „Rechtsvorschriften“ im Sinne von Art. 1 Buchst. j Abs. 1 bzw. Art. 1 Buchst. l Abs. 1 dieser Verordnungen.

31

Die Kommission trägt zweitens vor, dass Art. 46b der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 54 der Verordnung Nr. 883/2004 einer nationalen Rechtsvorschrift wie Art. 56 des maltesischen Gesetzes über die soziale Sicherheit entgegenstünden, soweit diese die Kürzung der nach den maltesischen Gesetzen gezahlten Altersrente bis zur Höhe der Pension des öffentlichen Dienstes des Vereinigten Königreichs vorsehe.

32

In ihrer Klagebeantwortung macht die Republik Malta, insoweit unterstützt von der Republik Österreich und dem Vereinigten Königreich, insbesondere geltend, sie sei durch den Umstand gebunden, dass die britischen Regelungen nie in den vom Vereinigten Königreich nach Art. 5 der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 9 der Verordnung Nr. 883/2004 abgegebenen Erklärungen genannt worden seien. Die Mitgliedstaaten könnten nicht verpflichtet sein, die Rechtsnatur der von anderen Mitgliedstaaten gewährten Leistungen unabhängig zu bewerten und somit die von den betreffenden Mitgliedstaaten nach diesen Bestimmungen abgegebenen Erklärungen zu ignorieren. Eine solche Behauptung sei dem juristischen Wert und dem Status dieser Erklärungen des betroffenen Mitgliedstaats abträglich, beeinträchtige das gesamte mit diesen Verordnungen geschaffene System der Koordinierung der sozialen Sicherheit und bringe Schwierigkeiten praktischer und verwaltungstechnischer Natur mit sich.

33

Die Republik Malta macht, insoweit unterstützt vom Vereinigten Königreich, ferner geltend, dass die Pensionsregelungen des öffentlichen Dienstes des Vereinigten Königreichs als ergänzende Rentensysteme angesehen werden könnten, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie 98/49 fielen. Wenn ein Mitgliedstaat keine Erklärung nach der Verordnung Nr. 1408/71 oder der Verordnung Nr. 883/2004 abgegeben habe und die Pensionsregelungen offenbar als in den Anwendungsbereich der Richtlinie 98/49 fallend ansehe, seien die betreffenden Pensionen als aus dem Geltungsbereich der Verordnungen Nrn. 1408/71 und 883/2004 ausgenommen anzusehen.

34

Die Kommission, nach deren Auffassung die Richtlinie 98/49 im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, erwidert, dass die fehlende Nennung der in Rede stehenden Pensionsregelungen in den vom Vereinigten Königreich abgegebenen Erklärungen von der Republik Malta nicht als ein Beweis dafür angesehen werden könne, dass diese Regelungen nicht unter die in Frage stehenden Bestimmungen fielen. Nach Ansicht der Kommission geht aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass die Republik Malta die Anwendbarkeit der Verordnungen Nrn. 1408/71 und 883/2004 auf die britischen Pensionsregelungen nicht danach hätte beurteilen dürfen, ob eine Leistung in der nationalen Gesetzgebung als „Leistung der sozialen Sicherheit“ eingestuft werde, sondern nach den Tatbestandsmerkmalen der betreffenden Leistung.

Würdigung durch den Gerichtshof

35

Die von der Kommission angeführten Rügen gehen dahin, zunächst feststellen zu lassen, dass die Mitgliedstaaten eine Pflicht zur Prüfung der Gesetzgebung eines anderen Mitgliedstaats haben, um sich zu vergewissern, dass diese Gesetzgebung – ungeachtet der Tatsache, dass sie nicht Gegenstand einer Erklärung des anderen Mitgliedstaats nach Art. 5 der Verordnung Nr. 1408/71 oder nach Art. 9 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 war – in den sachlichen Geltungsbereich dieser Verordnungen fällt, und anschließend, dass eine solche Prüfung, wenn sie von der Republik Malta vorgenommen worden wäre, zu dem Ergebnis hätte führen müssen, dass die in Rede stehenden Rentenregelungen Leistungen bei Alter vorsehen und auf Rechtsvorschriften beruhen, die in den Geltungsbereich der Verordnungen Nrn. 1408/71 sowie 883/2004 fallen, und dass die Anwendung von Art. 56 des maltesischen Gesetzes über die soziale Sicherheit daher, soweit er die Kumulierung der Leistungen aus den in Rede stehenden Pensionsregelungen mit der nach der maltesischen Gesetzgebung geschuldeten Altersrente verbietet, mit Art. 46b der Verordnung Nr. 1408/71 und mit Art. 54 der Verordnung Nr. 883/2004 unvereinbar ist.

36

Art. 5 der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 9 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 erlegen den Mitgliedstaaten eine Pflicht auf, die Rechtsvorschriften und Systeme betreffend Leistungen der sozialen Sicherheit zu erklären, die in den sachlichen Geltungsbereich dieser Verordnungen fallen, und die Mitgliedstaaten haben sich daran – unter Beachtung der aus Art. 4 Abs. 3 EUV folgenden Anforderungen – zu halten.

37

Aus dem in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit ergibt sich nämlich, dass jeder Mitgliedstaat für die in Art. 5 der Verordnung Nr. 1408/71 und in Art. 9 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 genannten Erklärungen eine sorgfältige Prüfung seiner eigenen Regelungen der sozialen Sicherheit vorzunehmen und diese nach Abschluss der Prüfung gegebenenfalls als in den Geltungsbereich dieser Verordnungen fallend zu erklären hat (vgl. entsprechend Urteile FTS, C‑202/97, EU:C:2000:75, Rn. 51, und Herbosch Kiere, C‑2/05, EU:C:2006:69, Rn. 22). Aus diesem Grundsatz ergibt sich ferner, dass die anderen Mitgliedstaaten berechtigterweise erwarten dürfen, dass der betroffene Mitgliedstaat diesen Pflichten nachgekommen ist.

38

Somit begründen diese Erklärungen eine Vermutung, dass die nach Art. 5 der Verordnung Nr. 1408/71 oder nach Art. 9 der Verordnung Nr. 883/2004 erklärten nationalen Gesetze in den sachlichen Geltungsbereich dieser Verordnungen fallen, und binden grundsätzlich die anderen Mitgliedstaaten. Umgekehrt können die anderen Mitgliedstaaten, wenn ein Mitgliedstaat ein nationales Gesetz nicht gemäß diesen Verordnungen erklärt hat, daraus grundsätzlich folgern, dass dieses Gesetz nicht in deren sachlichen Geltungsbereich fällt.

39

Zudem müssen, solange die von einem Mitgliedstaat abgegebenen Erklärungen nicht geändert oder zurückgezogen werden, die anderen Mitgliedstaaten sie beachten. Es obliegt dem Mitgliedstaat, der die Erklärung abgegeben hat, sie zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern, wenn ein anderer Mitgliedstaat Zweifel an der Richtigkeit dieser Erklärungen äußert (vgl. in diesem Sinne Urteil Banks u. a., C‑178/97, EU:C:2000:169, Rn. 43).

40

Dieses Ergebnis bedeutet jedoch nicht, dass einem Mitgliedstaat jede Möglichkeit einer Reaktion versagt wäre, wenn er Kenntnis von Informationen hat, die Zweifel an der Richtigkeit der von einem anderen Mitgliedstaat abgegebenen Erklärungen wecken.

41

Wenn die Erklärung Fragen aufwirft und die Mitgliedstaaten sich insbesondere nicht über die Einordnung der Rechtsvorschriften oder Systeme im Rahmen des Geltungsbereichs der Verordnungen Nrn. 1408/71 und 883/2004 verständigen können, steht es ihnen zunächst offen, sich an die in den Art. 80 und 81 der Verordnung Nr. 1408/71 sowie in den Art. 71 und 72 der Verordnung Nr. 883/2004 genannte Verwaltungskommission zu wenden. Wenn es dieser nicht gelingt, zwischen den Standpunkten der Mitgliedstaaten zum im vorliegenden Fall anwendbaren Recht zu vermitteln, obliegt es sodann gegebenenfalls dem Mitgliedstaat, der die Richtigkeit einer Erklärung eines anderen Mitgliedstaats bezweifelt, sich an die Kommission zu wenden oder, als letztes Mittel, ein Verfahren auf der Grundlage von Art. 259 AEUV einzuleiten, so dass der Gerichtshof die Frage des anwendbaren Rechts anlässlich einer solchen Klage prüfen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil Banks u. a., C‑178/97, EU:C:2000:169, Rn. 44).

42

Im Hinblick auf die von der Kommission vorgetragenen Argumente ist zu ergänzen, dass die Feststellung, dass ein Mitgliedstaat die von einem anderen Mitgliedstaat abgegebene Erklärung berücksichtigen muss, auch nicht zu der Rechtsprechung des Gerichtshofs in Widerspruch steht (vgl. u. a. Urteile Beerens, 35/77, EU:C:1977:194, Rn. 9, sowie Hliddal und Bornand, C‑216/12 und C‑217/12, EU:C:2013:568, Rn. 46), nach der der Umstand, dass ein Mitgliedstaat ein nationales Gesetz oder eine nationale Regelung in seine Erklärung nach Art. 5 der Verordnung Nr. 1408/71 oder nach Art. 9 der Verordnung Nr. 883/2004 aufgenommen hat, als Beleg dafür anzusehen ist, dass die auf der Grundlage dieses Gesetzes oder dieser Regelung gewährten Leistungen Leistungen der sozialen Sicherheit im Sinne dieser Verordnungen sind, während sich aus dem Umstand, dass ein Gesetz oder eine Regelung nicht Gegenstand einer solchen Erklärung war, als solches nicht ergibt, dass dieses Gesetz oder diese Regelung nicht in den Geltungsbereich dieser Verordnungen fällt.

43

Auch wenn die Mitgliedstaaten nicht allgemein prüfen müssen, ob das Recht der anderen Mitgliedstaaten in den sachlichen Geltungsbereich der Verordnungen Nrn. 1408/71 und 883/2004 fällt, kann ein nationales Gericht, das mit einem Rechtsstreit über ein solches Gesetz oder eine solche Regelung befasst ist, nämlich jederzeit dazu aufgerufen sein, sich mit der Einordnung des in der bei ihm anhängigen Rechtssache in Rede stehenden Systems zu beschäftigen und gegebenenfalls dem Gerichtshof eine darauf bezogene Frage vorzulegen.

44

Dagegen ergibt sich aus keinem der beiden in Rede stehenden Artikel, dass andere Mitgliedstaaten als derjenige, der das betreffende Gesetz oder die betreffende Regelung eingeführt, aber nicht erklärt hat, die Verpflichtung hätten, auf eigene Verantwortung festzustellen, ob das Gesetz oder die Regelung dennoch als in den sachlichen Geltungsbereich der betroffenen Verordnungen fallend anzusehen ist.

45

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Kommission die vorliegende Vertragsverletzungsklage zu Unrecht auf eine allgemeine Verpflichtung zulasten der Mitgliedstaaten gestützt hat, zu prüfen, ob Rechtsvorschriften anderer Mitgliedstaaten ungeachtet dessen, dass sie nicht Gegenstand einer Erklärung nach Art. 5 der Verordnung Nr. 1408/71 oder nach Art. 9 der Verordnung Nr. 883/2004 waren, dennoch in den sachlichen Geltungsbereich dieser Verordnungen fallen.

46

Somit ist die Klage insgesamt abzuweisen.

Kosten

47

Gemäß Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Republik Malta die Kosten aufzuerlegen. Nach Art. 140 der Verfahrensordnung tragen die Republik Österreich und das Vereinigte Königreich ihre eigenen Kosten.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

 

1.

Die Klage wird abgewiesen.

 

2.

Die Europäische Kommission trägt die Kosten.

 

3.

Die Republik Österreich sowie das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland tragen ihre eigenen Kosten.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.

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