Schlussantrag des Generalanwalts vom Europäischer Gerichtshof - C-226/15 P

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MICHAL BOBEK

vom 13. April 2016 ( 1 )

Rechtssache C‑226/15 P

Apple and Pear Australia Ltd

Star Fruits Diffusion

gegen

EUIPO

„Rechtsmittel — Gemeinschaftsmarke — Widerspruch gegen die Eintragung — Entscheidung der Beschwerdekammer des EUIPO — Bei einem Gemeinschaftsmarkengericht erhobene Klage, die auf die Verletzung einer älteren Gemeinschaftsmarke gestützt wird — Verhältnis zwischen Streitverfahren — Rechtskraft — Loyale Zusammenarbeit“

I – Einführung

1.

Apple and Pear Australia Limited (APAL) und Star Fruits Diffusion (im Folgenden: Rechtsmittelführerinnen) sind gemeinsame Inhaberinnen dreier Gemeinschaftsmarken für Pink-Lady-Äpfel. Die Rechtsmittelführerinnen leiteten zwei getrennte Verfahren ein, um der Carolus C. BVBA (im Folgenden: Carolus) die Benutzung des Wortzeichens „English pink“ zu untersagen. Erstens erhoben sie Widerspruch gegen die Eintragung des von Carolus beim Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO), vormals Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) (HABM), als Gemeinschaftsmarke angemeldeten Wortzeichens „English pink“. Zweitens erhoben sie bei einem Gemeinschaftsmarkengericht Klage gegen Carolus wegen Verletzung der Gemeinschaftswortmarke „Pink Lady“. Die beiden Verfahren führten zu zwei voneinander abweichenden Entscheidungen hinsichtlich der Verwechslungsgefahr zwischen der älteren Gemeinschaftswortmarke „Pink Lady“ und dem Wortzeichen „English pink“.

2.

Im vorliegenden Rechtsmittelverfahren stellt sich u. a. eine wichtige Grundsatzfrage: Inwieweit ist das EUIPO bei der Entscheidung über einen Widerspruch gegen die Eintragung einer Gemeinschaftsmarke an ein rechtskräftiges Urteil eines Gemeinschaftsmarkengerichts gebunden, das in einem Klageverfahren wegen Verletzung einer älteren eingetragenen Gemeinschaftsmarke ergangen ist?

II – Rechtlicher Rahmen

3.

Gemäß Art. 4 Abs. 3 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) „achten und unterstützen sich die Union und die Mitgliedstaaten gegenseitig [nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit] bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben“.

4.

In den Erwägungsgründen 16 und 17 der Gemeinschaftsmarkenverordnung ( 2 ) heißt es:

„(16)

Die Entscheidungen über die Gültigkeit und die Verletzung der Gemeinschaftsmarke müssen sich wirksam auf das gesamte Gebiet der Gemeinschaft erstrecken, da nur so widersprüchliche Entscheidungen der Gerichte und des Markenamtes und eine Beeinträchtigung des einheitlichen Charakters der Gemeinschaftsmarke vermieden werden können. Die Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen sollten für alle gerichtlichen Klagen im Zusammenhang mit den Gemeinschaftsmarken gelten, es sei denn, dass die vorliegende Verordnung davon abweicht.

(17)

Es soll vermieden werden, dass sich in Rechtsstreitigkeiten über denselben Tatbestand zwischen denselben Parteien voneinander abweichende Gerichtsurteile aus einer Gemeinschaftsmarke und aus parallelen nationalen Marken ergeben. Zu diesem Zweck soll, sofern Klagen in demselben Mitgliedstaat erhoben werden, sich nach nationalem Verfahrensrecht – das durch diese Verordnung nicht berührt wird – bestimmen, wie dies erreicht wird; hingegen erscheinen, sofern Klagen in verschiedenen Mitgliedstaaten erhoben werden, Bestimmungen angebracht, die sich an den Vorschriften über Rechtshängigkeit und damit im Zusammenhang stehenden Verfahren der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 orientieren.“

5.

Nach Art. 56 Abs. 3 der Gemeinschaftsmarkenverordnung „[ist d]er Antrag auf Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit … unzulässig, wenn das Gericht eines Mitgliedstaats über einen Antrag wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien bereits rechtskräftig entschieden hat“.

6.

Art. 94 Abs. 1 der Gemeinschaftsmarkenverordnung lautet: „Soweit in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, ist die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 auf Verfahren betreffend Gemeinschaftsmarken und Anmeldungen von Gemeinschaftsmarken sowie auf Verfahren, die gleichzeitige oder aufeinanderfolgende Klagen aus Gemeinschaftsmarken und aus nationalen Marken betreffen, anzuwenden.“

7.

Art. 96 der Gemeinschaftsmarkenverordnung bestimmt:

„Die Gemeinschaftsmarkengerichte sind ausschließlich zuständig

a)

für alle Klagen wegen Verletzung und – falls das nationale Recht dies zulässt – wegen drohender Verletzung einer Gemeinschaftsmarke;

d)

für die in Artikel 100 genannten Widerklagen auf Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit der Gemeinschaftsmarke.“

8.

Art. 100 der Gemeinschaftsmarkenverordnung sieht vor:

„…

(2)   Ein Gemeinschaftsmarkengericht weist eine Widerklage auf Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit ab, wenn das Amt über einen Antrag wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien bereits eine unanfechtbar gewordene Entscheidung erlassen hat.

(7)   Das mit einer Widerklage auf Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit befasste Gemeinschaftsmarkengericht kann auf Antrag des Inhabers der Gemeinschaftsmarke nach Anhörung der anderen Parteien das Verfahren aussetzen und den Beklagten auffordern, innerhalb einer zu bestimmenden Frist beim Amt die Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit zu beantragen. Wird der Antrag nicht innerhalb der Frist gestellt, wird das Verfahren fortgesetzt; die Widerklage gilt als zurückgenommen. Die Vorschriften des Artikels 104 Absatz 3 sind anzuwenden.“

9.

Art. 104 der Gemeinschaftsmarkenverordnung lautet:

„(1)   Ist vor einem Gemeinschaftsmarkengericht eine Klage im Sinne des Artikels 96 – mit Ausnahme einer Klage auf Feststellung der Nichtverletzung – erhoben worden, so setzt es das Verfahren, soweit keine besonderen Gründe für dessen Fortsetzung bestehen, von Amts wegen nach Anhörung der Parteien oder auf Antrag einer Partei nach Anhörung der anderen Parteien aus, wenn die Rechtsgültigkeit der Gemeinschaftsmarke bereits vor einem anderen Gemeinschaftsmarkengericht im Wege der Widerklage angefochten worden ist oder wenn beim Amt bereits ein Antrag auf Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit gestellt worden ist.

(2)   Ist beim Amt ein Antrag auf Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit gestellt worden, so setzt es das Verfahren, soweit keine besonderen Gründe für dessen Fortsetzung bestehen, von Amts wegen nach Anhörung der Parteien oder auf Antrag einer Partei nach Anhörung der anderen Parteien aus, wenn die Rechtsgültigkeit der Gemeinschaftsmarke im Wege der Widerklage bereits vor einem Gemeinschaftsmarkengericht angefochten worden ist. Das Gemeinschaftsmarkengericht kann jedoch auf Antrag einer Partei des bei ihm anhängigen Verfahrens nach Anhörung der anderen Parteien das Verfahren aussetzen. In diesem Fall setzt das Amt das bei ihm anhängige Verfahren fort.“

10.

Art. 109 der Gemeinschaftsmarkenverordnung sieht vor:

„(1)   Werden Verletzungsklagen zwischen denselben Parteien wegen derselben Handlungen bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten anhängig gemacht, von denen das eine Gericht wegen Verletzung einer Gemeinschaftsmarke und das andere Gericht wegen Verletzung einer nationalen Marke angerufen wird,

a)

so hat sich das später angerufene Gericht von Amts wegen zugunsten des zuerst angerufenen Gerichts für unzuständig zu erklären, wenn die betreffenden Marken identisch sind und für identische Waren oder Dienstleistungen gelten. Das Gericht, das sich für unzuständig zu erklären hätte, kann das Verfahren aussetzen, wenn der Mangel der Zuständigkeit des anderen Gerichts geltend gemacht wird;

b)

so kann das später angerufene Gericht das Verfahren aussetzen, wenn die betreffenden Marken identisch sind und für ähnliche Waren oder Dienstleistungen gelten oder wenn sie ähnlich sind und für identische oder ähnliche Waren oder Dienstleistungen gelten.

(2)   Das wegen Verletzung einer Gemeinschaftsmarke angerufene Gericht weist die Klage ab, falls wegen derselben Handlungen zwischen denselben Parteien ein rechtskräftiges Urteil in der Sache aufgrund einer identischen nationalen Marke für identische Waren oder Dienstleistungen ergangen ist.

(3)   Das wegen Verletzung einer nationalen Marke angerufene Gericht weist die Klage ab, falls wegen derselben Handlungen zwischen denselben Parteien ein rechtskräftiges Urteil in der Sache aufgrund einer identischen Gemeinschaftsmarke für identische Waren oder Dienstleistungen ergangen ist.“

III – Sachverhalt und Verfahren

11.

Die Rechtsmittelführerinnen sind gemeinsame Inhaberinnen dreier Gemeinschaftsmarken für Pink-Lady-Äpfel. Bei der einen Marke handelt es sich um ein Wortzeichen, die beiden anderen sind Bildzeichen. Carolus ist ein belgisches Unternehmen, das die Eintragung des Wortzeichens „English pink“ als Gemeinschaftsmarke für seine eigene Apfelsorte begehrt. Seit 2009 war „English pink“ eine Benelux-Marke, deren Inhaberin Carolus war.

12.

Am 13. Oktober 2009 meldete Carolus das Wortzeichen „English pink“ als Gemeinschaftsmarke beim EUIPO an. Aufgrund dieser Anmeldung leiteten die Rechtsmittelführerinnen zum Schutz ihrer bestehenden Gemeinschaftsmarken zwei getrennte Verfahren gegen Carolus ein.

13.

Erstens erhoben die Rechtsmittelführerinnen am 20. April 2010 gestützt auf Art. 8 Abs. 1 Buchst. b und Abs. 5 der Gemeinschaftsmarkenverordnung beim EUIPO Widerspruch gegen die Eintragung von „English pink“.

14.

Zweitens erhoben sie am 8. Juni 2010 Verletzungsklage gegen Carolus beim Tribunal de commerce de Bruxelles (Handelsgericht Brüssel, Belgien), das in seiner Eigenschaft als Gemeinschaftsmarkengericht angerufen wurde. Die Rechtsmittelführerinnen machten geltend, die Benutzung des Wortzeichens „English pink“ sei rechtswidrig, da Verwechslungsgefahr mit der älteren Gemeinschaftswortmarke „Pink Lady“ bestehe. Sie beantragten deshalb, die Carolus zustehende Benelux-Marke „English pink“ für nichtig zu erklären.

15.

Diese beiden Verfahren führten letztlich zu zwei voneinander abweichenden Entscheidungen des EUIPO und des Tribunal de commerce de Bruxelles (Handelsgericht Brüssel) hinsichtlich der Verwechslungsgefahr der Gemeinschaftswortmarke „Pink Lady“ mit dem Wortzeichen „English pink“.

16.

Zum einen wies die Widerspruchsabteilung des EUIPO den Widerspruch der Rechtsmittelführerinnen am 27. Mai 2011 zurück. Sie stellte fest, dass keine Verwechslungsgefahr zwischen dem Wortzeichen „English pink“ und der Gemeinschaftswortmarke „Pink Lady“ bestehe.

17.

Zum anderen entschied das Tribunal de commerce de Bruxelles (Handelsgericht Brüssel) am 28. Juni 2012, dass die Benutzung des Wortzeichens „Englisch pink“ eine Verwechslungsgefahr mit der älteren Gemeinschaftswortmarke „Pink Lady“ erzeuge. Deshalb erklärte es die Benelux-Marke „English pink“ für nichtig, gab Carolus auf, die Benutzung des Zeichens „English pink“ in der Union unverzüglich einzustellen, und sprach den Rechtsmittelführerinnen gegen Carolus Schadensersatz in Höhe eines einmaligen Betrags von 5000 Euro zu.

18.

Im Laufe des Sommers 2012 übermittelten die Rechtsmittelführerinnen dem EUIPO mehrere Schreiben, mit denen sie das Amt über das Urteil des Tribunal de commerce de Bruxelles (Handelsgericht Brüssel) in Kenntnis setzten.

19.

Am 29. Mai 2013 wies die Vierte Beschwerdekammer des EUIPO auf ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung der Widerspruchsabteilung das Vorbringen der Rechtsmittelführerinnen zurück, ohne auf das Urteil des Tribunal de commerce de Bruxelles (Handelsgericht Brüssel) einzugehen.

20.

Die Rechtsmittelführerinnen erhoben sodann beim Gericht Klage auf Aufhebung der Entscheidung der Beschwerdekammer des EUIPO. Sie beantragten in erster Linie, die streitige Entscheidung dahin abzuändern, dass ihrem Widerspruch gegen die Eintragung von „English pink“ als Gemeinschaftsmarke stattgegeben wird. Hilfsweise beantragten sie, die Entscheidung der Beschwerdekammer des EUIPO aufzuheben.

IV – Angefochtenes Urteil des Gerichts und Verfahren vor dem Gerichtshof

21.

Mit Urteil vom 25. März 2015 ( 3 ) hob das Gericht die Entscheidung der Vierten Beschwerdekammer des EUIPO auf. Im Übrigen wies es die Klage ab.

22.

Das Gericht führte insbesondere aus, dass das Urteil des Tribunal de commerce de Bruxelles (Handelsgericht Brüssel) keine Rechtskraft im Hinblick auf anschließende Entscheidungen der Beschwerdekammer des EUIPO entfalte. Die geltend gemachten Ansprüche im Verfahren vor dem EUIPO und im Verfahren vor dem Tribunal de commerce de Bruxelles (Handelsgericht Brüssel) seien nicht identisch. Daher sei die Beschwerdekammer nicht an das Urteil des Tribunal de commerce de Bruxelles (Handelsgericht Brüssel) gebunden.

23.

Gleichwohl hob das Gericht die Entscheidung der Beschwerdekammer auf, da diese es versäumt habe, das Urteil des Tribunal de commerce de Bruxelles (Handelsgericht Brüssel) zu berücksichtigen und die etwaigen Auswirkungen dieses Urteils auf das Widerspruchsverfahren zu prüfen. Gleichzeitig lehnte das Gericht es ab, die Entscheidung des EUIPO abzuändern. Es sei nicht in der Lage, auf der Grundlage der erwiesenen tatsächlichen und rechtlichen Umstände die Entscheidung zu bestimmen, die die Beschwerdekammer hätte erlassen müssen. Es könne daher nicht seine Beurteilung an die Stelle der Beschwerdekammer des EUIPO setzen.

24.

Im vorliegenden Rechtsmittelverfahren fechten die Rechtsmittelführerinnen das Urteil des Gerichts im Wesentlichen aus drei Gründen an.

25.

Der erste Rechtsmittelgrund umfasst sieben Rügen. Er lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Dem Gericht sei ein Rechtsfehler durch die Feststellung unterlaufen, dass das rechtskräftige Urteil des Tribunal de commerce de Bruxelles (Handelsgericht Brüssel) als solches nicht bereits die Bestimmung ermöglicht habe, welche Entscheidung die Beschwerdekammer hätte erlassen müssen. Nach Auffassung der Rechtsmittelführerinnen ist das Urteil des Gemeinschaftsmarkengerichts, auch wenn die Gemeinschaftsmarkenverordnung keine entsprechende ausdrückliche Bestimmung enthalte, für das EUIPO bindend, da es sich um eine gerichtliche Entscheidung handele. Des Weiteren machen sie geltend, dass die beiden Streitverfahren, nämlich das Widerspruchsverfahren beim EUIPO und die Verletzungsklage beim Tribunal de commerce de Bruxelles (Handelsgericht Brüssel), identisch seien, da es um denselben Anspruch zwischen denselben Parteien gehe. Die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des EUIPO hätte nicht nur anhand der Gemeinschaftsmarkenverordnung, sondern in erster Linie anhand der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts wie dem Grundsatz der Rechtskraft beurteilt werden müssen.

26.

Mit dem zweiten Rechtsmittelgrund rügen die Rechtsmittelführerinnen, dass das Ergebnis, das EUIPO werde durch das rechtskräftige Urteil eines Gemeinschaftsmarkengerichts nicht gebunden, gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes verstoße und eine Verletzung der allgemeinen Grundsätze der Rechtssicherheit und der guten Verwaltung darstelle.

27.

Mit ihrem dritten Rechtsmittelgrund machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, das Gericht habe durch seine Ablehnung der Änderung der Entscheidung der Beschwerdekammer gegen Art. 65 Abs. 3 der Gemeinschaftsmarkenverordnung verstoßen.

V – Würdigung

28.

Der erste und der zweite Rechtsmittelgrund werden zwar jeweils eigenständig geltend gemacht, stehen jedoch in einem engen Zusammenhang. Mit beiden wird – aus unterschiedlichem Blickwinkel – die Feststellung des Gerichts gerügt, dass das Urteil des Tribunal de commerce de Bruxelles (Handelsgericht Brüssel) keine Rechtskraft entfalte und deshalb die Beschwerdekammer des EUIPO nicht binde. Ich werde daher den ersten und den zweiten Rechtsmittelgrund zusammen prüfen (Abschnitt A) und mich dann dem dritten Rechtsmittelgrund zuwenden (Abschnitt B).

A – Erster und zweiter Rechtsmittelgrund

29.

Die Rechtskraft gehört zu den notwendigen Regelungsprinzipien jeder stimmigen Rechtsordnung. Ein Gericht (und in einigen Fällen auch eine Verwaltungsbehörde), das in einer Rechtssache angerufen wird, in der bereits eine rechtskräftige Entscheidung ergangen ist, muss sich für unzuständig erklären. Ein solches Verfahrenshindernis kann sich jedoch nur bei Identität der ersten und der zweiten Rechtssache ergeben. Im vorliegenden Fall kann der Grundsatz der Rechtskraft nur dann zum Tragen kommen, wenn zwischen der Verletzungsklage vor dem Tribunal de commerce de Bruxelles (Handelsgericht Brüssel) und dem beim EUIPO erhobenen Widerspruch Verfahrensidentität bestand.

30.

Im vorliegenden Rechtsmittelverfahren kommt es daher entscheidend auf die Definition des Begriffs „Verfahrensidentität“ gemäß der Gemeinschaftsmarkenverordnung an.

1. Verfahrensidentität und Rechtskraft

31.

Durch die Gemeinschaftsmarkenverordnung sollen widersprüchliche Entscheidungen der Gemeinschaftsmarkengerichte, der nationalen Behörden oder des EUIPO sowie eine Beeinträchtigung des einheitlichen Charakters der Gemeinschaftsmarke vermieden werden ( 4 ). Diesem Ziel dienen eine Reihe spezifischer Verfahrensvorschriften in der Verordnung, die die Vermeidung potenziell miteinander unvereinbarer Entscheidungen bezwecken.

32.

Der Grundsatz der Rechtskraft kommt in Art. 56 Abs. 3 und Art. 100 Abs. 2 der Gemeinschaftsmarkenverordnung zum Ausdruck. In diesen Bestimmungen sind die Kriterien für Verfahrensidentität sowie die Konsequenzen aufgeführt, die sich bei Vorliegen von Verfahrensidentität ergeben.

33.

Nach Art. 56 Abs. 3 der Gemeinschaftsmarkenverordnung ist der Antrag beim EUIPO auf Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit unzulässig, wenn das Gericht eines Mitgliedstaats über einen Antrag wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien bereits rechtskräftig entschieden hat.

34.

Ebenso bezweckt auch Art. 100 der Gemeinschaftsmarkenverordnung die Vermeidung von Situationen, in denen sowohl das EUIPO als auch ein Gemeinschaftsmarkengericht zur Beurteilung der Gültigkeit derselben Gemeinschaftsmarke angerufen werden. Insbesondere hat gemäß Art. 100 Abs. 2 ein Gemeinschaftsmarkengericht eine Widerklage auf Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit abzuweisen, wenn das Amt über einen Antrag wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien bereits eine unanfechtbar gewordene Entscheidung erlassen hat.

35.

Es liegt auf der Hand, dass im vorliegenden Fall keine dieser beiden Bestimmungen anwendbar ist. Die Vorschriften enthalten jedoch eine Arbeitsgrundlage zur Bestimmung dessen, was unter Verfahrensidentität im Sinne der Gemeinschaftsmarkenverordnung zu verstehen ist. Eine Identität, die zur Rechtskraftentfaltung führt, beinhaltet nach der englischen Sprachfassung der Gemeinschaftsmarkenverordnung drei Merkmale: derselbe „subject matter“, derselbe „cause of action“ und dieselben Parteien; in der deutschen Sprachfassung sind das erste und das zweite Merkmal zu einem, nämlich „wegen desselben Anspruchs“, zusammengefasst ( 5 ).

36.

Dieses Verständnis von Verfahrensidentität gilt nicht nur für die Gemeinschaftsmarkenverordnung. Dieselbe Bedeutung hat der Begriff auch in anderen Bereichen des Unionsrechts, wie etwa in der Verordnung über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster ( 6 ) und vor allem in der Verordnung Nr. 44/2001 ( 7 ).

37.

Was die Konsequenzen betrifft, die sich bei Vorliegen von Verfahrensidentität im Rahmen der Gemeinschaftsmarkenverordnung ergeben, so erwächst die Rechtskraft aus der ersten rechtskräftigen Entscheidung, die entweder in Form eines von einem Gericht erlassenen Urteils oder in Form einer vom EUIPO erlassenen Verwaltungsentscheidung ergeht. Dementsprechend sind spätere Anträge zwischen denselben Parteien wegen desselben Anspruchs unzulässig oder zurückzuweisen.

38.

Es sei hinzugefügt, dass die Gemeinschaftsmarkenverordnung nicht nur den Fall regelt, dass alle Merkmale der Identität (derselbe Anspruch zwischen denselben Parteien) vorliegen und somit der Grundsatz der Rechtskraft eingreift. In der Verordnung finden sich auch einige andere Bestimmungen, die widersprüchliche Entscheidungen innerhalb des Gemeinschaftsmarkensystems verhindern sollen, auch wenn streng genommen nicht alle Merkmale der Identität vorhanden sind.

39.

Zum einen haben die Gemeinschaftsmarkengerichte und das EUIPO nach Art. 104 der Gemeinschaftsmarkenverordnung („Besondere Vorschriften über im Zusammenhang stehende Verfahren“) das Verfahren, soweit keine besonderen Gründe für dessen Fortsetzung bestehen, auszusetzen, wenn die Rechtsgültigkeit der Gemeinschaftsmarke bereits vor einem anderen Gemeinschaftsmarkengericht im Wege der Widerklage angefochten worden ist oder wenn beim EUIPO bereits ein Antrag auf Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit gestellt worden ist.

40.

Sowohl aus der Überschrift als auch dem Inhalt von Art. 104 der Gemeinschaftsmarkenverordnung ergibt sich, dass diese Bestimmung Fälle regelt, in denen keine Verfahrensidentität im oben beschriebenen Sinne besteht. Die Vorschrift betrifft ausdrücklich „im Zusammenhang stehende Verfahren“ und nicht identische Verfahren. Diese Formulierung legt nahe, dass sich die in Rede stehenden Verfahren voneinander unterscheiden, obwohl es in beiden um die Rechtsgültigkeit der Gemeinschaftsmarke geht.

41.

Zum anderen regelt Art. 109 der Verordnung im Zusammenhang stehende Verfahren in Form gleichzeitiger und aufeinanderfolgender Klagen aus Gemeinschaftsmarken und aus nationalen Marken. Nach der Bestimmung hat sich in Fällen, in denen Verletzungsklagen zwischen denselben Parteien wegen derselben Handlungen bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten anhängig gemacht werden, von denen das eine Gericht wegen Verletzung einer Gemeinschaftsmarke und das andere Gericht wegen Verletzung einer nationalen Marke angerufen wird, das später angerufene Gericht für unzuständig zu erklären oder es kann das Verfahren aussetzen. Außerdem weist das wegen Verletzung der nationalen Marke oder der Gemeinschaftsmarke angerufene Gericht die Klage ab, falls wegen derselben Handlungen zwischen denselben Parteien ein rechtskräftiges Urteil in der Sache ergangen ist.

42.

Somit ist es einer beschwerten Partei nach Art. 109 verwehrt, in derselben Sache ein zweites Mal rechtlich gegen denselben Gegner vorzugehen, selbst wenn es sich nicht um denselben Streitgegenstand handelt, da die zweite Klage formell auf die Gemeinschaftsmarke und nicht die nationale Marke bzw. umgekehrt auf die nationale Marke und nicht auf die Gemeinschaftsmarke gestützt wird.

43.

Diese beiden Bestimmungen legen nahe, dass die Gemeinschaftsmarkenverordnung über die Fälle hinaus, in denen (vollständige) Verfahrensidentität wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien besteht, auch Sachverhalte regelt, in denen erhebliche inhaltliche Überschneidungen zwischen parallelen oder aufeinanderfolgenden Rechtsstreitigkeiten über Gemeinschaftsmarken vorliegen. Die Verordnung geht also von einer rechtlichen Wechselwirkung zwischen Gemeinschaftsmarken einerseits und nationalen Marken andererseits aus.

44.

Diese Grundsätze gelten ebenfalls nicht nur speziell im Rahmen der Gemeinschaftsmarkenverordnung, sondern auch in anderen Bereichen des Unionsrechts. Regelungen für das Aussetzen von Verfahren finden sich in der Verordnung Nr. 44/2001, auf die in den Erwägungsgründen 16 und 17 in Verbindung mit Art. 94 der Gemeinschaftsmarkenverordnung ausdrücklich verwiesen wird. Die Verordnung Nr. 44/2001 dürfte somit wohl die engste mögliche Entsprechung zur Gemeinschaftsmarkenverordnung bezüglich der Rechtskraft und bezüglich im Zusammenhang stehender Verfahren darstellen.

45.

Art. 27 der Verordnung Nr. 44/2001 bestimmt:

„(1)   Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, so setzt das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht.

(2)   Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, erklärt sich das später angerufene Gericht zugunsten dieses Gerichts für unzuständig.“

46.

In Art. 28 der Verordnung Nr. 44/2001 heißt es:

„(1)   Sind bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Klagen, die im Zusammenhang stehen, anhängig, so kann jedes später angerufene Gericht das Verfahren aussetzen

(3)   Klagen stehen im Sinne dieses Artikels im Zusammenhang, wenn zwischen ihnen eine so enge Beziehung gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten“ ( 8 ).

47.

Gemäß den Art. 27 und 28 der Verordnung Nr. 44/2001 besteht eine deutliche Zuständigkeitsverteilung zwischen den Gerichten. Erstens hat sich bei Verfahrensidentität das später angerufene Gericht zugunsten des zuerst angerufenen Gerichts für unzuständig zu erklären. Zweitens können bei anderen Arten von Verfahren, die nicht identisch sind, aber in einem engen Zusammenhang stehen, die Gerichte nach ihrem Ermessen entscheiden, ob sie das Verfahren aussetzen, während das Verfahren beim zuerst angerufenen Gericht fortgesetzt wird.

48.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass nach der Gemeinschaftsmarkenverordnung zwei Situationen je nach dem Grad des zwischen den Verfahren bestehenden Zusammenhangs voneinander unterschieden werden können. Erstens gibt es die in Art. 56 Abs. 3 und Art. 100 der Gemeinschaftsmarkenverordnung (und entsprechend auch in Art. 27 der Verordnung Nr. 44/2001) angesprochenen Sachverhalte. Sie betreffen Fälle, in denen Verfahrensidentität besteht, d. h. wenn alle Identitätsmerkmale – derselbe Anspruch zwischen denselben Parteien – vorliegen. Sind diese Merkmale gleichzeitig gegeben, tritt Rechtskraft ein. Dies hat dann zur Folge, dass alle später angerufenen Gerichte bzw. Verwaltungsspruchkörper wie das EUIPO sich für unzuständig erklären oder die bei ihnen anhängigen Verfahren aussetzen müssen.

49.

Zweitens gibt es auch bei unvollständiger Verfahrensidentität eine weitläufigere Kategorie im Zusammenhang oder in Beziehung stehender Verfahren wie die in Art. 104, Art. 109 Abs. 1 Buchst. b und Art. 109 Abs. 2 und 3 der Gemeinschaftsmarkenverordnung (und wiederum entsprechend in Art. 28 der Verordnung Nr. 44/2001) angesprochenen. In Fällen, die unter diese weitläufigere Kategorie fallen, kann der zur Entscheidung berufene Spruchkörper nach seinem Ermessen das Verfahren aussetzen und die Entscheidung des zuerst angerufenen Spruchkörpers abwarten.

2. Verfahrensidentität im vorliegenden Fall

50.

Unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen komme ich nunmehr zur Prüfung der vorliegenden Rechtssache.

51.

Der vorliegende Fall betrifft eine besondere Verfahrenssituation, die von den Bestimmungen der Gemeinschaftsmarkenverordnung nicht erfasst wird – es geht um das Wechselspiel zwischen einer Klage bei einem Gemeinschaftsmarkengericht wegen Verletzung einer älteren Gemeinschaftsmarke und einer nationalen Marke einerseits und einem Widerspruchsverfahren beim EUIPO andererseits, das auf dieselbe ältere Gemeinschaftsmarke und dasselbe Zeichen wie die nationale Marke gestützt wird, dessen Eintragung auf Gemeinschaftsebene begehrt wird.

52.

Trotz des Fehlens besonderer Bestimmungen in der Gemeinschaftsmarkenverordnung, die diesen Sachverhalt erfassen, setzt die Rechtskraftentfaltung die Feststellung voraus, dass Verfahrensidentität zwischen einer Verletzungsklage und einem Widerspruchsverfahren besteht.

53.

Eine solche Verfahrensidentität ist hier jedoch nicht gegeben. Meines Erachtens ist das Gericht zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass diese beiden Verfahrensarten nicht identisch seien und das EUIPO deshalb nicht an das Urteil des Tribunal de commerce de Bruxelles (Handelsgericht Brüssel) gebunden gewesen sei.

54.

In Rn. 65 des angefochtenen Urteils führt das Gericht aus, dass „die Streitgegenstände – d. h. die Anträge – der vor dem Tribunal de commerce de Bruxelles [(Handelsgericht Brüssel)] und dem [EUIPO] jeweils geprüften Rechtssachen … jedoch unterschiedlich [sind]. Gegenstand der Verletzungsklage vor dem belgischen Gericht waren nämlich die Nichtigerklärung der Benelux-Marke ENGLISH PINK und das Verbot, diese Marke im Gebiet der Union zu benutzen, während das Verfahren vor dem [EUIPO] den Widerspruch gegen die Eintragung der Gemeinschaftsmarke English pink zum Gegenstand hatte“.

55.

Des Weiteren stellt das Gericht in Rn. 66 fest, dass „[d]ie Ansprüche – d. h. die Anspruchsgrundlagen –, die in diesen beiden Rechtssachen geltend gemacht werden, … ebenfalls unterschiedlich [sind]. Im Rahmen des Verfahrens vor dem Tribunal de commerce de Bruxelles wurde der Antrag der Klägerinnen auf Erlass einer Anordnung zur Verhinderung der Verletzung der … Gemeinschaftsmarken auf Art. 9 Abs. 1 Buchst. b und Buchst. c der Verordnung Nr. 207/2009 gestützt. Ebenso wurden für den Antrag auf Nichtigerklärung der Benelux-Marke ENGLISH PINK die Art. 2.3 und Art. 2.28 Abs. 3 Buchst. b des … Benelux-Übereinkommens über geistiges Eigentum … als Anspruchsgrundlage herangezogen. Das Tribunal de commerce de Bruxelles [(Handelsgericht Brüssel)] ging von einer Verletzung der vorgenannten Gemeinschaftsmarken aus, erklärte die Benelux-Marke ENGLISH PINK daher für nichtig und untersagte die Benutzung dieses Zeichens im Gebiet der Union. Dagegen haben die Klägerinnen im Rahmen des Verfahrens vor dem [EUIPO] der Eintragung einer neuen Gemeinschaftsmarke widersprochen und sich hierzu auf andere Bestimmungen der Verordnung Nr. 207/2009, nämlich Art. 8 Abs. 1 Buchst. b und Abs. 5 dieser Verordnung, gestützt.“

56.

Das Gericht weist also zu Recht darauf hin, dass weder die Streitgegenstände noch die Ansprüche identisch seien.

57.

Was erstens den Streitgegenstand ( 9 ) anlangt, verfolgen Verletzungsklagen und Widerspruchsverfahren in gewisser Weise unterschiedliche Zielsetzungen. Auf der einen Seite können Verletzungsklagen vom Inhaber einer älteren Gemeinschaftsmarke gegen den Benutzer eines Zeichens, bei dem Verwechslungsgefahr mit der Gemeinschaftsmarke besteht, beim Gemeinschaftsmarkengericht erhoben werden, um eine solche beeinträchtigende Benutzung in der gesamten Union verbieten zu lassen. Auf der anderen Seite beziehen sich Widerspruchsverfahren beim EUIPO auf die Eintragung eines Zeichens als Gemeinschaftsmarke. Solche Verfahren zielen auf die Verhinderung der Eintragung ab, bei der es sich um einen Verwaltungsakt handelt. Obwohl also beide Verfahrensarten zweifellos einige Gemeinsamkeiten aufweisen, sind sie doch nicht identisch ( 10 ).

58.

Dies wird im vorliegenden Fall auch anhand der gestellten Anträge deutlich: Die Rechtsmittelführerinnen verfolgten mit ihren Anträgen beim Tribunal de commerce de Bruxelles (Handelsgericht Brüssel) ausdrücklich das Ziel der Nichtigerklärung der beiden Benelux-Marken. Mit dem Widerspruchsverfahren bei EUIPO sollte hingegen die Eintragung einer neuen Gemeinschaftsmarke verhindert werden.

59.

Was zweitens den Anspruch im Sinne von Anspruchsgrundlage betrifft, so wenden die Gemeinschaftsmarkengerichte und das EUIPO unterschiedliche Vorschriften an. Im vorliegenden Fall wandte das Gemeinschaftsmarkengericht die Gemeinschaftsmarkenverordnung, aber auch das nationale bzw. das Benelux-Recht zur Nichtigerklärung der Benelux-Marke „English pink“ an, während das EUIPO ausschließlich auf die Gemeinschaftsmarkenverordnung abstellte ( 11 ).

60.

Zudem zogen das EUIPO und das Tribunal de commerce de Bruxelles (Handelsgericht Brüssel) auch nicht dieselben Bestimmungen der Gemeinschaftsmarkenverordnung selbst heran. Das Tribunal de commerce de Bruxelles (Handelsgericht Brüssel) stützte sich maßgeblich auf Art. 98 und Art. 102 der Verordnung, das EUIPO dagegen auf Art. 8 Abs. 1 Buchst. b und Abs. 5, Art. 41 und Art. 42.

61.

Als letzter Punkt ist anzuführen, dass die Beurteilung der Verwechslungsgefahr zwar sowohl für das Widerspruchsverfahren als auch das Verletzungsverfahren kennzeichnend ist, der Gerichtshof jedoch bereits entschieden hat, dass diese Beurteilung je nach Verfahrensart unterschiedlich vonstattengeht. Die Beurteilung muss rückwirkend und konkreter bei Klagen auf Untersagung der Benutzung eines Zeichens ausfallen, bei denen „die Beurteilung … auf die Umstände zu beschränken [ist], die diese Benutzung kennzeichnen, ohne dass zu prüfen wäre, ob eine andere Benutzung desselben Zeichens, die unter anderen Umständen stattfände, ebenfalls geeignet wäre, eine Verwechslungsgefahr zu erzeugen“ ( 12 ). Umgekehrt muss die Beurteilung beim Widerspruchsverfahren vorausschauend und allgemeiner durchgeführt werden. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs „ist es, da die Verfahren je nach Zeitpunkt und Begehren der Inhaber der einander gegenüberstehenden Marken variieren können, unangemessen, die Umstände [insbesondere die tatsächlichen Umstände] bei der vorausschauenden Prüfung der Verwechslungsgefahr zwischen diesen Marken zu berücksichtigen“ ( 13 ).

62.

Somit kann mangels Identität des Anspruchs und des Streitgegenstands der Grundsatz der Rechtskraft im vorliegenden Fall nicht zum Tragen kommen.

63.

Ich bin daher der Meinung, dass das Gericht rechtsfehlerfrei entschieden hat, dass das EUIPO nicht an das Urteil des Tribunal de commerce de Bruxelles (Handelsgericht Brüssel) gebunden war.

3. Jenseits der formalen Identität: loyale Zusammenarbeit innerhalb des Gemeinschaftsmarkensystems

64.

Die Beurteilung der Identität der Verfahren – die allein zum Eingreifen des Grundsatzes der Rechtskraft führen kann – ist naturgemäß formal und von beschränktem Umfang. Dies ist nur logisch; da der Grundsatz auf Klarheit und Vorhersehbarkeit ausgerichtet ist, muss er vorhersehbar und eher eng ausgelegt werden und sich streng auf die Beurteilung konzentrieren, ob alle als Voraussetzung für die Identität erforderlichen Merkmale vorliegen. Wie sich jedoch bereits aus der vorstehenden Würdigung ergibt, beschränkt sich die Pflicht sowohl der nationalen als auch der europäischen Behörden, die im Bereich des Gemeinschaftsmarkensystems tätig werden, nicht nur auf die Vermeidung formal widersprüchlicher Entscheidungen. Aus dem 17. Erwägungsgrund der Verordnung sowie auf primärrechtlicher Ebene aus Art. 4 Abs. 3 EUV geht hervor, dass diese Behörden auch dafür Sorge zu tragen haben, die Herausbildung einer Spruchpraxis zu verhindern, bei der Entscheidungen zwar der Form nach nicht identisch, in der Sache jedoch schwerlich miteinander vereinbar sind.

65.

Im vorliegenden Fall ließe sich in dieser Hinsicht vieles anführen. Auch wenn keine formale Verfahrensidentität besteht, lässt sich doch nicht übersehen, dass sich die Entscheidung der Beschwerdekammer des EUIPO und das Urteil des Tribunal de commerce de Bruxelles (Handelsgericht Brüssel) in der Sache in erheblichem Umfang inhaltlich überschneiden. Die Klagen, auf die diese Entscheidungen ergangen sind, sind auf alle Fälle als zusammenhängende Klagen einzustufen, was beiden Spruchkörpern offenbar auch bewusst war.

66.

Erstens wurde, wie das Gericht in Rn. 30 bis 34 seines Urteils hervorhebt, die Beschwerdekammer des EUIPO über die zuvor ergangene Entscheidung des Tribunal de commerce de Bruxelles (Handelsgericht Brüssel) ordnungsgemäß in Kenntnis gesetzt. Unter Verstoß gegen Art. 75 der Gemeinschaftsmarkenverordnung hat die Beschwerdekammer es aber versäumt, das Urteil bei ihrer anschließenden Entscheidung in irgendeiner Form zu berücksichtigen.

67.

Ich kann mich dieser Ansicht nur anschließen. Die Beschwerdekammern des EUIPO haben sämtliche ihnen vorgelegten Beweismittel und alle ihnen vorgetragenen Tatsachen zu berücksichtigen. Sie üben keine eingeschränkte Kontrolle der erstinstanzlichen Entscheidung aus, sondern sie führen aufgrund der funktionalen Kontinuität zwischen der ersten und der zweiten Instanz des EUIPO Rechtsmittelverfahren vielmehr de novo durch ( 14 ). Sie stützen ihre Entscheidungen auf alle tatsächlichen und rechtlichen Umstände, die von den Parteien in der ersten Instanz oder im Rechtsmittelverfahren angeführt werden. Dementsprechend hätte die Vierte Beschwerdekammer in ihrer Begründung das Urteil des Tribunal de commerce de Bruxelles (Handelsgericht Brüssel) berücksichtigen müssen.

68.

Damit wird keinesfalls die Autonomie des EUIPO angetastet. Die Gemeinschaftsmarkenverordnung bleibt der entscheidende Maßstab bei der Eintragung einer Gemeinschaftsmarke. Allerdings stellt die Entscheidung eines Gemeinschaftsmarkengerichts, in der es im Wesentlichen um dieselbe Frage, nämlich die Verwechslungsgefahr zwischen denselben beiden Zeichen, geht, eine relevante Tatsache für die Zwecke der Gemeinschaftsmarkenverordnung dar. Dies ist umso mehr von Bedeutung, als durchaus denkbar ist, dass eben jenes Gemeinschaftsmarkengericht angesichts seiner Zuständigkeit ein zweites Mal mit der Beurteilung der Verwechslungsgefahr zwischen den Wortzeichen „English pink“ und „Pink Lady“ befasst wird, da der Gerichtshof nämlich unlängst entschieden hat, dass der Inhaber einer älteren Gemeinschaftsmarke auch ein Verletzungsverfahren gegen den Inhaber einer jüngeren eingetragenen Gemeinschaftsmarke einleiten könne ( 15 ).

69.

In aller Deutlichkeit sei hinzugefügt, dass die Verpflichtung zur „Berücksichtigung“ nicht gleichbedeutend mit „Bindung“ an den Inhalt und somit nicht gleichbedeutend mit einer Verpflichtung ist, in der Sache zum selben Ergebnis zu gelangen. Die beunruhigende, aber logische Konsequenz dieser Differenzierung lautet, dass das EUIPO in Bezug auf die Eintragung einer Gemeinschaftsmarke in der Sache zu einem anderen Ergebnis hinsichtlich der Verwechslungsgefahr zwischen zwei Zeichen kommen könnte als ein Gemeinschaftsmarkengericht in Bezug auf den Verfall einer älteren nationalen Marke.

70.

Das Beunruhigende an dieser Konsequenz ist, dass sie eindeutig nicht wünschenswert ist. Sie ist allerdings im Rahmen der aktuellen Verfahrenssystematik durchaus möglich. Gleichwohl ist hervorzuheben, dass, wenn keine Verfahrensidentität bei der Entscheidung in der Sache besteht, logischerweise keine Identität in der späteren Phase der Vollstreckung verlangt werden kann. Konkret gesprochen kann das Verbot der Benutzung eines Zeichens als nationale Marke es nicht ausschließen, dass dasselbe Zeichen als Gemeinschaftsmarke eingetragen und benutzt wird.

71.

Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass der vorliegende Rechtsstreit das rechtskräftige Urteil des Tribunal de commerce de Bruxelles (Handelsgericht Brüssel) selbstverständlich unberührt lässt. Allgemein lässt sich allerdings noch hinzufügen, dass ein Gemeinschaftsmarkengericht in der Situation des Tribunal de commerce de Bruxelles (Handelsgericht Brüssel) gut beraten wäre, das bei ihm anhängige Verfahren auszusetzen und eine Sachentscheidung des EUIPO abzuwarten. Mangels einer ausdrücklichen Bestimmung in der Gemeinschaftsmarkenverordnung selbst in dieser Frage könnte ein in seiner Eigenschaft als Gemeinschaftsmarkengericht handelndes nationales Gericht von seinem Ermessen Gebrauch machen und gemäß den nationalen Verfahrensvorschriften entsprechend Art. 100 Abs. 7, Art. 104 und Art. 109 Abs. 1 der Gemeinschaftsmarkenverordnung sicherlich eine Aussetzung des Verfahrens anordnen. Nach den Art. 104 Abs. 3 und Art. 109 Abs. 4 der Verordnung könnte es für die Dauer der Verfahrensaussetzung sogar einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen treffen.

72.

Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass der vorliegende Fall sicherlich kein Paradebeispiel für loyale Zusammenarbeit in der Union im Allgemeinen und innerhalb des Gemeinschaftsmarkensystems im Besonderen ist – es sei denn, an die Stelle des Grundsatzes der gegenseitigen Zusammenarbeit tritt der Grundsatz des gegenseitigen Ignorierens. Allerdings bietet das aktuelle System, wenn man es ernst nimmt, auch ohne eine ausdrückliche Verfahrensvorschrift in der Gemeinschaftsmarkenverordnung selbst und ohne das Vorliegen von Verfahrensidentität, die den Grundsatz der Rechtskraft im Verhältnis zwischen den beiden in Rede stehenden Verfahren eingreifen ließe, meines Erachtens bereits eine Lösung für Sachverhalte dieser Art: Sowohl das EUIPO als auch die Gemeinschaftsmarkengerichte haben in Beziehung oder im Zusammenhang stehende Verfahren bzw. Entscheidungen des jeweils anderen Spruchkörpers zu berücksichtigen und dem bei ihren Handlungen und letztlich in ihren Sachentscheidungen Rechnung zu tragen.

B – Dritter Rechtsmittelgrund

73.

In Bezug auf den dritten Rechtsmittelgrund betreffend die Verletzung von Art. 65 Abs. 3 der Gemeinschaftsmarkenverordnung meine ich, dass das Gericht es rechtsfehlerfrei abgelehnt hat, die Sache selbst zu entscheiden.

74.

Die dem Gericht zustehende Abänderungsbefugnis bewirkt nicht, dass es dazu ermächtigt wäre, seine eigene Beurteilung an die Stelle der von der Beschwerdekammer vorgenommenen Beurteilung zu setzen, oder dazu, eine Frage zu beurteilen, zu der die Beschwerdekammer noch nicht Stellung genommen hat ( 16 ). Die Ausübung der Abänderungsbefugnis ist folglich grundsätzlich auf die Fälle zu beschränken, in denen das Gericht nach einer Überprüfung der von der Beschwerdekammer vorgenommenen Beurteilung auf der Grundlage der erwiesenen tatsächlichen und rechtlichen Umstände zu bestimmen vermag, welche Entscheidung die Beschwerdekammer hätte erlassen müssen.

75.

Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdekammer des EUIPO das Urteil des Tribunal de commerce de Bruxelles (Handelsgericht Brüssel), das von Bedeutung gewesen wäre, unberücksichtigt gelassen. Diese Beurteilung des Urteils kann das Gericht nicht ersatzweise vornehmen.

76.

Schließlich ist festzustellen, dass wenn schon das Gericht in solchen Fällen seine eigene Beurteilung nicht an die Stelle der vom EUIPO vorgenommenen Beurteilung setzen darf, dies erst recht für den Gerichtshof gilt. Im vorliegenden Fall kann der Gerichtshof seine eigene Beurteilung nicht an die Stelle der von der Beschwerdekammer vorgenommenen Beurteilung setzen und nach Art. 61 der Satzung des Gerichtshofs ein Urteil über die Begründetheit des Widerspruchs erlassen. Dementsprechend ist die Sache zur Entscheidung an die Beschwerdekammer zurückzuverweisen.

77.

Deshalb schlage ich vor, den dritten Rechtsmittelgrund zurückzuweisen.

VI – Kosten

78.

Die Rechtsmittelführerinnen sind mit ihrem Rechtsmittel unterlegen. In Anwendung von Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung haben sie ihre eigenen Kosten und die Kosten des EUIPO zu tragen. Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass dieser Rechtsstreit teilweise infolge der erheblichen Unzulänglichkeiten der Entscheidung des EUIPO entstanden ist. Deshalb ist es meines Erachtens billig, wenn in Anwendung von Art. 138 Abs. 3 der Verfahrensordnung jede Partei ihre eigenen Kosten trägt.

VII – Ergebnis

79.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor,

1.

das Rechtsmittel zurückzuweisen;

2.

jede Partei zur Tragung ihrer eigenen Kosten zu verurteilen.


( 1 ) Originalsprache: Englisch.

( 2 ) Verordnung (EG) Nr. 207/2009 des Rates vom 26. Februar 2009 über die Gemeinschaftsmarke (ABl. L 78, S. 1).

( 3 ) Urteil Apple and Pear Australia und Star Fruits Diffusion/HABM – Carolus C. (English pink) (T‑378/13, EU:T:2015:186).

( 4 ) Vgl. 16. Erwägungsgrund der Gemeinschaftsmarkenverordnung. Vgl. allgemein zum einheitlichen Charakter des Gemeinschaftsmarkensystems Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón in der Rechtssache DHL Express France (C‑235/09, EU:C:2010:595, Nrn. 18 bis 26).

( 5 ) Es ist darauf hinzuweisen, dass die Terminologie der einzelnen Merkmale der Rechtskraft zwischen den verschiedenen Sprachfassungen etwas voneinander abweicht und daher einige Verwirrung stiften kann. Insbesondere heißt es in der englischen Sprachfassung „subject matter“ (Streitgegenstand), während in der französischen Fassung zur Bezeichnung desselben Merkmals von „l’objet“ die Rede ist. In den vorliegenden Schlussanträgen bleibe ich bei der Terminologie der englischen Sprachfassung, auch wenn der Begriff nach seinem natürlichen Verständnis eine etwas andere Bedeutung haben mag. Für die Zwecke des vorliegenden Falles verstehe ich unter Anspruch („cause of action“) den Sachverhalt und die Rechtsvorschriften, die die Anspruchsgrundlage bilden, und unter Streitgegenstand („subject matter“) sowohl das Ziel der Klage im Sinne des Klagebegehrens als auch den konkreten Anspruchsgegenstand.

( 6 ) Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. 2002, L 3, S. 1). Vgl. insbesondere Art. 52 Abs. 3 und Art. 86 Abs. 5.

( 7 ) Verordnung des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1). Diese Verordnung wurde durch die Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 vom 12. Dezember 2012 (ABl. L 351, S. 1) neu gefasst. Vgl. im Kontext des Brüsseler Übereinkommens vom 27. September 1968 Urteile Gubisch Maschinenfabrik (144/86, EU:C:1987:528, Rn. 14 bis 17), Tatry (C‑406/92, EU:C:1994:400, Rn. 38 bis 45), Drouot assurances (C‑351/96, EU:C:1998:242, Rn. 19), Gantner Electronic (C‑111/01, EU:C:2003:257, Rn. 24 bis 32), Gasser (C‑116/02, EU:C:2003:657, Rn. 41) und Mærsk Olie & Gas (C‑39/02, EU:C:2004:615, Rn. 34 bis 39). Vgl. im Rahmen der Verordnung Nr. 44/2001 Urteile Nipponkoa Insurance Co. (Europe) (C‑452/12, EU:C:2013:858, Rn. 42 bis 44) und Aannemingsbedrijf Aertssen und Aertssen Terrassements (C‑523/14, EU:C:2015:722, Rn. 43 bis 46).

( 8 ) In der neugefassten Verordnung wurden aus den Art. 27 und 28 die Art. 29 und 30. Die vorgenommenen Änderungen sind für die vorliegende Würdigung ohne Belang.

( 9 ) Siehe Fn. 5.

( 10 ) In allgemeiner Entsprechung vgl. im Kontext des Brüsseler Übereinkommens wiederum Urteile Gubisch Maschinenfabrik (144/86, EU:C:1987:528, Rn. 15 bis 17), Tatry (C‑406/92, EU:C:1994:400, Rn. 41 bis 44) und Mærsk Olie & Gas (C‑39/02, EU:C:2004:615, Rn. 35 und 36). Vgl. auch in einem anderen Zusammenhang mit Ausführungen zum selben Problemkreis Urteile Kommission/Tomkins (C‑286/11 P, EU:C:2013:29, Rn. 43) und Total/Kommission (C‑597/13 P, EU:C:2015:613, Rn. 39 bis 41).

( 11 ) Vgl. allgemein Beschluss Emram/HABM (C‑354/11 P, EU:C:2012:167, Rn. 92 ff.) und Urteil Alcon/HABM (C‑412/05 P, EU:C:2007:252, Rn. 65).

( 12 ) Urteil O2 Holdings & O2 (UK) (C‑533/06, EU:C:2008:339, Rn. 67).

( 13 ) Urteil T.I.M.E. ART/HABM (C‑171/06 P, EU:C:2007:171, Rn. 59).

( 14 ) Urteil HABM/Kaul (C‑29/05 P, EU:C:2007:162, Rn. 57).

( 15 ) Urteil Fédération Cynologique Internationale (C‑561/11, EU:C:2013:91).

( 16 ) Urteil Edwin/HABM (C‑263/09 P, EU:C:2011:452, Rn. 72).

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