Urteil vom Europäischer Gerichtshof - C-63/15

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

7. Juni 2016 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Verordnung (EU) Nr. 604/2013 — Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist — Art. 12 — Ausstellung von Aufenthaltstiteln oder Visa — Art. 27 — Rechtsmittel — Umfang der gerichtlichen Kontrolle“

In der Rechtssache C‑63/15

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Den Haag (Gericht Den Haag, Niederlande) mit Entscheidung vom 2. Februar 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Februar 2015, in dem Verfahren

Mehrdad Ghezelbash

gegen

Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter), J. L. da Cruz Vilaça und A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin C. Toader und der Kammerpräsidenten D. Šváby und F. Biltgen sowie der Richter J.‑C. Bonichot, M. Safjan, E. Jarašiūnas, C. G. Fernlund, C. Vajda und S. Rodin,

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. Dezember 2015,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn Ghezelbash, vertreten durch Y. G. F. M. Coenders, P. J. Schüller und A. Eikelboom, advocaten,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, H. Stergiou und B. Koopman als Bevollmächtigte,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

der griechischen Regierung, vertreten durch M. Michelogiannaki als Bevollmächtigte,

der französischen Regierung, vertreten durch F. X. Bréchot und D. Colas als Bevollmächtigte,

der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande, R. Troosters und K. Simonsson als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 17. März 2016

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Art. 27 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31).

2

Dieses Ersuchen ergeht in einem Rechtsstreit zwischen Herrn Mehrdad Ghezelbash, der die iranische Staatsangehörigkeit besitzt, und dem Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie (Staatssekretär für Sicherheit und Justiz, Niederlande) (im Folgenden: Staatssekretär) wegen dessen Entscheidung, den asylrechtlichen Antrag von Herrn Ghezelbash auf Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis abzulehnen.

Rechtlicher Rahmen

Verordnung (EG) Nr. 343/2003

3

Art. 19 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. 2003, L 50, S. 1), sah vor:

„(1)   Stimmt der ersuchte Mitgliedstaat der Aufnahme eines Antragstellers zu, so teilt der Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag eingereicht wurde, dem Antragsteller die Entscheidung, den Asylantrag nicht zu prüfen, sowie die Verpflichtung, den Antragsteller an den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, mit.

(2)   Die Entscheidung nach Absatz 1 ist zu begründen. … Gegen die Entscheidung kann ein Rechtsbehelf eingelegt werden. Ein gegen diese Entscheidung eingelegter Rechtsbehelf hat keine aufschiebende Wirkung für die Durchführung der Überstellung, es sei denn, die Gerichte oder zuständigen Stellen entscheiden im Einzelfall nach Maßgabe ihres innerstaatlichen Rechts anders, wenn es nach ihrem innerstaatlichen Recht zulässig ist.“

Verordnung Nr. 604/2013

4

In den Erwägungsgründen 1, 4, 5, 9, 19 und 40 der Verordnung Nr. 604/2013 heißt es:

„(1)

Die Verordnung [Nr. 343/2003] muss in einigen wesentlichen Punkten geändert werden …

(4)

Entsprechend den Schlussfolgerungen [des Europäischen Rates auf seiner Sondertagung vom 15. und 16. Oktober 1999 in] Tampere sollte das [Gemeinsame Europäische Asylsystem] auf kurze Sicht eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats umfassen.

(5)

Eine solche Formel sollte auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basieren. Sie sollte insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden.

(9)

Angesichts der Bewertungsergebnisse in Bezug auf die Umsetzung der Instrumente der ersten Phase empfiehlt es sich in dieser Phase, die der Verordnung … Nr. 343/2003 zugrunde liegenden Prinzipien zu bestätigen und angesichts der bisherigen Erfahrungen gleichzeitig die notwendigen Verbesserungen mit Hinblick auf die Leistungsfähigkeit des Dublin-Systems und den auf der Grundlage dieses Systems gewährten Schutz der Antragsteller vorzunehmen. …

(19)

Um einen wirksamen Schutz der Rechte der Betroffenen zu gewährleisten, sollten im Einklang insbesondere mit Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Rechtsgarantien und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen festgeschrieben werden. Um die Einhaltung des Völkerrechts sicherzustellen, sollte ein wirksamer Rechtsbehelf gegen diese Entscheidungen sowohl die Prüfung der Anwendung dieser Verordnung als auch die Prüfung der Rechts- und Sachlage in dem Mitgliedstaat umfassen, in den der Antragsteller überstellt wird.

(40)

Da das Ziel dieser Verordnung, nämlich die Festlegung von Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser in einem Mitgliedstaat gestellt hat, auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden kann und daher wegen des Umfangs und der Wirkungen dieser Verordnung besser auf Unionsebene zu erreichen ist, kann die Union im Einklang mit dem in Artikel 5 [EUV] niedergelegten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. …“

5

Art. 3 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 604/2013 bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.

(2)   Lässt sich anhand der Kriterien dieser Verordnung der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.

Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen, so setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.

Kann keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat.“

6

Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 bestimmt:

„Sobald ein Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des Artikels 20 Absatz 2 in einem Mitgliedstaat gestellt wird, unterrichten seine zuständigen Behörden den Antragsteller über die Anwendung dieser Verordnung und insbesondere über folgende Aspekte:

b)

die Kriterien für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats, die Rangfolge derartiger Kriterien in den einzelnen Schritten des Verfahrens und ihre Dauer einschließlich der Tatsache, dass ein in einem Mitgliedstaat gestellter Antrag auf internationalen Schutz dazu führen kann, dass dieser Mitgliedstaat nach dieser Verordnung zuständig wird, selbst wenn diese Zuständigkeit nicht auf derartigen Kriterien beruht;

c)

das persönliche Gespräch gemäß Artikel 5 und die Möglichkeit, Angaben über die Anwesenheit von Familienangehörigen, Verwandten oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung in den Mitgliedstaaten zu machen, einschließlich der Mittel, mit denen der Antragsteller diese Angaben machen kann;

d)

die Möglichkeit zur Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung und gegebenenfalls zur Beantragung einer Aussetzung der Überstellung;

…“

7

Art. 5 Abs. 1 bis 3 und 6 der Verordnung Nr. 604/2013 lautet:

„(1)   Um das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zu erleichtern, führt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat ein persönliches Gespräch mit dem Antragsteller. Dieses Gespräch soll auch das richtige Verständnis der dem Antragsteller gemäß Artikel 4 bereitgestellten Informationen ermöglichen.

(2)   Auf das persönliche Gespräch darf verzichtet werden, wenn

a)

der Antragsteller flüchtig ist oder

b)

der Antragsteller, nachdem er die in Artikel 4 genannten Informationen erhalten hat, bereits die sachdienlichen Angaben gemacht hat, so dass der zuständige Mitgliedstaat auf andere Weise bestimmt werden kann. Der Mitgliedstaat, der auf das Gespräch verzichtet, gibt dem Antragsteller Gelegenheit, alle weiteren sachdienlichen Informationen vorzulegen, die für die ordnungsgemäße Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats von Bedeutung sind, bevor eine Entscheidung über die Überstellung des Antragstellers in den nach Artikel 26 Absatz 1 zuständigen Mitgliedstaat ergeht.

(3)   Das persönliche Gespräch wird zeitnah geführt, in jedem Fall aber, bevor über die Überstellung des Antragstellers in den zuständigen Mitgliedstaat gemäß Artikel 26 Absatz 1 entschieden wird.

(6)   Der Mitgliedstaat, der das persönliche Gespräch führt, erstellt eine schriftliche Zusammenfassung, die zumindest die wesentlichen Angaben des Antragstellers aus dem Gespräch enthält. Diese Zusammenfassung kann in Form eines Berichts oder eines Standardformulars erstellt werden. Der Mitgliedstaat gewährleistet, dass der Antragsteller und/oder der ihn vertretende Rechtsbeistand oder sonstiger Berater zeitnah Zugang zu der Zusammenfassung erhält.“

8

Zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 ist in deren Kapitel III eine Rangfolge objektiver Kriterien aufgeführt.

9

Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 lautet:

„Die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats finden in der in diesem Kapitel genannten Rangfolge Anwendung.“

10

Art. 12 Abs. 1 und 4 der Verordnung Nr. 604/2013 bestimmt:

„(1)   Besitzt der Antragsteller einen gültigen Aufenthaltstitel, so ist der Mitgliedstaat, der den Aufenthaltstitel ausgestellt hat, für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig.

(4)   Besitzt der Antragsteller nur einen oder mehrere Aufenthaltstitel, die weniger als zwei Jahre zuvor abgelaufen sind, oder ein oder mehrere Visa, die seit weniger als sechs Monaten abgelaufen sind, aufgrund deren er in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreisen konnte, so sind die Absätze 1, 2 und 3 anwendbar, solange der Antragsteller das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nicht verlassen hat.

…“

11

Das Kapitel IV der Verordnung Nr. 604/2013 enthält Bestimmungen über die Zusammenführung mit abhängigen Personen und Ermessensklauseln.

12

Art. 21 der Verordnung Nr. 604/2013 bestimmt:

„(1)   Hält der Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, einen anderen Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags für zuständig, so kann er so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von drei Monaten nach Antragstellung im Sinne von Artikel 20 Absatz 2, diesen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen.

(3)   In den Fällen im Sinne der Unterabsätze 1 und 2 ist für das Gesuch um Aufnahme durch einen anderen Mitgliedstaat ein Formblatt zu verwenden, das Beweismittel oder Indizien gemäß den beiden in Artikel 22 Absatz 3 genannten Verzeichnissen und/oder sachdienliche Angaben aus der Erklärung des Antragstellers enthalten muss, anhand deren die Behörden des ersuchten Mitgliedstaats prüfen können, ob ihr Staat gemäß den in dieser Verordnung definierten Kriterien zuständig ist.

…“

13

Art. 22 Abs. 2 bis 5 der Verordnung Nr. 604/2013 sieht vor:

„(2)   In dem Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats werden Beweismittel und Indizien verwendet.

(4)   Das Beweiserfordernis sollte nicht über das für die ordnungsgemäße Anwendung dieser Verordnung erforderliche Maß hinausgehen.

(5)   Liegen keine förmlichen Beweismittel vor, erkennt der ersuchte Mitgliedstaat seine Zuständigkeit an, wenn die Indizien kohärent, nachprüfbar und hinreichend detailliert sind, um die Zuständigkeit zu begründen.

14

In Art. 26 der Verordnung Nr. 604/2013 heißt es:

„(1)   Stimmt der ersuchte Mitgliedstaat der Aufnahme oder Wiederaufnahme eines Antragstellers … zu, setzt der ersuchende Mitgliedstaat die betreffende Person von der Entscheidung in Kenntnis, sie in den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, sowie gegebenenfalls von der Entscheidung, ihren Antrag auf internationalen Schutz nicht zu prüfen. …

(2)   Die Entscheidung nach Absatz 1 enthält eine Rechtsbehelfsbelehrung, einschließlich des Rechts, falls erforderlich, aufschiebende Wirkung zu beantragen, und der Fristen für die Einlegung eines Rechtsbehelfs sowie Informationen über die Frist für die Durchführung der Überstellung …

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die betreffende Person zusammen mit der Entscheidung nach Absatz 1 Angaben zu Personen oder Einrichtungen erhält, die sie rechtlich beraten können, sofern diese Angaben nicht bereits mitgeteilt wurden.

(3)   Wird die betreffende Person nicht durch einen Rechtsbeistand oder einen anderen Berater unterstützt oder vertreten, so informiert der Mitgliedstaat sie in einer Sprache, die sie versteht oder bei der vernünftigerweise angenommen werden kann, dass sie sie versteht, über die wesentlichen Elemente der Entscheidung, darunter stets über mögliche Rechtsbehelfe und die Fristen zur Einlegung solcher Rechtsbehelfe.“

15

Art. 27 der Verordnung Nr. 604/2013 sieht vor:

„(1)   Der Antragsteller … hat das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht.

(2)   Die Mitgliedstaaten sehen eine angemessene Frist vor, in der die betreffende Person ihr Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Absatz 1 wahrnehmen kann.

(3)   Zum Zwecke eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung oder einer Überprüfung einer Überstellungsentscheidung sehen die Mitgliedstaaten in ihrem innerstaatlichen Recht Folgendes vor:

a)

dass die betroffene Person aufgrund des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung berechtigt ist, bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu bleiben; oder

b)

dass die Überstellung automatisch ausgesetzt wird und diese Aussetzung innerhalb einer angemessenen Frist endet, innerhalb der ein Gericht, nach eingehender und gründlicher Prüfung, darüber entschieden hat, ob eine aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung gewährt wird; oder

c)

die betreffende Person hat die Möglichkeit, bei einem Gericht innerhalb einer angemessenen Frist eine Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung zu beantragen. Die Mitgliedstaaten sorgen für einen wirksamen Rechtsbehelf in der Form, dass die Überstellung ausgesetzt wird, bis die Entscheidung über den ersten Antrag auf Aussetzung ergangen ist. Die Entscheidung, ob die Durchführung der Überstellungsentscheidung ausgesetzt wird, wird innerhalb einer angemessenen Frist getroffen, welche gleichwohl eine eingehende und gründliche Prüfung des Antrags auf Aussetzung ermöglicht. Die Entscheidung, die Durchführung der Überstellungsentscheidung nicht auszusetzen, ist zu begründen.

(4)   Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass die zuständigen Behörden beschließen können, von Amts wegen tätig zu werden, um die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen.

(5)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die betreffende Person rechtliche Beratung und – wenn nötig – sprachliche Hilfe in Anspruch nehmen kann.

(6)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die rechtliche Beratung auf Antrag unentgeltlich gewährt wird, wenn die betreffende Person die Kosten nicht selbst tragen kann. …“

16

Art. 29 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 bestimmt:

„Die Überstellung des Antragstellers … aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt …, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Artikel 27 Absatz 3 aufschiebende Wirkung hat.

…“

17

Art. 36 Abs. 1 und 4 der Verordnung Nr. 604/2013 sieht vor:

„(1)   Die Mitgliedstaaten können untereinander bilaterale Verwaltungsvereinbarungen bezüglich der praktischen Modalitäten der Durchführung dieser Verordnung treffen, um deren Anwendung zu erleichtern und die Effizienz zu erhöhen. Diese Vereinbarungen können Folgendes betreffen:

a)

den Austausch von Verbindungsbeamten;

b)

die Vereinfachung der Verfahren und die Verkürzung der Fristen für die Übermittlung und Prüfung von Gesuchen zur Aufnahme bzw. Wiederaufnahme von Antragstellern.

(4)   Sind die Vereinbarungen nach Absatz 1 Buchstabe b nach Ansicht der Kommission mit dieser Verordnung unvereinbar, so teilt sie dies den betreffenden Mitgliedstaaten innerhalb einer angemessenen Frist mit. Die Mitgliedstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um die betreffende Vereinbarung innerhalb eines angemessenen Zeitraums so zu ändern, dass die festgestellten Unvereinbarkeiten behoben werden.“

18

Nach Art. 37 der Verordnung Nr. 604/2013 können die Mitgliedstaaten ein Schlichtungsverfahren in Anspruch nehmen, wenn sie sich in Fragen, die die Anwendung dieser Verordnung betreffen, nicht einigen können.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

19

Am 4. März 2014 beantragte Herr Ghezelbash bei den niederländischen Behörden, nachdem sie ihn am Vortag angehört hatten, auf der Grundlage des Asylrechts eine befristete Aufenthaltserlaubnis.

20

Da eine Abfrage im Visa-Informationssystem der Union (VIS) ergab, dass Herr Ghezelbash für die Zeit vom 17. Dezember 2013 bis zum 11. Januar 2014 ein Visum von der Auslandsvertretung der Französischen Republik im Iran erhalten hatte, ersuchte der Staatssekretär am 7. März 2014 die französischen Behörden, Herrn Ghezelbash gemäß der Verordnung Nr. 604/2013 aufzunehmen.

21

Am 5. Mai 2014 gaben die französischen Behörden dem Aufnahmeersuchen statt.

22

Am 15. Mai 2014 wurde Herr Ghezelbash von den niederländischen Behörden erneut angehört und bei dieser Gelegenheit eingehender befragt. In einer schriftlichen Stellungnahme vom 20. Mai 2014 stellte er beim Staatssekretär den Antrag, seinen Asylantrag im verlängerten Asylverfahren zu bearbeiten, um ihm Gelegenheit zu geben, durch die Vorlage von Originaldokumenten zu beweisen, dass er vom 19. Dezember 2013 bis zum 20. Februar 2014 in den Iran zurückgekehrt sei. Da dieser Aufenthalt nach seiner Einreise nach Frankreich stattgefunden habe, sei dieser Mitgliedstaat für die Prüfung seines Asylantrags nicht zuständig.

23

Mit Entscheidung vom 21. Mai 2014 lehnte der Staatssekretär den asylrechtlichen Antrag von Herrn Ghezelbash auf Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis ab.

24

Am 22. Mai 2014 legte Herr Ghezelbash hiergegen einen Rechtsbehelf ein und beantragte beim Richter des vorläufigen Rechtsschutzes bei der Rechtbank Den Haag (Gericht Den Haag, Niederlande) den Erlass einer einstweiligen Maßnahme. Außerdem reichte er am 28. Mai 2014 verschiedene Belege dafür ein, dass er nach seinem Aufenthalt in Frankreich in den Iran zurückgekehrt sei, nämlich eine Erklärung seines Arbeitgebers, ein ärztliches Attest und einen Vertrag über den Verkauf einer Immobilie.

25

Mit Entscheidung vom 13. Juni 2014 gab der Richter des vorläufigen Rechtsschutzes bei der Rechtbank Den Haag (Gericht Den Haag) dem Antrag von Herrn Ghezelbash auf Erlass einer vorläufigen Maßnahme statt und ordnete die Aussetzung der Rechtswirkungen der Entscheidung des Staatssekretärs vom 21. Mai 2014 an.

26

Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ist die Entscheidung des Staatssekretärs wegen mangelnder Sorgfalt der Verwaltung und Begründungsmängeln aufzuheben. Seiner Meinung nach hätte der Staatssekretär, um die von Herrn Ghezelbash vorgelegten Schriftstücke in vollem Umfang berücksichtigen zu können, dessen Asylantrag im verlängerten Asylverfahren behandeln müssen. Um darüber zu befinden, ob die Rechtswirkungen der aufgehobenen Entscheidung aufrechtzuerhalten sind, ist jedoch nach Ansicht des vorlegenden Gerichts weiter zu klären, ob Herr Ghezelbash befugt ist, die Zuständigkeit der Französischen Republik für die Prüfung seines Asylantrags in Frage zu stellen, nachdem dieser Mitgliedstaat seine Zuständigkeit bereits anerkannt hat.

27

Das vorlegende Gericht hebt zudem hervor, dass Herr Ghezelbash bei der Anhörung am 3. März 2014 über seine Obliegenheit, Belege für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats einzureichen, nur so vage unterrichtet worden sei, dass ihm nicht angelastet werden könne, dass er die später eingereichten Dokumente nicht schon in diesem Verfahrensstadium vorgelegt habe. Das Aufnahmeersuchen an die französischen Behörden sei daher verfrüht erfolgt oder zumindest unvollständig gewesen. Die französischen Behörden hätten infolgedessen über das Gesuch befunden, ohne die von dem Asylbewerber eingereichten Unterlagen zu kennen.

28

Vor diesem Hintergrund hat die Rechtbank Den Haag (Gericht Den Haag) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Wie weit reicht Art. 27 der Verordnung Nr. 604/2013, gegebenenfalls in Verbindung mit dem 19. Erwägungsgrund dieser Verordnung?

Hat ein Asylbewerber in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem der Ausländer erst nach Stattgabe des Gesuchs um Übernahme der Zuständigkeit für ein Asylverfahren mit diesem Gesuch konfrontiert wird und Beweise vorlegt, die zu dem Ergebnis führen können, dass nicht der ersuchte Mitgliedstaat, sondern der ersuchende Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig ist, und der ersuchende Mitgliedstaat diese Unterlagen anschließend weder prüft noch dem ersuchten Mitgliedstaat vorlegt, nach diesem Artikel das Recht, ein (wirksames) Rechtsmittel gegen die Anwendung der in Kapitel III der Verordnung Nr. 604/2013 genannten Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Staates einzulegen?

2.

Für den Fall, dass sich der Ausländer sowohl nach der Verordnung Nr. 604/2013 als auch nach der Verordnung Nr. 343/2003 grundsätzlich nicht auf die fehlerhafte Anwendung der Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats berufen kann, wenn der ersuchte Mitgliedstaat einem Übernahmegesuch stattgegeben hat: Ist die Auffassung des Beklagten zutreffend, eine Ausnahme von diesem Grundsatz sei nur in familiären Situationen im Sinne von Art. 7 der Verordnung Nr. 604/2013 möglich, oder sind auch andere besondere Tatsachen und Umstände denkbar, aufgrund deren sich der Ausländer auf die fehlerhafte Anwendung der Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats berufen kann?

3.

Sofern die Antwort auf Frage 2 dahin lautet, dass neben familiären Situationen auch andere Umstände dazu führen können, dass sich der Ausländer auf die fehlerhafte Anwendung der Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats berufen kann: Können die in Rn. 27 des vorliegenden Urteils beschriebenen Tatsachen und Umstände solche besonderen Tatsachen und Umstände darstellen?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

29

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 im Licht ihres 19. Erwägungsgrundes dahin auszulegen ist, dass in einem Sachverhalt wie dem im Ausgangsverfahren fraglichen ein Asylbewerber im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung über seine Überstellung die fehlerhafte Anwendung eines in Kapitel III dieser Verordnung festgelegten Zuständigkeitskriteriums und insbesondere des in Art. 12 der Verordnung festgelegten Kriteriums einer Visumserteilung geltend machen kann.

30

Nach Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 hat der Asylbewerber das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht.

31

Laut der Entsprechungstabelle in Anhang II der Verordnung Nr. 604/2013 entspricht diese Bestimmung dem Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003.

32

Im Urteil vom 10. Dezember 2013, Abdullahi (C‑394/12, EU:C:2013:813), hat der Gerichtshof jedoch entschieden, dass Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 dahin auszulegen war, dass ein Asylbewerber der Zuständigkeit eines Mitgliedstaats als des Mitgliedstaats der ersten Einreise dieses Asylbewerbers in das Gebiet der Europäischen Union nur damit entgegentreten kann, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat geltend macht, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte ausgesetzt zu werden.

33

Das vorlegende Gericht wirft die Frage auf, inwieweit dieses Urteil einschlägig ist, um in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens die Reichweite von Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 zu bestimmen.

34

Es ist zunächst festzustellen, dass sich die Verordnung Nr. 604/2013 hinsichtlich der dem Asylbewerber gewährten Rechte in wesentlichen Punkten von der Verordnung Nr. 343/2003 unterscheidet, die in dem Fall anzuwenden war, der dem Urteil vom 10. Dezember 2013, Abdullahi (C‑394/12, EU:C:2013:813), zugrunde lag.

35

Die Reichweite des in Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 vorgesehenen Rechtsmittels ist somit anhand des Wortlauts der Bestimmungen dieser Verordnung, ihres allgemeinen Aufbaus, ihrer Ziele und ihres Kontexts, insbesondere ihrer Entwicklung im Zusammenhang mit dem System, in das sie sich einfügt, zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Dezember 2013, Abdullahi, C‑394/12, EU:C:2013:813, Rn. 51).

36

Dem Wortlaut des Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 ist zu entnehmen, dass das in dieser Bestimmung vorgesehene Rechtsmittel wirksam sein muss und auf Sach- und Rechtsfragen gerichtet ist. Des Weiteren wird in diesem Wortlaut keine Beschränkung des Vorbringens genannt, auf das sich der Asylbewerber im Rahmen dieses Rechtsmittels stützen kann. Das Gleiche gilt für den Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 Buchst. d dieser Verordnung, der sich auf die vorgeschriebene Unterrichtung des Antragstellers durch die zuständigen Behörden über die Möglichkeit bezieht, eine Überstellungsentscheidung anzufechten.

37

Insbesondere hat der Unionsgesetzgeber keinen besonderen oder gar ausschließlichen Zusammenhang zwischen dem in Art. 27 der Verordnung Nr. 604/2013 vorgesehenen Rechtsbehelf und der nunmehr in Art. 3 Abs. 2 dieser Verordnung enthaltenen Regelung hergestellt, die die Möglichkeiten der Überstellung eines Antragstellers an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat für den Fall einschränkt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte mit sich bringen.

38

Zudem wird die Reichweite des Rechtsbehelfs, der einem Asylbewerber gegen eine Entscheidung über seine Überstellung offensteht, im 19. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 604/2013, dessen Aussagegehalt in der Verordnung Nr. 343/2003 nicht enthalten war, näher umschrieben.

39

Laut diesem Erwägungsgrund sollte, um die Einhaltung des Völkerrechts sicherzustellen, der in der Verordnung Nr. 604/2013 vorgesehene wirksame Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen sowohl die Prüfung der Anwendung dieser Verordnung als auch die Prüfung der Rechts- und Sachlage in dem Mitgliedstaat umfassen, in den der Antragsteller überstellt wird.

40

Während mit der zweiten in diesem Erwägungsgrund genannten Prüfung nur kontrolliert werden soll, welche Lage in dem Mitgliedstaat herrscht, an den der Antragsteller überstellt wird, und insbesondere sichergestellt werden soll, dass die Überstellung des Antragstellers nicht aus den in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung genannten Gründen unmöglich ist, zielt die erste in diesem Erwägungsgrund genannte Prüfung in allgemeinerer Weise darauf ab, die fehlerfreie Anwendung der Verordnung zu kontrollieren.

41

Der allgemeine Aufbau der Verordnung Nr. 604/2013 lässt jedoch erkennen, dass deren Anwendung im Wesentlichen auf der Durchführung eines Verfahrens zur Ermittlung des zuständigen Mitgliedstaats beruht, der aufgrund der in Kapitel III der Verordnung festgelegten Kriterien bestimmt wird.

42

So soll mit der Verordnung Nr. 604/2013 laut ihren Erwägungsgründen 4, 5 und 40 für die Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, eine klare und praktikable Formel geschaffen werden, die auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basiert. Es lässt sich insbesondere den Art. 3 Abs. 1 und 7 Abs. 1 der Verordnung entnehmen, dass der zuständige Mitgliedstaat grundsätzlich der Staat ist, der durch die in Kapitel III der Verordnung normierten Kriterien bestimmt wird. Im Übrigen werden in Kapitel IV der Verordnung genau die Fallgestaltungen umschrieben, in denen ein Mitgliedstaat in Abweichung von diesen Kriterien als der für die Prüfung eines Asylantrags zuständige Staat angesehen werden kann.

43

Die zentrale Stellung, die dem Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats aufgrund der in Kapitel III der Verordnung Nr. 604/2013 festgelegten Kriterien für die Anwendung der Verordnung zukommt, wird dadurch bestätigt, dass nach ihrem Art. 21 Abs. 1 der Mitgliedstaat, bei dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist, einen anderen Mitgliedstaat nur dann um die Aufnahme eines Asylbewerbers ersuchen kann, wenn seiner Auffassung nach dieser andere Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags zuständig ist. Außerdem muss das Aufnahmegesuch nach Art. 21 Abs. 3 der Verordnung die Beweise und Angaben enthalten, anhand deren die Behörden des ersuchten Mitgliedstaats prüfen können, ob ihr Staat nach den in der Verordnung definierten Kriterien zuständig ist. Ebenso muss nach Art. 22 der Verordnung die Antwort auf das Aufnahmegesuch auf einer Prüfung der Beweismittel und Indizien beruhen, die die Anwendung der in Kapitel III der Verordnung festgelegten Kriterien erlauben.

44

Demnach ist, soweit sich der 19. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 604/2013 auf die Prüfung der Anwendung der Verordnung bezieht, die im Rahmen des in ihrem Art. 27 Abs. 1 vorgesehenen Rechtsbehelfs gegen die Überstellungsentscheidung vorzunehmen ist, diese Bezugnahme dahin zu verstehen, dass sie insbesondere auf die Überprüfung der richtigen Anwendung der in Kapitel III der Verordnung normierten Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats einschließlich des in Art. 12 der Verordnung genannten Zuständigkeitskriteriums abzielt.

45

Diese Schlussfolgerung wird durch die allgemeine Entwicklung, der das System der Bestimmung des für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats (im Folgenden: Dublin-System) mit dem Erlass der Verordnung Nr. 604/2013 unterworfen war, sowie durch die mit dieser Verordnung verfolgten Ziele bestätigt.

46

Was zum einen diese Entwicklung angeht, ist zu konstatieren, dass sich die Verordnung Nr. 604/2013, da der Unionsgesetzgeber verschiedene Rechte und Mechanismen geschaffen oder gestärkt hat, die die Beteiligung des Asylbewerbers am Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gewährleisten, in erheblichem Maß von der Verordnung Nr. 343/2003 unterscheidet, die in dem dem Urteil vom 10. Dezember 2013, Abdullahi (C‑394/12, EU:C:2013:813), zugrunde liegenden Fall anzuwenden war.

47

So wird erstens durch Art. 4 der Verordnung Nr. 604/2013 ein Recht des Antragstellers auf Information normiert, die sich insbesondere auf die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats und ihre Rangfolge einschließlich der Tatsache erstreckt, das ein in einem Mitgliedstaat gestellter Antrag auf internationalen Schutz dazu führen kann, dass dieser Mitgliedstaat nach der Verordnung zuständig wird, selbst wenn diese Zuständigkeit nicht auf derartigen Kriterien beruht.

48

Zweitens sieht Art. 5 Abs. 1, 3 und 6 der Verordnung Nr. 604/2013 vor, dass der Mitgliedstaat, der den zuständigen Mitgliedstaat ermittelt, zeitnah und in jedem Fall, bevor über die Überstellung des Antragstellers in den zuständigen Mitgliedstaat entschieden wird, ein persönliches Gespräch mit dem Antragsteller führt, dessen schriftliche Zusammenfassung dem Antragsteller oder dem ihn vertretenden Rechtsbeistand oder sonstigen Berater zugänglich zu machen ist. Nach Abs. 2 dieses Artikels darf auf dieses Gespräch verzichtet werden, wenn der Antragsteller bereits die sachdienlichen Angaben gemacht hat, um den zuständigen Mitgliedstaat bestimmen zu können, wobei der betreffende Mitgliedstaat in diesem Fall dem Antragsteller Gelegenheit gibt, alle weiteren sachdienlichen Informationen beizubringen, die für die ordnungsgemäße Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats von Bedeutung sind, bevor eine Überstellungsentscheidung ergeht.

49

Drittens wird in Abschnitt IV („Verfahrensgarantien“) des Kapitels IV der Verordnung Nr. 604/2013 eingehend geregelt, in welcher Weise Überstellungsentscheidungen zuzustellen sind und welche Rechtsbehelfe gegen diese Entscheidungen bestehen, während diese Aspekte in der Verordnung Nr. 343/2003 nicht in dieser Weise näher geregelt waren.

50

Aus Art. 27 Abs. 3 bis 6 der Verordnung Nr. 604/2013 geht hervor, dass dem Asylbewerber, um die Wirksamkeit dieser Rechtsbehelfe zu gewährleisten, insbesondere die Möglichkeit zu geben ist, bei einem Gericht innerhalb einer angemessenen Frist eine Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs zu beantragen, und dass ihm rechtliche Beratung zuteil werden muss.

51

Aus dem Vorstehenden folgt, dass sich der Unionsgesetzgeber im Rahmen der Verordnung Nr. 604/2013 nicht darauf beschränkt hat, organisatorische Regeln nur für die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten zu normieren, um den zuständigen Mitgliedstaat bestimmen zu können, sondern sich dafür entschieden hat, die Asylbewerber an diesem Verfahren zu beteiligen, indem er die Mitgliedstaaten dazu verpflichtete, die Asylbewerber über die Zuständigkeitskriterien zu unterrichten, ihnen Gelegenheit zur Mitteilung der Informationen zu geben, die die fehlerfreie Anwendung dieser Kriterien erlauben, und ihnen einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die am Ende des Verfahrens möglicherweise ergehende Überstellungsentscheidung zu gewährleisten.

52

Was zum anderen die mit der Verordnung Nr. 604/2013 verfolgten Ziele angeht, so sollen durch die Verordnung laut ihrem neunten Erwägungsgrund unter Bestätigung der der Verordnung Nr. 343/2003 zugrunde liegenden Prinzipien angesichts der bisherigen Erfahrungen die notwendigen Verbesserungen nicht nur im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit des Dublin-Systems vorgenommen werden, sondern auch im Hinblick auf den Schutz der Antragsteller, der insbesondere durch den ihnen gewährten gerichtlichen Rechtsschutz sichergestellt wird.

53

Eine restriktive Auslegung der Reichweite, die dem in Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 vorgesehenen Rechtsbehelf zukommt, erschiene insbesondere geeignet, der Erreichung dieses Ziels entgegenzustehen, indem den übrigen dem Asylbewerber in der Verordnung Nr. 604/2013 gewährten Rechten ihre praktische Wirksamkeit genommen würde. So drohte den in Art. 5 der Verordnung festgelegten Verpflichtungen, Asylbewerbern Gelegenheit zur Beibringung der Informationen zu geben, die die fehlerfreie Anwendung der in der Verordnung festgelegten Zuständigkeitskriterien erlauben, und diesen Antragstellern die schriftlichen Zusammenfassungen der zu diesem Zweck geführten Gespräche zugänglich zu machen, ihre praktische Wirksamkeit genommen zu werden, wenn ausgeschlossen wäre, dass eine fehlerhafte Anwendung dieser Kriterien, gegebenenfalls ohne Berücksichtigung der von den Antragstellern beigebrachten Informationen, Gegenstand einer gerichtlichen Kontrolle sein könnte.

54

In diesem Kontext kann die Einlegung eines Rechtsbehelfs gemäß der Verordnung Nr. 604/2013, wie die Generalanwältin in Nr. 74 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, nicht einem „forum shopping“ gleichgestellt werden, das durch das Dublin-System vermieden werden soll (Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a., C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 79). Das mit einem solchen Rechtsbehelf befasste Gericht hat nämlich nicht zur Aufgabe, die Zuständigkeit für die Prüfung eines Asylantrags einem nach Belieben des Klägers bestimmten Mitgliedstaat zu übertragen, sondern es hat vielmehr zu überprüfen, ob die vom Unionsgesetzgeber festgelegten Zuständigkeitskriterien fehlerfrei angewandt wurden.

55

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die etwaige Feststellung eines im Rahmen dieser Prüfung unterlaufenen Fehlers nicht geeignet ist, das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, auf dem das Gemeinsame Europäische Asylsystem aufbaut (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Dezember 2013, Abdullahi, C‑394/12, EU:C:2013:813, Rn. 52 und 53). Diese Feststellung bedeutet vielmehr bloß, dass der Staat, an den der Antragsteller überstellt werden soll, nicht der zuständige Mitgliedstaat im Sinne der in Kapitel III der Verordnung Nr. 604/2013 festgelegten Kriterien ist.

56

Was im Übrigen das im fünften Erwägungsgrund der Verordnung genannte Ziel angeht, eine Formel festzulegen, die eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglicht und das Ziel einer zügigen Bearbeitung von Asylanträgen nicht gefährdet, so ist zwar zu bedenken, dass die Wahrnehmung eines gerichtlichen Rechtsbehelfs möglicherweise den endgültigen Abschluss des Verfahrens für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats verzögern kann.

57

Jedoch hat der Gerichtshof bereits im Kontext der Verordnung Nr. 343/2003 festgestellt, dass der Unionsgesetzgeber nicht die Absicht hatte, dem Erfordernis der zügigen Bearbeitung der Asylanträge den gerichtlichen Schutz der Asylbewerber zu opfern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Januar 2009, Petrosian, C‑19/08, EU:C:2009:41, Rn. 48). Diese Feststellung gilt erst recht im Hinblick auf die Verordnung Nr. 604/2013, weil der Unionsgesetzgeber die Verfahrensgarantien, die Asylbewerbern im Rahmen des Dublin-Systems gewährt werden, mit dieser Verordnung erheblich weiterentwickelt hat.

58

Insoweit ist zu beachten, dass die Gefahr, dass sich der Abschluss des Verfahrens für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats infolge der Kontrolle der richtigen Anwendung der Zuständigkeitskriterien übermäßig verzögert, dadurch begrenzt wird, dass diese Kontrolle in dem Rahmen vorzunehmen ist, der durch die Verordnung Nr. 604/2013 und insbesondere in ihrem Art. 22 Abs. 4 und 5 vorgegeben wird, wonach das Beweiserfordernis nicht über das für die ordnungsgemäße Anwendung der Verordnung erforderliche Maß hinausgehen sollte und in Ermangelung förmlicher Beweismittel der ersuchte Mitgliedstaat seine Zuständigkeit anerkennt, wenn die Indizien kohärent, nachprüfbar und hinreichend detailliert sind, um seine Zuständigkeit zu begründen.

59

Zudem lässt sich hinsichtlich der Gefahr einer Verzögerung der Durchführung von Überstellungsentscheidungen Art. 27 Abs. 3 Buchst. c der Verordnung Nr. 604/2013 entnehmen, dass der Unionsgesetzgeber mit der von ihm gewählten Regelung, wonach die Mitgliedstaaten dem Betroffenen die Möglichkeit geben, bei einem Gericht innerhalb einer angemessenen Frist eine Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs zu beantragen, anerkannt hat, dass sich die Mitgliedstaaten dafür entscheiden können, dass die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung als solche nicht genügt, um die Überstellung auszusetzen, die deshalb erfolgen kann, ohne das Ergebnis des Rechtsbehelfs abzuwarten, sofern die Aussetzung nicht beantragt worden ist oder der Aussetzungsantrag zurückgewiesen worden ist.

60

Was schließlich die Entwicklung des Dublin-Systems infolge der Verordnung Nr. 604/2013 anbelangt, so kann der Umstand, dass die für Asylanträge geltenden Regelungen einer Harmonisierung unterzogen wurden, die im Übrigen nur Mindestcharakter hatte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2010, B und D, C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 114), allein nicht zu einer Auslegung führen, die die Reichweite des in Art. 27 dieser Verordnung vorgesehenen Rechtsbehelfs einschränkt.

61

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 im Licht ihres 19. Erwägungsgrundes dahin auszulegen ist, dass in einem Sachverhalt wie dem im Ausgangsverfahren fraglichen ein Asylbewerber im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung über seine Überstellung die fehlerhafte Anwendung eines in Kapitel III dieser Verordnung festgelegten Zuständigkeitskriteriums und insbesondere des in Art. 12 der Verordnung festgelegten Kriteriums einer Visumserteilung geltend machen kann.

Zur zweiten und zur dritten Frage

62

Unter Berücksichtigung der Antwort auf die erste Frage brauchen die zweite und die dritte Frage nicht beantwortet zu werden.

Kosten

63

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 27 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ist im Licht des 19. Erwägungsgrundes dieser Verordnung dahin auszulegen, dass in einem Sachverhalt wie dem im Ausgangsverfahren fraglichen ein Asylbewerber im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung über seine Überstellung die fehlerhafte Anwendung eines in Kapitel III dieser Verordnung festgelegten Zuständigkeitskriteriums und insbesondere des in Art. 12 der Verordnung festgelegten Kriteriums einer Visumserteilung geltend machen kann.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.

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Referenzen

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