Beschluss vom Europäischer Gerichtshof - C-121/16

BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

21. Juni 2016 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs — Art. 101 AEUV — Straßentransport — Preise im gewerblichen Güterkraftverkehr, die nicht unter den Mindestbetriebskosten liegen dürfen — Wettbewerb — Festlegung der Kosten durch das Ministerium für Infrastruktur und Verkehr“

In der Rechtssache C‑121/16

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Cagliari (Gericht Cagliari, Italien) mit Entscheidung vom 28. Oktober 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Februar 2016, in dem Verfahren

Salumificio Murru SpA

gegen

Autotrasporti di Marongiu Remigio

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten D. Šváby (Berichterstatter) sowie der Richter J. Malenovský und M. Vilaras,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,

folgenden

Beschluss

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 101 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV.

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Salumificio Murru SpA und der Autotrasporti di Marongiu Remigio über die Zahlung eines Betrags in Höhe der Differenz zwischen dem für verschiedene Transportvorgänge tatsächlich gezahlten Betrag und dem Betrag, der nach einer nationalen Regelung zur Festlegung der Preise im gewerblichen Güterkraftverkehr geschuldet ist.

Rechtlicher Rahmen

3

Das Gesetz Nr. 32 vom 1. März 2005 über die Ermächtigung der Regierung zur rechtlichen Neuregelung der Beförderung von Personen und Gütern im Straßenverkehr (GURI Nr. 57 vom 10. März 2005, S. 5) hat insbesondere den Zweck, eine geregelte Liberalisierung herbeizuführen und das vorherige System verbindlicher Margentarife durch ein System zu ersetzen, bei dem das Entgelt für Güter- und Personenkraftverkehrsdienste in freier Preisbildung vereinbart wird.

4

Im Rahmen der Ermächtigung durch das Gesetz Nr. 32 vom 1. März 2005 erließ die italienische Regierung mehrere Decreti legislativi (gesetzesvertretende Dekrete), darunter das Decreto legislativo (gesetzesvertretendes Dekret) Nr. 284 vom 21. November 2005 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 6 vom 9. Januar 2006), mit dem die Consulta generale per l’autotrasporto e la logistica (Allgemeiner Rat für Straßentransport und Logistik, Italien), eine Einrichtung mit Beratungsaufgaben, und als deren Organ das Osservatorio sulle attività di autotrasporto (Beobachtungsstelle für den Straßentransport, im Folgenden: Beobachtungsstelle) gegründet wurden. Letzteres Organ setzt sich aus zehn Mitgliedern zusammen, die vom Präsidenten des Allgemeinen Rates für Straßentransport und Logistik bestimmt werden. Es kontrolliert insbesondere die Einhaltung der Vorschriften über die Verkehrssicherheit und die soziale Sicherheit und dokumentiert fortlaufend die Gebräuche und Gepflogenheiten, die auf im Güterkraftverkehr geschlossene mündliche Verträge Anwendung finden.

5

Mit Art. 83a des Decreto-legge (Gesetzesdekret) Nr. 112 vom 25. Juni 2008 (im Folgenden: Gesetzesdekret Nr. 112/2008) wurde die durch das gesetzesvertretende Dekret Nr. 286 vom 21. November 2005 eingeführte Liberalisierung der Tarife sodann insofern eingeschränkt, als er vorsah, dass bei mündlichen Verträgen das vom Auftraggeber geschuldete Entgelt nicht unter den von der Beobachtungsstelle festzulegenden Mindestbetriebskosten liegen darf, einschließlich der monatlich für die verschiedenen Fahrzeugarten festgelegten durchschnittlichen Kraftstoffkosten pro zurückgelegtem Kilometer und des halbjährlich festgelegten, in Prozent ausgedrückten Anteils der gewerblichen Kraftstoffkosten an den Betriebskosten des gewerblichen Kraftverkehrsunternehmens.

6

Art. 83a Abs. 10 des Gesetzesdekrets Nr. 112/2008 sah Folgendes vor: „Solange die Festlegungen im Sinne der Abs. 1 und 2 [die die Tätigkeit der Beobachtungsstelle regelten] noch nicht verfügbar sind, erstellt das Ministero delle Infrastrutture e dei Trasporti [Ministerium für Infrastruktur und Verkehr] nach Anhörung der repräsentativsten Branchenverbände des Transportgewerbes und der Auftraggeber anhand der ihm vorliegenden Daten und der allmonatlichen Erhebungen des Ministero dello Sviluppo economico [Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung] über den durchschnittlichen Preis von Dieselkraftstoff Kostenindexe für die verschiedenen Fahrzeugarten und die zurückgelegten Kilometer. Diese Kostenindexe beinhalten die Kraftstoffkosten pro Kilometer und den entsprechenden Kostenanteil.“

7

In Art. 83a Abs. 11 hieß es: „Die Abs. 3 und 10 dieses Artikels gelten für die Änderungen der Dieselkraftstoffpreise, die ab dem 1. Januar 2009 oder ab der letzten nach diesem Zeitpunkt vorgenommenen Anpassung eintreten.“

8

Das Ministerium für Infrastruktur und Verkehr veröffentlichte daraufhin ab Juni 2009 allmonatlich die Daten über die durchschnittlichen Kraftstoffkosten, bis am 2. November 2011 die Tabellen der im Juli 2010 eingerichteten Beobachtungsstelle bekannt gemacht wurden.

9

Durch Art. 1 Abs. 248 des Gesetzes Nr. 190/2014, das am 1. Januar 2015 in Kraft trat, wurde Art. 83a des Gesetzesdekrets Nr. 112/2008 dahin gehend geändert, dass die Bestimmung des Entgelts nunmehr der Vertragsfreiheit der Parteien überlassen ist; diese Neufassung ist indessen in zeitlicher Hinsicht auf den vorliegenden Rechtsstreit nicht anwendbar.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10

Salumificio Murru wurde durch Mahnbescheid aufgefordert, den Betrag von 37136,27 Euro zuzüglich Verzugszinsen und Verfahrenskosten an das Unternehmen Autotrasporti di Marongiu Remigio zu zahlen. Dabei ging es um restliches Entgelt für Transporte, die aufgrund eines zwischen den beiden Unternehmen geschlossenen mündlichen Vertrags durchgeführt worden waren, insbesondere um die Differenz zwischen den gezahlten Beträgen und den Beträgen, die nach Art. 83a Abs. 6 bis 9 des Gesetzesdekrets Nr. 112/2008 geschuldet waren.

11

Salumificio Murru legte gegen diesen Mahnbescheid Widerspruch ein und erhob insbesondere den Einwand, dass die angeführte Vorschrift verfassungswidrig sei und gegen Unionsrecht verstoße. Autotrasporti di Marongiu Remigio beantragte, den Widerspruch zurückzuweisen.

12

In diesem Zusammenhang weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Gerichtshof mit Urteil vom 4. September 2014, API u. a. (C‑184/13 bis C‑187/13, C‑194/13, C‑195/13 und C‑208/13, EU:C:2014:2147), entschieden habe, dass Art. 101 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen sei, dass er einer nationalen Regelung wie der in den Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehe, nach der die Preise im gewerblichen Güterkraftverkehr nicht unter den Mindestbetriebskosten liegen dürften, die von einer Stelle festgelegt würden, die sich im Wesentlichen aus Vertretern der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer zusammensetze.

13

Das vorlegende Gericht hebt allerdings hervor, dass der Gerichtshof in diesem Urteil eine andere Situation beurteilt habe als diejenige, über die er nun erkennen müsse.

14

In der besagten Rechtssache sei es um Mindestbetriebskosten gegangen, die von der Beobachtungsstelle festgelegt worden seien, also von einer Stelle, die sich vor allem aus Vertretern der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer zusammensetze. Das Ausgangsverfahren betreffe dagegen Mindestkosten, die vom Ministerium für Infrastruktur und Verkehr festgelegt worden seien. Daher seien die Lehren aus dem Urteil vom 4. September 2014, API u. a. (C‑184/13 bis C‑187/13, C‑194/13, C‑195/13 und C‑208/13, EU:C:2014:2147), nicht auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung übertragbar.

15

In Anbetracht der Ausführungen in den Rn. 50 bis 57 des Urteils vom 4. September 2014, API u. a. (C‑184/13 bis C‑187/13, C‑194/13, C‑195/13 und C‑208/13, EU:C:2014:2147), fragt sich das vorlegende Gericht dennoch, ob eine solche Regelung nicht gegen die Pflicht der Mitgliedstaaten verstößt, keine Maßnahmen, auch nicht in Form von Gesetzen oder Verordnungen, zu treffen oder beizubehalten, die die praktische Wirksamkeit der für die Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln aufheben könnten.

16

Daher hat das Tribunale di Cagliari (Gericht Cagliari, Italien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 101 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen, dass er einer nationalen Rechtsvorschrift wie Art. 83a Abs. 10 des Gesetzesdekrets Nr. 112/2008 entgegensteht, soweit danach die Preise im gewerblichen Güterkraftverkehr nicht unter den vom Ministerium für Infrastruktur und Verkehr festgelegten Mindestbetriebskosten liegen dürfen und nicht der freien Entscheidung der Vertragsparteien unterliegen?

2.

Können die Wettbewerbsregeln im Binnenmarkt angesichts dessen, dass das Ministerium für Infrastruktur und Verkehr eine Behörde ist, durch eine nationale Vorschrift zum Zweck der Sicherheit des Straßenverkehrs eingeschränkt werden?

Zu den Vorlagefragen

17

Nach Art. 99 der Verfahrensordnung kann der Gerichtshof, wenn eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage mit einer Frage übereinstimmt, über die der Gerichtshof bereits entschieden hat, wenn die Antwort auf eine solche Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn die Beantwortung der zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt, auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.

18

Diese Bestimmung ist im Rahmen der vorliegenden Vorlage zur Vorabentscheidung anzuwenden.

19

Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 101 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach der die Preise im gewerblichen Güterkraftverkehr nicht unter den Mindestbetriebskosten liegen dürfen, die von einer nationalen Verwaltungsbehörde festgelegt werden.

20

Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs betrifft Art. 101 AEUV zwar nur das Verhalten von Unternehmen und nicht als Gesetz oder Verordnung ergangene Maßnahmen der Mitgliedstaaten, aber in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV, der eine Pflicht zur Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten begründet, verbietet er den Mitgliedstaaten, Maßnahmen, auch in Form von Gesetzen oder Verordnungen, zu treffen oder beizubehalten, die die praktische Wirksamkeit der für die Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln aufheben könnten (Urteil vom 4. September 2014, API u. a.,C‑184/13 bis C‑187/13, C‑194/13, C‑195/13 und C‑208/13, EU:C:2014:2147, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

21

Es liegt eine Verletzung von Art. 101 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV vor, wenn ein Mitgliedstaat gegen Art. 101 AEUV verstoßende Kartellabsprachen vorschreibt oder erleichtert oder die Auswirkungen solcher Absprachen verstärkt oder wenn er seiner eigenen Regelung dadurch ihren staatlichen Charakter nimmt, dass er die Verantwortung für in die Wirtschaft eingreifende Entscheidungen privaten Wirtschaftsteilnehmern überträgt (Urteil vom 4. September 2014, API u. a.,C‑184/13 bis C‑187/13, C‑194/13, C‑195/13 und C‑208/13, EU:C:2014:2147, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22

Im vorliegenden Fall steht fest, dass die in Art. 83a des Gesetzesdekrets Nr. 112/2008 genannten Mindestkosten nach Anhörung der repräsentativsten Branchenverbände des Transportgewerbes und der Auftraggeber vom Ministerium für Infrastruktur und Verkehr selbst festgelegt werden.

23

Angesichts dieser Art und Weise der Festlegung ist es eindeutig, dass der Mitgliedstaat seiner eigenen Regelung keineswegs ihren staatlichen Charakter genommen hat, indem er die Verantwortung für in die Wirtschaft eingreifende Entscheidungen privaten Wirtschaftsteilnehmern übertragen hat.

24

Eine solche Schlussfolgerung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die in Art. 83a des Gesetzesdekrets Nr. 112/2008 genannten Mindestkosten nach Anhörung der repräsentativsten Branchenverbände des Transportgewerbes und der Auftraggeber festgelegt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. September 2014, API u. a.,C‑184/13 bis C‑187/13, C‑194/13, C‑195/13 und C‑208/13, EU:C:2014:2147, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25

Angesichts dessen, dass die in Art. 83a des Gesetzesdekrets Nr. 112/2008 genannten Mindestkosten vom Ministerium für Infrastruktur und Verkehr festgelegt werden, kann auch nicht angenommen werden, dass eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche auf das Bestehen einer Kartellabsprache im Sinne von Art. 101 AEUV schließen lässt, die die öffentlichen Stellen vorgeschrieben oder erleichtert hätten oder deren Auswirkungen sie verstärkt hätten.

26

Insofern unterscheidet sich der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens von demjenigen, der dem Urteil vom 4. September 2014, API u. a. (C‑184/13 bis C‑187/13, C‑194/13, C‑195/13 und C‑208/13, EU:C:2014:2147), zugrunde lag, in dessen Rn. 41 der Gerichtshof festgestellt hat, dass die Beobachtungsstelle als eine Unternehmensvereinigung im Sinne von Art. 101 AEUV anzusehen ist, wenn sie Entscheidungen zur Bestimmung der Mindestbetriebskosten beim Straßentransport erlässt.

27

Somit besteht im vorliegenden Fall keine Veranlassung zur Prüfung, ob eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche Wettbewerbsbeschränkungen auferlegt, die tatsächlich notwendig sind, um die Umsetzung legitimer Zwecke sicherzustellen.

28

Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 101 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, nach der die Preise im gewerblichen Güterkraftverkehr nicht unter den Mindestbetriebskosten liegen dürfen, die von einer nationalen Verwaltungsbehörde festgelegt werden, nicht entgegensteht.

Kosten

29

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 101 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, nach der die Preise im gewerblichen Güterkraftverkehr nicht unter den Mindestbetriebskosten liegen dürfen, die von einer nationalen Verwaltungsbehörde festgelegt werden, nicht entgegensteht.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.

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