Urteil vom Europäischer Gerichtshof - C-123/15

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

30. Juni 2016 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Steuerwesen — Freier Kapitalverkehr — Erbschaftsteuer — Regelung eines Mitgliedstaats, die eine Ermäßigung der Erbschaftsteuer für einen Nachlass vorsieht, der Vermögen enthält, das bereits im selben Mitgliedstaat unter Erhebung dieser Steuer übertragen wurde — Beschränkung — Rechtfertigung — Kohärenz des Steuersystems“

In der Rechtssache C‑123/15

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidung vom 20. Januar 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 12. März 2015, in dem Verfahren

Max-Heinz Feilen

gegen

Finanzamt Fulda

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, der Richterin C. Toader, des Richters A. Rosas, der Richterin A. Prechal und des Richters E. Jarašiūnas (Berichterstatter),

Generalanwalt: M. Wathelet,

Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. Januar 2016,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn M. Feilen, vertreten durch Rechtsanwalt P. Thouet,

der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze als Bevollmächtigten,

der spanischen Regierung, vertreten durch A. Rubio González als Bevollmächtigten,

der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Sutton und M. Holt als Bevollmächtigte im Beistand von R. Hill, Barrister,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wasmeier und W. Roels als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. März 2016

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 63 Abs. 1 und Art. 65 AEUV.

2

Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen Herrn Max-Heinz Feilen und dem Finanzamt Fulda (Deutschland) wegen dessen Weigerung, Herrn Feilen eine Ermäßigung der Erbschaftsteuer für den Nachlass seiner Mutter zu gewähren.

Rechtlicher Rahmen

3

Nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes (ErbStG) in der für das Steuerjahr 2007 geltenden Fassung unterliegt der Erwerb von Todes wegen der Erbschaftsteuer.

4

§ 2 Abs. 1 Nrn. 1 bis 3 ErbStG sieht vor:

„Die Steuerpflicht tritt ein

1.

in den Fällen des § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 3, wenn der Erblasser zur Zeit seines Todes … oder der Erwerber zur Zeit der Entstehung der Steuer … ein Inländer ist, für den gesamten Vermögensanfall. Als Inländer gelten

a)

natürliche Personen, die im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben,

3.

in allen anderen Fällen für den Vermögensanfall, der in Inlandsvermögen im Sinne des § 121 des Bewertungsgesetzes besteht. …“

5

§ 15 ErbStG, der die Steuerklassen definiert, bestimmt in Abs. 1:

„Nach dem persönlichen Verhältnis des Erwerbers zum Erblasser oder Schenker werden die folgenden drei Steuerklassen unterschieden:

Steuerklasse I:

1.

der Ehegatte und der Lebenspartner,

2.

die Kinder und Stiefkinder,

3.

die Abkömmlinge der in Nummer 2 genannten Kinder und Stiefkinder,

4.

die Eltern und Voreltern bei Erwerben von Todes wegen;

…“

6

§ 27 ErbStG regelt die Ermäßigung der Erbschaftsteuer wie folgt:

„(1)   Fällt Personen der Steuerklasse I von Todes wegen Vermögen an, das in den letzten zehn Jahren vor dem Erwerb bereits von Personen dieser Steuerklasse erworben worden ist und für das nach diesem Gesetz eine Steuer zu erheben war, ermäßigt sich der auf dieses Vermögen entfallende Steuerbetrag vorbehaltlich des Absatzes 3 wie folgt:

um … vom Hundert

wenn zwischen den beiden Zeitpunkten der Entstehung der Steuer liegen

50

45

40

35

30

25

20

10

nicht mehr als 1 Jahr

mehr als 1 Jahr, aber nicht mehr als 2 Jahre

mehr als 2 Jahre, aber nicht mehr als 3 Jahre

mehr als 3 Jahre, aber nicht mehr als 4 Jahre

mehr als 4 Jahre, aber nicht mehr als 5 Jahre

mehr als 5 Jahre, aber nicht mehr als 6 Jahre

mehr als 6 Jahre, aber nicht mehr als 8 Jahre

mehr als 8 Jahre, aber nicht mehr als 10 Jahre

(3)   Die Ermäßigung nach Absatz 1 darf den Betrag nicht überschreiten, der sich bei Anwendung der in Absatz 1 genannten Vomhundertsätze auf die Steuer ergibt, die der Vorerwerber für den Erwerb desselben Vermögens entrichtet hat.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

7

Herr Feilen, der in Deutschland wohnt, ist Alleinerbe seiner im Jahr 2007 in diesem Mitgliedstaat verstorbenen Mutter, die dort ihren letzten Wohnsitz hatte. Der Nachlass der Mutter bestand im Wesentlichen aus ihrem Anteil am Nachlass ihrer im Jahr 2004 in Österreich verstorbenen Tochter, wo auch die Mutter bis zum Tod ihrer Tochter gewohnt hatte. Da der Nachlass der Tochter in Österreich erst nach dem Tod der Mutter verteilt wurde, wurden die für diesen Nachlass anfallenden Steuern in Höhe von 11961,91 Euro von Herrn Feilen entrichtet.

8

In der Erbschaftsteuererklärung für den Nachlass seiner Mutter machte Herr Feilen zum einen die von ihm in Österreich gezahlte Erbschaftsteuer als Nachlassverbindlichkeit geltend und beantragte zum anderen nach § 27 ErbStG eine Ermäßigung der Erbschaftsteuer. Das Finanzamt Fulda zog in seinem Bescheid vom 28. Oktober 2009 die in Österreich entrichtete Erbschaftsteuer als Nachlassverbindlichkeit von der Steuerbemessungsgrundlage ab, lehnte aber die Gewährung der Steuerermäßigung ab.

9

Das Finanzgericht (Deutschland) wies die von Herrn Feilen gegen diesen Bescheid eingereichte Klage mit der Begründung ab, dass § 27 Abs. 1 ErbStG einen nach diesem Gesetz besteuerten Vorerwerb von Todes wegen voraussetze. Ein solcher liege in diesem Fall nicht vor, weil der Vorerwerb des Vermögens der Tochter durch die Mutter nicht der deutschen Erbschaftsteuer unterlegen habe, da weder die Mutter noch die Tochter zur Zeit des Todes der Tochter Inländer im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG gewesen seien und der Nachlass kein inländisches Vermögen im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 3 ErbStG umfasst habe.

10

Der Bundesfinanzhof (Deutschland), bei dem die Revision anhängig ist, hegt Zweifel an der Vereinbarkeit von § 27 ErbStG mit dem Unionsrecht.

11

Er stellt erstens fest, dass die Erbschaft des Klägers des Ausgangsverfahrens unter die unionsrechtlichen Bestimmungen über den Kapitalverkehr fallen könnte. Die Erbschaft, die Herr Feilen von seiner Mutter gemacht habe, dürfe nicht als rein innerstaatlicher Sachverhalt angesehen werden, da das Vermögen der Mutter im Wesentlichen aus deren Anteil am Nachlass ihrer Tochter in Österreich bestehe.

12

Zweitens weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Versagung einer Ermäßigung der Erbschaftsteuer gemäß § 27 Abs. 1 ErbStG nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Beschränkung des Kapitalverkehrs darstellen könne, denn sie bewirke eine Wertminderung des Nachlasses, der durch ausländische Erbschaftsteuer belastetes Vermögen enthalte. Insoweit hegt es Zweifel, ob im Hinblick auf das Urteil des Gerichtshofs vom 12. Februar 2009, Block (C‑67/08, EU:C:2009:92), eine solche Beschränkung ausgeschlossen werden kann.

13

Drittens ist das vorlegende Gericht unschlüssig, ob die sich aus § 27 Abs. 1 ErbStG möglicherweise ergebende Beschränkung des freien Kapitalverkehrs nach den Bestimmungen des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union gerechtfertigt wäre.

14

Unter diesen Umständen hat der Bundesfinanzhof das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Steht die Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 63 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 65 AEUV der Regelung eines Mitgliedstaats entgegen, die bei einem Erwerb von Todes wegen durch Personen einer bestimmten Steuerklasse eine Ermäßigung der Erbschaftsteuer vorsieht, wenn der Nachlass Vermögen enthält, das in den letzten zehn Jahren vor dem Erwerb bereits von Personen dieser Steuerklasse erworben worden ist, und für diesen Vorerwerb Erbschaftsteuer in dem Mitgliedstaat festgesetzt wurde, während eine Steuerermäßigung ausscheidet, wenn für den Vorerwerb Erbschaftsteuer in einem anderen Mitgliedstaat erhoben wurde?

Zur Vorlagefrage

15

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 63 Abs. 1 und Art. 65 AEUV einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, die bei einem Erwerb von Todes wegen durch Personen einer bestimmten Steuerklasse eine Ermäßigung der Erbschaftsteuer vorsieht, wenn der Nachlass Vermögen enthält, das in den letzten zehn Jahren vor dem Erwerb bereits von Todes wegen erworben wurde, und hierfür die Voraussetzung aufstellt, dass für diesen Vorerwerb Erbschaftsteuer in diesem Mitgliedstaat erhoben wurde.

16

Wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, handelt es sich bei Erbschaften, mit denen das Vermögen eines Erblassers auf eine oder mehrere Personen übergeht, mit Ausnahme der Fälle, die mit keinem ihrer wesentlichen Elemente über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen, nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs um Kapitalverkehr im Sinne von Art. 63 AEUV (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. Februar 2006, van Hilten-van der Heijden, C‑513/03, EU:C:2006:131, Rn. 39 bis 42, vom 17. Januar 2008, Jäger, C‑256/06, EU:C:2008:20, Rn. 24 und 25, vom 17. Oktober 2013, Welte, C‑181/12, EU:C:2013:662, Rn. 19 und 20, sowie vom 3. September 2014, Kommission/Spanien, C‑127/12, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2130, Rn. 52 und 53).

17

Der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Nachlass enthält jedoch Vermögen aus einem Erbanfall zwischen der Schwester und der Mutter von Herrn Feilen in Österreich, wo dieses Vermögen damals belegen war und die Mutter und die Schwester zur Zeit des Todes der Schwester wohnten. Aufgrund dieses grenzüberschreitenden Bezugs wurde Herrn Feilen die in § 27 ErbStG vorgesehene Steuerermäßigung versagt. Da ein solcher Sachverhalt nicht als ein rein innerstaatlicher Sachverhalt angesehen werden kann, stellt die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Erbschaft einen Vorgang dar, der unter den Kapitalverkehr im Sinne von Art. 63 Abs. 1 AEUV fällt.

18

Daher ist zu prüfen, ob eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche eine Beschränkung des Kapitalverkehrs im Sinne von Art. 63 Abs. 1 AEUV darstellt und, wenn ja, ob eine solche Beschränkung gerechtfertigt ist.

Zum Vorliegen einer Beschränkung des Kapitalverkehrs

19

Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die Regelung eines Mitgliedstaats, nach der die Anwendung einer Steuervergünstigung im Erbrecht, beispielsweise ein Freibetrag auf die Bemessungsgrundlage, vom Wohnsitz des Erblassers und des Erwerbers oder der Belegenheit des zum Nachlass gehörenden Vermögens abhängig gemacht wird, eine durch Art. 63 Abs. 1 AEUV verbotene Beschränkung des freien Kapitalverkehrs darstellt, wenn sie dazu führt, dass Erwerbe von Todes wegen, an denen Gebietsfremde beteiligt oder von denen Vermögensgegenstände in einem anderen Mitgliedstaat erfasst sind, einer höheren Besteuerung unterliegen als Erwerbe, an denen nur Gebietsansässige beteiligt oder von denen nur Vermögensgegenstände im Mitgliedstaat der Besteuerung erfasst sind, und daher eine Wertminderung des Nachlasses bewirkt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Januar 2008, Jäger, C‑256/06, EU:C:2008:20, Rn. 30 bis 35, vom 17. Oktober 2013, Welte, C‑181/12, EU:C:2013:662, Rn. 23 bis 26, vom 3. September 2014, Kommission/Spanien, C‑127/12, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2130, Rn. 57 bis 60, und vom 4. September 2014, Kommission/Deutschland, C‑211/13, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2148, Rn. 40 bis 43).

20

Im vorliegenden Fall sieht § 27 Abs. 1 ErbStG vor, dass eine Steuerermäßigung für einen Erwerb von Vermögen von Todes wegen durch Personen der Steuerklasse I zu gewähren ist, wenn dieses Vermögen in den letzten zehn Jahren vor dem Erwerb bereits von Personen dieser Steuerklasse erworben worden ist und für den Vorerwerb Erbschaftsteuer in Deutschland zu erheben war. Da nach § 2 ErbStG eine solche Steuer erhoben wird, wenn der Erblasser zur Zeit seines Todes oder der Erwerber zur Zeit der Erhebung der Steuer seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat oder wenn die Vermögensgegenstände aus „Inlandsvermögen“ bestehen, wird die Ermäßigung der Erbschaftsteuer unter der Voraussetzung gewährt, dass sich das betreffende Vermögen bei dem Vorerwerb in Deutschland befand oder, wenn es im Ausland belegen war, mindestens einer der an diesem Erwerb Beteiligten in Deutschland wohnte.

21

Nach dieser Regelung wird folglich der Vorteil der Ermäßigung der Erbschaftsteuer vom Ort der Belegenheit der zum Nachlass gehörenden Vermögensgegenstände beim Vorerwerb von Todes wegen und vom Wohnsitz des Erblassers oder des Erben bei diesem Vorerwerb abhängig gemacht. Sie hat zur Folge, dass ein Nachlass, der Vermögensgegenstände enthält, die bei einem Vorerwerb von Todes wegen, bei dem keiner der Beteiligten seinen Wohnsitz in Deutschland hatte, in einem anderen Mitgliedstaat belegen waren, einer höheren Erbschaftsteuer unterliegt als ein Nachlass, der nur Vermögensgegenstände enthält, die bei einem Vorerwerb von Todes wegen in Deutschland belegen waren, oder aber in einem anderen Mitgliedstaat belegene Vermögensgegenstände, bei deren Vorerwerb von Todes wegen mindestens einer der Beteiligten in Deutschland wohnte. Diese Regelung bewirkt somit, wie vom vorlegenden Gericht festgestellt worden ist, eine Wertminderung des Nachlasses.

22

Eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche stellt folglich eine Beschränkung des Kapitalverkehrs im Sinne von Art. 63 Abs. 1 AEUV dar.

23

Da das vorlegende Gericht Bedenken hat, dass das Urteil vom 12. Februar 2009, Block (C‑67/08, EU:C:2009:92), diesem Schluss entgegenstehen könnte, ist anzumerken, dass der Fall des Ausgangsverfahrens im Unterschied zu dem in diesem Urteil geprüften Sachverhalt keine Doppelbesteuerung von Teilen desselben Nachlasses durch zwei verschiedene Mitgliedstaaten, sondern die steuerliche Behandlung eines Nachlasses durch nur einen Mitgliedstaat betrifft, die unterschiedlich ausfällt, je nachdem, ob dieser Vermögen enthält, das bereits im selben Mitgliedstaat bei einem Vorerwerb von Todes wegen besteuert wurde, oder nicht.

Zur Rechtfertigung einer Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit

24

Was eine mögliche Rechtfertigung gemäß Art. 65 AEUV betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass nach Abs. 1 Buchst. a dieses Artikels Art. 63 AEUV „nicht das Recht der Mitgliedstaaten [berührt], … die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln“.

25

Diese Bestimmung in Art. 65 AEUV ist, da sie eine Ausnahme vom Grundprinzip des freien Kapitalverkehrs darstellt, eng auszulegen. Sie kann somit nicht dahin verstanden werden, dass jede Steuerregelung, die zwischen Steuerpflichtigen nach ihrem Wohnort oder nach dem Mitgliedstaat ihrer Kapitalanlage unterscheidet, ohne Weiteres mit dem Vertrag vereinbar wäre. Die in Art. 65 Abs. 1 Buchst. a AEUV vorgesehene Ausnahme wird nämlich ihrerseits durch Abs. 3 dieses Artikels eingeschränkt, wonach die in Art. 65 Abs. 1 AEUV genannten nationalen Vorschriften „weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des freien Kapital- und Zahlungsverkehrs im Sinne des Art. 63 [AEUV] darstellen [dürfen]“ (Urteil vom 4. September 2014, Kommission/Deutschland, C‑211/13, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2148, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26

Deshalb ist zwischen den nach Art. 65 Abs. 1 Buchst. a AEUV zulässigen Ungleichbehandlungen und den nach Art. 65 Abs. 3 AEUV verbotenen willkürlichen Diskriminierungen zu unterscheiden. Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass eine nationale Steuerregelung, die zur Berechnung der Erbschaft- oder Schenkungsteuer eine Unterscheidung zwischen Gebietsansässigen und Gebietsfremden oder zwischen Vermögensgegenständen im Hoheitsgebiet und solchen außerhalb des Hoheitsgebiets vornimmt, nur dann als mit den Bestimmungen des Vertrags über den freien Kapitalverkehr vereinbar angesehen werden kann, wenn sie Situationen betrifft, die nicht objektiv miteinander vergleichbar sind, oder durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist (Urteil vom 3. September 2014, Kommission/Spanien, C‑127/12, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2130, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27

Was die Vergleichbarkeit der in Rede stehenden Situationen betrifft, ist unstreitig, dass die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung für die Zwecke der Erbschaftsteuer gebietsansässige Personen der Steuerklasse I, denen von Todes wegen Vermögen anfällt, das Vermögensgegenstände enthält, die in den letzten zehn Jahren vor diesem Erwerb bereits von Personen dieser Steuerklasse von Todes wegen erworben worden sind, unabhängig von der Belegenheit dieser Vermögensgegenstände oder dem Wohnsitz der Beteiligten bei diesem Vorerwerb in gleicher Weise behandelt. Nur für die Anwendung der Ermäßigung der Erbschaftsteuer nach § 27 Abs. 1 ErbStG behandelt die Regelung diese Personen unterschiedlich, je nachdem, ob die fraglichen Vermögensgegenstände sich bei dem Vorerwerb im nationalen Hoheitsgebiet befunden haben und ob die Beteiligten in diesem Gebiet wohnten (vgl. in diesem Zusammenhang Urteil vom 17. Oktober 2013, Welte, C‑181/12, EU:C:2013:662, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28

Die unterschiedliche Behandlung durch die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung betrifft somit Situationen, die objektiv vergleichbar sind.

29

Es ist daher zu prüfen, ob eine solche Regelung durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses wie der Notwendigkeit der Wahrung der Kohärenz des Steuersystems, die vom vorlegenden Gericht angesprochen worden ist und von der deutschen Regierung geltend gemacht wird, objektiv gerechtfertigt sein kann.

30

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits anerkannt hat, dass die Notwendigkeit, die Kohärenz eines Steuersystems zu wahren, eine Beschränkung der Ausübung der vom Vertrag gewährleisteten Grundfreiheiten rechtfertigen kann. Jedoch ist eine solche Rechtfertigung nur zulässig, wenn ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem betreffenden steuerlichen Vorteil und dessen Ausgleich durch eine bestimmte steuerliche Belastung dargetan ist, wobei die Unmittelbarkeit dieses Zusammenhangs anhand des Ziels der fraglichen Regelung beurteilt werden muss (Urteil vom 17. Oktober 2013, Welte, C‑181/12, EU:C:2013:662, Rn. 59, und vom 7. November 2013, K, C‑322/11, EU:C:2013:716, Rn. 65 und 66 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

31

Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht die Ansicht vertreten, dass der mit der Ermäßigung der Erbschaftsteuer nach § 27 Abs. 1 ErbStG verbundene Vorteil unmittelbar damit zusammenhänge, dass schon für den Vorerwerb desselben Vermögens von Todes wegen Erbschaftsteuer erhoben worden sei. Das Ziel dieser Bestimmung bestehe darin, bei mehrmaligem Übergang desselben Vermögens innerhalb von zehn Jahren auf Personen der Steuerklasse I, die auf dieses Vermögen entfallende Erbschaftsteuer, soweit das Vermögen beim Vorerwerber der Besteuerung unterlegen habe, bis höchstens 50 % zu ermäßigen.

32

Die deutsche Regierung teilt diese Beurteilung im Wesentlichen und weist darauf hin, dass § 27 ErbStG auf dem Gedanken beruhe, dass Vermögen unter nahen Verwandten im Generationenwechsel übertragen werde und dass eine erneute Besteuerung desselben Vermögens, wenn dieses bereits in jüngerer Zeit besteuert worden sei, in gewissem Umfang unangemessen sei. Die Vorschrift solle Doppelbesteuerung desselben Vermögens innerhalb kurzer Zeit teilweise verhindern, indem auf die Erhebung eines Teils der Erbschaftsteuer verzichtet werde, wenn eine solche Steuer bei einem früheren Erwerb von Todes wegen innerhalb der in dieser Vorschrift vorgesehenen Frist in Deutschland erhoben worden sei. Die Vorenthaltung der Ermäßigung dieser Steuer bei einem Vorerwerb, der nur im Ausland besteuert worden sei, hänge objektiv damit zusammen, dass die Bundesrepublik Deutschland diesen Erwerb nicht habe besteuern und die entsprechenden Steuereinnahmen nicht habe erzielen können.

33

Diese Gesichtspunkte lassen erkennen, dass die Ausgestaltung der fraglichen Steuervergünstigung dahin, dass die Ermäßigung der Erbschaftsteuer nur Personen zugutekommt, denen von Todes wegen Vermögen anfällt, für das bei einem vorherigen Erbanfall eine solche Steuer in Deutschland erhoben wurde, einer spiegelbildlichen Logik folgt (vgl. Urteile vom 1. Dezember 2011, Kommission/Belgien, C‑250/08, EU:C:2011:793, Rn. 73, und Kommission/Ungarn, C‑253/09, EU:C:2011:795, Rn. 74). Diese Logik wäre gestört, wenn dieser Steuervorteil auch Personen zugutekäme, die Vermögen erben, für das in diesem Mitgliedstaat keine Erbschaftsteuer erhoben wurde.

34

Folglich besteht in dieser Regelung der Erbschaftsteuerbefreiung ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem fraglichen Steuervorteil und der früheren Besteuerung.

35

Der Gerichtshof hat zwar in Rechtssachen, die nicht in den Bereich der Erbschaftsteuer fielen, entschieden, dass es an einem solchen unmittelbaren Zusammenhang dann fehlt, wenn es um verschiedene Steuern oder die steuerliche Behandlung verschiedener Steuerpflichtiger geht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. September 2003, Bosal, C‑168/01, EU:C:2003:479, Rn. 30, und vom 24. Februar 2015, Grünewald, C‑559/13, EU:C:2015:109, Rn. 49).

36

In einer besonderen Fallgestaltung wie der des § 27 ErbStG kann die Voraussetzung, dass es sich um denselben Steuerpflichtigen handeln muss, jedoch nicht gelten, da die Person, die die Erbschaftsteuer bei dem früheren Erwerb von Todes wegen entrichtet hat, zwangsläufig verstorben ist.

37

Darüber hinaus besteht, wie sich aus den Rn. 31 und 32 des vorliegenden Urteils ergibt, das mit § 27 ErbStG verfolgte Ziel darin, in gewissem Umfang die Steuerbelastung eines Nachlasses, der Vermögen enthält, das unter nahen Verwandten übertragen wird, und der bereits früher besteuert wurde, dadurch zu senken, dass die Doppelbesteuerung dieses Vermögens innerhalb kurzer Zeit in Deutschland teilweise vermieden wird. In Bezug auf dieses Ziel besteht, wie der Generalanwalt in Nr. 71 seiner Schlussanträge festgestellt hat, zwischen der in dieser Vorschrift vorgesehenen Ermäßigung der Erbschaftsteuer und der früheren Erhebung der Erbschaftsteuer ein unmittelbarer Zusammenhang, da dieser Steuervorteil und diese frühere Besteuerung dieselbe Steuer, dasselbe Vermögen und die nahen Verwandten derselben Familie betreffen.

38

Es ist daher festzustellen, dass die Notwendigkeit, die Kohärenz des Steuersystems zu wahren, eine Beschränkung des Kapitalverkehrs, die sich aus einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen ergibt, rechtfertigen kann.

39

Allerdings setzt die Rechtfertigung einer solchen Beschränkung weiter voraus, dass diese zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet und im Hinblick darauf verhältnismäßig sein muss (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 1. Dezember 2011, Kommission/Belgien, C‑250/08, EU:C:2011:793, Rn. 78, und Kommission/Ungarn, C‑253/09, EU:C:2011:795, Rn. 79).

40

Insoweit ist festzustellen, dass eine Ermäßigung der Erbschaftsteuer, die prozentual nach dem Zeitraum zwischen den beiden Zeitpunkten der Entstehung der Steuerpflicht berechnet wird und an die Bedingung geknüpft ist, dass für das Vermögen diese Steuer in den letzten zehn Jahren in Deutschland bereits erhoben wurde, zur Erreichung des in Rn. 37 des vorliegenden Urteils beschriebenen Ziels von § 27 ErbStG geeignet erscheint. Ferner ist diese Ermäßigung in Bezug auf dieses Ziel auch verhältnismäßig, weil die Bundesrepublik Deutschland keine Besteuerungsbefugnis für den Vorerwerb von Todes wegen hatte. Unter diesen Umständen erscheint es in Bezug auf das genannte Ziel verhältnismäßig, die Ermäßigung nur in den Fällen zu gewähren, in denen dieses Vermögen in Deutschland besteuert wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Dezember 2011, Kommission/Ungarn, C‑253/09, EU:C:2011:795, Rn. 80 und 81).

41

Die Beschränkung des Kapitalverkehrs, die sich aus einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen ergibt, ist daher durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, die Kohärenz des Steuersystems zu wahren.

42

Daher ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 63 Abs. 1 und Art. 65 AEUV nicht der Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, die bei einem Erwerb von Todes wegen durch Personen einer bestimmten Steuerklasse eine Ermäßigung der Erbschaftsteuer vorsieht, wenn der Nachlass Vermögen enthält, das in den letzten zehn Jahren vor dem Erwerb bereits von Todes wegen erworben wurde, und hierfür die Voraussetzung aufstellt, dass für diesen Vorerwerb Erbschaftsteuer in diesem Mitgliedstaat erhoben wurde.

Kosten

43

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 63 Abs. 1 und Art. 65 AEUV stehen nicht einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegen, die bei einem Erwerb von Todes wegen durch Personen einer bestimmten Steuerklasse eine Ermäßigung der Erbschaftsteuer vorsieht, wenn der Nachlass Vermögen enthält, das in den letzten zehn Jahren vor dem Erwerb bereits von Todes wegen erworben wurde, und hierfür die Voraussetzung aufstellt, dass für diesen Vorerwerb Erbschaftsteuer in diesem Mitgliedstaat erhoben wurde.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.

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Referenzen

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