Urteil vom Europäischer Gerichtshof - C-134/15

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

30. Juni 2016 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Verordnung (EG) Nr. 543/2008 — Landwirtschaft — Gemeinsame Marktorganisation — Vermarktungsnormen — Frisches Geflügelfleisch in Fertigpackungen — Verpflichtung zur Angabe des Gesamtpreises und des Preises je Gewichtseinheit auf der Verpackung oder auf einem daran befestigten Etikett — Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Art. 16 — Unternehmerische Freiheit — Verhältnismäßigkeit — Art. 40 Abs. 2 Unterabs. 2 AEUV — Nichtdiskriminierung“

In der Rechtssache C‑134/15

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sächsischen Oberverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 24. Februar 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 19. März 2015, in dem Verfahren

Lidl GmbH & Co. KG

gegen

Freistaat Sachsen

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin), des Richters A. Rosas, der Richterin A. Prechal und des Richters E. Jarašiūnas,

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Januar 2016,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Lidl GmbH & Co. KG, vertreten durch Rechtsanwälte A. Pitzer und M. Grube,

des Freistaats Sachsen, vertreten durch I. Gruhne als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch B. Schima und K. Skelly als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. März 2016

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit von Art. 5 Abs. 4 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 543/2008 der Kommission vom 16. Juni 2008 mit Durchführungsvorschriften zur Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 des Rates hinsichtlich der Vermarktungsnormen für Geflügelfleisch (ABl. 2008, L 157, S. 46).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Lidl GmbH & Co. KG (im Folgenden: Lidl), einem Einzelhandelsunternehmen, und dem Freistaat Sachsen (Deutschland) wegen der in dieser Vorschrift vorgesehenen Verpflichtung, beim Verkauf von frischem Geflügelfleisch in Fertigpackungen im Einzelhandel auf der Verpackung oder auf einem daran befestigten Etikett den Gesamtpreis und den Preis je Gewichtseinheit anzubringen (im Folgenden: Etikettierungspflicht).

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Art. 39 AEUV beschreibt die Ziele der gemeinsamen Agrarpolitik. Um diese Ziele zu erreichen, können nach Art. 41 Buchst. b AEUV u. a. gemeinsame Maßnahmen zur Förderung des Verbrauchs bestimmter Erzeugnisse vorgesehen werden.

4

Art. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 2777/75 des Rates vom 29. Oktober 1975 über die gemeinsame Marktorganisation für Geflügelfleisch (ABl. 1975, L 282, S. 77) bestimmte, dass insbesondere zur Förderung der Vermarktung bestimmter Erzeugnisse oder zur Verbesserung ihrer Qualität gemeinschaftliche Maßnahmen getroffen werden konnten. Vermarktungsnormen konnten u. a. die Verpackung, die Aufmachung und die Kennzeichnung betreffen.

5

Die Verordnung (EWG) Nr. 1906/90 des Rates vom 26. Juni 1990 über Vermarktungsnormen für Geflügelfleisch (ABl. 1990, L 173, S. 1) führte besondere Vorschriften im Bereich der Etikettierung ein, darunter die Verpflichtung, im Einzelhandel bei frischem Geflügelfleisch in Fertigpackungen auf der Verpackung oder auf einem daran befestigten Etikett den Gesamtpreis und den Preis je Gewichtseinheit anzubringen.

6

Der zweite Erwägungsgrund dieser Verordnung lautete:

„Solche Normen können zur Verbesserung der Geflügelfleischqualität beitragen und insofern den Verkauf dieses Fleisches fördern. Es liegt also im Interesse der Erzeuger, des Handels und der Verbraucher, dass für Geflügelfleisch zum menschlichen Verzehr Vermarktungsnormen verwendet werden.“

7

In Art. 5 Abs. 3 Buchst. b dieser Verordnung hieß es:

„Bei Geflügelfleisch in Fertigpackungen sind auf der Verpackung oder auf einem daran befestigten Etikett folgende Angaben anzubringen:

b)

bei frischem Geflügelfleisch Gesamtpreis und Preis je Gewichtseinheit auf der Einzelhandelsstufe“.

8

Die Verordnung Nr. 2777/75 wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 des Rates vom 22. Oktober 2007 über eine gemeinsame Organisation der Agrarmärkte und mit Sondervorschriften für bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse (Verordnung über die einheitliche GMO) (ABl. 2007, L 299, S. 1) aufgehoben. Diese Verordnung vereint die 21 gemeinsamen Marktorganisationen für verschiedene Erzeugnisse oder Gruppen von Erzeugnissen in einem einheitlichen Rahmen. Wie aus ihrem siebten Erwägungsgrund hervorgeht, sollte die durch die Verordnung erfolgte „Vereinfachung … nicht dazu führen, dass die politischen Entscheidungen, die im Laufe der Jahre in der [gemeinsamen Agrarpolitik] getroffen worden sind, in Frage gestellt werden“. Der zehnte Erwägungsgrund dieser Verordnung unterstreicht das Ziel, die Märkte zu stabilisieren und der landwirtschaftlichen Bevölkerung durch verschiedene Interventionsinstrumente einen angemessenen Lebensstandard zu sichern, wobei den unterschiedlichen Bedürfnissen in den einzelnen Sektoren und der wechselseitigen Abhängigkeit zwischen den verschiedenen Sektoren Rechnung getragen wurde.

9

In Bezug auf Geflügelfleisch ermächtigt Art. 121 Buchst. e Ziff. iv der Verordnung Nr. 1234/2007 die Europäische Kommission, „Bestimmungen zu den zusätzlichen Angaben in den begleitenden Warenpapieren, zu Etikettierung und Aufmachung von für den Endverbraucher bestimmtem Geflügelfleisch sowie die Werbung hierfür, sowie Angaben über die Verkehrsbezeichnung im Sinne von Artikel 3 Absatz 1 Nummer 1 der Richtlinie 2000/13/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. März 2000 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür (ABl. 2000, L 109, S. 29)]“ festzulegen.

10

Laut den Erwägungsgründen 1 bis 3 der Verordnung Nr. 543/2008 wurden, weil „[b]estimmte Vorschriften und Auflagen der Verordnung … Nr. 1906/90 … nicht in die Verordnung … Nr. 1234/2007 übernommen [worden waren]“, entsprechende Vorschriften im Rahmen der Verordnung Nr. 543/2008 beschlossen, „um die Kontinuität und das ordnungsgemäße Funktionieren der gemeinsamen Marktordnung und insbesondere der Vermarktungsnormen zu gewährleisten“.

11

Der zehnte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 543/2008 lautet:

„Um den Verbraucher ausreichend, unmissverständlich und objektiv über die zum Verkauf angebotenen Erzeugnisse zu informieren und den gemeinschaftsweit freien Verkehr dieser Erzeugnisse zu gewährleisten, sollte sichergestellt werden, dass die Vermarktungsnormen für Geflügelfleisch den Vorschriften der Richtlinie 76/211/EWG des Rates vom 20. Januar 1976 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Abfüllung bestimmter Erzeugnisse nach Gewicht oder Volumen in Fertigpackungen [(ABl. 1976, L 46, S. 1)] so weit wie möglich Rechnung tragen.“

12

Art. 5 Abs. 4 Buchst. b dieser Verordnung hat den gleichen Wortlaut wie Art. 5 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1906/90.

13

Obwohl die Verordnung Nr. 1234/2007 ihrerseits durch die Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 922/72, (EWG) Nr. 234/79, (EG) Nr. 1037/2001 und (EG) Nr. 1234/2007 des Rates (ABl. 2013, L 347, S. 641) aufgehoben wurde, gelten ihre Bestimmungen über die Vermarktungsnormen für Erzeugnisse der Sektoren Eier und Geflügelfleisch gemäß Art. 230 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1308/2013 weiterhin bis zum Tag der Anwendung der entsprechenden Vermarktungsregeln, die mittels delegierter Rechtsakte festgelegt werden.

Deutsches Recht

14

§ 3 Abs. 2 Nr. 6 der Verordnung über Vermarktungsnormen für Geflügelfleisch vom 22. März 2013 (BGBl. I S. 624) sieht vor:

„Es ist verboten, … Geflügelfleisch zum Verkauf vorrätig zu halten, feilzuhalten, zu liefern, zu verkaufen oder sonst in den Verkehr zu bringen, ohne die nach Artikel 5 Absatz 4 der Verordnung (EG) Nr. 543/2008 genannten Angaben richtig und vollständig zu machen“.

15

§ 9 Abs. 3 Nr. 1 dieser Verordnung lautet:

„Ordnungswidrig im Sinne des § 7 Absatz 1 Nummer 3 des Handelsklassengesetzes handelt, wer … entgegen § 3 einen Geflügelschlachtkörper, Geflügelfleisch oder ein Teilstück zum Verkauf vorrätig hält, anbietet, feilhält, liefert, verkauft oder sonst in den Verkehr bringt“.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

16

Lidl ist ein Einzelhandelsunternehmen, das in ganz Deutschland Lebensmittel-Discountmärkte betreibt. In verschiedenen ihrer Handelsfilialen in der Region um Lampertswalde bietet sie u. a. frisches Geflügelfleisch in Fertigpackungen zum Verkauf an. Nach den Angaben im Vorlagebeschluss erfolgt die Preisauszeichnung für diese Ware nicht unmittelbar auf der Verpackung oder auf einem daran befestigten Etikett, sondern mittels an den Regalen befestigter Schilder.

17

Die damalige Sächsische Landesanstalt für Landwirtschaft (jetzt: Sächsisches Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie) (Deutschland) stellte diese Preisauszeichnungspraxis bei verschiedenen Kontrollen fest. Ihrer Ansicht nach verstieß diese Praxis gegen Art. 5 Abs. 3 Buchst. b der zum Kontrollzeitpunkt geltenden Verordnung Nr. 1906/90.

18

Am 30. April 2007 erhob Lidl beim Verwaltungsgericht Dresden (Deutschland) Klage auf Feststellung, dass ihre Preisauszeichnungspraxis nicht gegen die – mit Art. 5 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1906/90 inhaltsgleiche – Regelung in Art. 5 Abs. 4 Buchst. b der Verordnung Nr. 543/2008 verstößt. Das Unternehmen machte im Wesentlichen geltend, dass diese Bestimmungen „unwirksam“ seien, weil sie einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit im Sinne von Art. 15 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 EUV darstellten.

19

Die Klage wurde vom Verwaltungsgericht Dresden mit Urteil vom 10. November 2010 abgewiesen.

20

Lidl legte gegen dieses Urteil beim Sächsischen Oberverwaltungsgericht (Deutschland) Berufung ein. Dieses Gericht ist zu dem Ergebnis gelangt, dass Art. 5 Abs. 4 Buchst. b der Verordnung Nr. 543/2008 auf die Klägerin des Ausgangsverfahrens anwendbar ist und dass der Ausgang des bei ihm anhängigen Verfahrens davon abhängt, ob diese Bestimmung wirksam ist. Es hegt indessen Zweifel an der Gültigkeit dieser Bestimmung im Hinblick auf Art. 15 Abs. 1 und Art. 16 der Charta sowie auf Art. 40 Abs. 2 Unterabs. 2 AEUV.

21

Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts bewirkt die Kennzeichnungspflicht keinen unverhältnismäßigen und untragbaren Eingriff in die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit und die unternehmerische Freiheit der Klägerin des Ausgangsverfahrens, da der Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten nicht angetastet werde. Die Vermarktung von frischem Geflügelfleisch in Fertigpackungen werde durch Art. 5 Abs. 4 Buchst. b der Verordnung Nr. 543/2008, der Vorgaben zur Preisauszeichnung dieser Produkte enthalte, nämlich nicht verboten. Im Übrigen entspreche diese Verpflichtung der dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung des Verbraucherschutzes.

22

Zweifelhaft erscheint dem vorlegenden Gericht aber, ob die Etikettierungspflicht gemäß dieser Bestimmung angemessen ist, da sie zum einen für andere fertigverpackte Waren, wie etwa Rindfleisch, Schweinefleisch, Schaffleisch und Ziegenfleisch, nicht bestehe und zum anderen einen finanziellen und organisatorischen Mehraufwand verursache, der wettbewerbsbeschränkend sei.

23

In Anbetracht des Diskriminierungsverbots fragt sich das vorlegende Gericht, ob die unterschiedliche Behandlung von frischem Geflügelfleisch und anderem zum menschlichen Verzehr bestimmtem Frischfleisch, für das eine vergleichbare Etikettierungspflicht nicht besteht, gerechtfertigt ist.

24

Unter diesen Umständen hat das Sächsische Oberverwaltungsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

25

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5 Abs. 4 Buchst. b der Verordnung Nr. 543/2008, der die Etikettierungspflicht vorsieht, im Hinblick auf Art. 15 Abs. 1 und Art. 16 der Charta gültig ist.

26

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht und die Parteien des Ausgangsverfahrens zwar der Ansicht sind, die Gültigkeit der Etikettierungspflicht sei im Hinblick auf Art. 15 („Berufsfreiheit und Recht zu arbeiten“) Abs. 1 und Art. 16 („Unternehmerische Freiheit“) der Charta zu prüfen, aber festzustellen ist, dass die Etikettierungspflicht die für jede Person bestehende Möglichkeit, im Sinne von Art. 15 der Charta „einen frei gewählten … Beruf auszuüben“, nicht einschränkt. Diese Pflicht ist hingegen geeignet, die durch Art. 16 der Charta gewährleistete unternehmerische Freiheit einzuschränken.

27

Das Recht auf unternehmerische Freiheit umfasst insbesondere das Recht jedes Unternehmens, in den Grenzen seiner Verantwortlichkeit für seine eigenen Handlungen frei über seine wirtschaftlichen, technischen und finanziellen Ressourcen verfügen zu können (Urteil vom 27. März 2014, UPC Telekabel Wien, C‑314/12, EU:C:2014:192, Rn. 49).

28

Der Gerichtshof hat auch festgestellt, dass der durch Art. 16 der Charta gewährte Schutz die Freiheit zur Ausübung einer Wirtschafts- oder Geschäftstätigkeit, die Vertragsfreiheit und den freien Wettbewerb umfasst, wie aus den Erläuterungen zu diesem Artikel hervorgeht, die gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta für deren Auslegung zu berücksichtigen sind (Urteile vom 22. Januar 2013, Sky Österreich, C‑283/11, EU:C:2013:28, Rn. 42, und vom 17. Oktober 2013, Schaible, C‑101/12, EU:C:2013:661, Rn. 25).

29

Die in Art. 5 Abs. 4 Buchst. b der Verordnung Nr. 543/2008 vorgesehene Etikettierungspflicht ist geeignet, die Ausübung dieser unternehmerischen Freiheit einzuschränken. Eine solche Verpflichtung erlegt ihrem Adressaten nämlich einen Zwang auf, der die freie Nutzung der ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen einschränkt, da sie ihn verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, die für ihn unter Umständen mit Kosten verbunden sind und Auswirkungen auf die Ausgestaltung seiner Tätigkeiten haben können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. März 2014, UPC Telekabel Wien, C‑314/12, EU:C:2014:192, Rn. 50).

30

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gilt die unternehmerische Freiheit allerdings nicht schrankenlos, sondern ist im Zusammenhang mit ihrer gesellschaftlichen Funktion zu sehen (vgl. u. a. Urteile vom 6. September 2012, Deutsches Weintor, C‑544/10, EU:C:2012:526, Rn. 54, und vom 22. Januar 2013, Sky Österreich, C‑283/11, EU:C:2013:28, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31

Folglich kann die Ausübung dieser Freiheit Einschränkungen unterworfen werden, sofern diese im Einklang mit Art. 52 Abs. 1 der Charta zum einen gesetzlich vorgesehen sind und den Wesensgehalt dieser Freiheit achten und zum anderen unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sind sowie den von der Europäischen Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.

32

Das vorlegende Gericht ist zwar der Auffassung, dass die Etikettierungspflicht als eine Einschränkung der Ausübung des durch Art. 16 der Charta gewährleisteten Rechts gesetzlich vorgeschrieben ist und den Wesensgehalt dieses Rechts achtet sowie den von der Europäischen Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen, nämlich dem Verbraucherschutz, tatsächlich entspricht. Es hat aber Zweifel an der Verhältnismäßigkeit einer solchen Maßnahme.

33

Nach ständiger Rechtsprechung verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die Handlungen der Unionsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei zu beachten ist, dass dann, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürfen (vgl. Urteile vom 12. Juli 2001, Jippes u. a., C‑189/01, EU:C:2001:420, Rn. 81, und vom 22. Januar 2013, Sky Österreich, C‑283/11, EU:C:2013:28, Rn. 50).

34

Zudem hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die unternehmerische Freiheit einer Vielzahl von Eingriffen der öffentlichen Gewalt unterworfen werden kann, die im allgemeinen Interesse die Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit beschränken können (Urteil vom 22. Januar 2013, Sky Österreich, C‑283/11, EU:C:2013:28, Rn. 46).

35

Was im vorliegenden Fall erstens die Ziele der fraglichen Unionsregelung angeht, tragen die Vermarktungsnormen im Bereich des Geflügelfleischsektors – wie aus dem zweiten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1906/90 hervorgeht – zur Verbesserung der Geflügelfleischqualität bei und fördern insofern im Interesse der Erzeuger, des Handels und der Verbraucher den Verkauf dieses Fleisches. Zudem wird im vierten Erwägungsgrund dieser Verordnung das Interesse hervorgehoben, das daran besteht, für eine vollständige Verbraucherinformation u. a. über die Etikettierung, die Werbung, den Inhalt der Angaben über das angewandte Kühlverfahren und die Haltungsart des Geflügels zu sorgen.

36

Diese Ziele wurden durch die Verordnung Nr. 543/2008 übernommen, die in ihrem zehnten Erwägungsgrund die Notwendigkeit betont, den Verbraucher ausreichend, unmissverständlich und objektiv über die zum Verkauf angebotenen Erzeugnisse zu informieren.

37

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die wesentlichen Ziele, die mit der fraglichen unionsrechtlichen Regelung verfolgt werden, sowohl die Verbesserung des Einkommens der Erzeuger und Wirtschaftsteilnehmer, die im Sektor des Geflügelfleischs – einschließlich des frischen Geflügelfleischs – tätig sind, als auch den Verbraucherschutz betreffen und vom Primärrecht der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen darstellen.

38

Was zweitens die Eignung der Etikettierungspflicht betrifft, die Erreichung der verfolgten Ziele zu gewährleisten, so konnte der Gesetzgeber in nicht zu beanstandender Weise annehmen, dass diese Verpflichtung zum einen eine zuverlässige Information des Verbrauchers mittels der auf der Verpackung angebrachten Angaben sicherstellt und zum anderen dem Verbraucher einen Anreiz zum Kauf von Geflügelfleisch bieten kann, was die Aussichten für die Vermarktung dieses Erzeugnisses verbessert und damit das Einkommen der Erzeuger steigert.

39

Was die Erforderlichkeit einer solchen Regelung angeht, so ist auch die Annahme des Unionsgesetzgebers nicht zu beanstanden, dass eine Regelung, die bloß das Anbringen der Preisangabe auf dem Regal vorsieht, die Erreichung der verfolgten Ziele nicht ebenso wirksam gewährleisten könnte wie Art. 5 Abs. 4 Buchst. b der Verordnung Nr. 543/2008, da bei Erzeugnissen, deren Verpackungseinheiten möglicherweise nicht das gleiche Gewicht haben, nur die Angabe des Gesamtpreises und des Preises je Gewichtseinheit eine hinreichende Information des Verbrauchers zu gewährleisten vermag. Im Übrigen ist auch nicht ersichtlich, dass eine solche Verpflichtung außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stünde, zumal die in Art. 5 Abs. 4 der Verordnung Nr. 543/2008 vorgesehene Angabe des Gesamtpreises und des Preises je Gewichtseinheit nur eine der Informationen ist, die nach dieser Bestimmung auf der Verpackung oder auf einem daran befestigten Etikett angebracht werden muss.

40

Daher ist im vorliegenden Fall der Eingriff in die unternehmerische Freiheit der Klägerin des Ausgangsverfahrens im Hinblick auf die verfolgten Ziele verhältnismäßig.

41

Nach alledem hat die Prüfung der ersten Frage nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 5 Abs. 4 Buchst. b der Verordnung Nr. 543/2008 im Hinblick auf die unternehmerische Freiheit gemäß Art. 16 der Charta beeinträchtigen könnte.

Zur zweiten Frage

42

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5 Abs. 4 Buchst. b der Verordnung Nr. 543/2008 im Hinblick auf das Diskriminierungsverbot des Art. 40 Abs. 2 Unterabs. 2 AEUV gültig ist.

43

Diese Frage wird, wie das vorlegende Gericht erläutert hat, mit Rücksicht darauf gestellt, dass für andere Arten von zum menschlichen Verzehr bestimmtem frischen Fleisch, insbesondere Rindfleisch, Schweinefleisch, Schaffleisch und Ziegenfleisch, keine vergleichbare Verpflichtung im Bereich der Preisauszeichnung besteht.

44

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Diskriminierungsverbot zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört und für den Agrarsektor in Art. 40 Abs. 2 Unterabs. 2 AEUV zum Ausdruck kommt (vgl. Urteil vom 14. März 2013, Agrargenossenschaft Neuzelle, C‑545/11, EU:C:2013:169, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung). Nach dem Wortlaut dieses Artikels ist jede Diskriminierung zwischen den Erzeugern und den Verbrauchern innerhalb der Union verboten.

45

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist dieser Grundsatz nicht nur auf Erzeuger und Verbraucher anzuwenden, sondern gilt auch für andere Gruppen von Wirtschaftsteilnehmern, die einer gemeinsamen Marktorganisation unterliegen, wie diejenigen, die frisches Geflügelfleisch oder andere Arten von frischem Fleisch vermarkten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Oktober 1994, Deutschland/Rat, C‑280/93, EU:C:1994:367, Rn. 68).

46

Das Diskriminierungsverbot verlangt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden, es sei denn, eine solche Behandlung ist objektiv gerechtfertigt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Dezember 2005, ABNA u. a., C‑453/03, C‑11/04, C‑12/04 und C‑194/04, EU:C:2005:741, Rn. 63, und vom 14. März 2013, Agrargenossenschaft Neuzelle, C‑545/11, EU:C:2013:169, Rn. 42).

47

In Bezug auf den Umfang der Kontrolle der Beachtung dieses Grundsatzes ist darauf hinzuweisen, dass der Unionsgesetzgeber im Bereich der Agrarpolitik über ein weites Ermessen verfügt. Folglich hat sich die richterliche Kontrolle auf die Prüfung der Frage zu beschränken, ob die betreffende Maßnahme nicht mit einem offensichtlichen Irrtum oder einem Ermessensmissbrauch behaftet ist oder ob die betreffende Behörde die Grenzen ihres Ermessens nicht offensichtlich überschritten hat (Urteil vom 14. März 2013, Agrargenossenschaft Neuzelle, C‑545/11, EU:C:2013:169, Rn. 43).

48

Im vorliegenden Fall gehören die Erzeugnisse, hinsichtlich deren das vorlegende Gericht Zweifel am diskriminierungsfreien Charakter der fraglichen Regelung hegt, zu verschiedenen Agrarsektoren.

49

Insoweit sieht Art. 40 Abs. 2 Unterabs. 1 AEUV die Verwendung verschiedener Mechanismen vor, die zur Erreichung der in Art. 39 AEUV definierten Ziele eingesetzt werden können. Im Übrigen hat, wie aus der Verordnung Nr. 1234/2007 hervorgeht, jede gemeinsame Marktorganisation ihre eigenen Besonderheiten. Dies hat zur Folge, dass der Vergleich der für die Regelung der verschiedenen Marktbereiche verwendeten technischen Mechanismen keine taugliche Grundlage für den Vorwurf der Diskriminierung zwischen ungleichen Erzeugnissen, die verschiedenen Vorschriften unterliegen, darstellen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Oktober 1982, Lion u. a., 292/81 und 293/81, EU:C:1982:375, Rn. 24).

50

Nach alledem hat die Prüfung der zweiten Frage nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 5 Abs. 4 Buchst. b der Verordnung Nr. 543/2008 im Hinblick auf das in Art. 40 Abs. 2 Unterabs. 2 AEUV vorgeschriebene Diskriminierungsverbot beeinträchtigen könnte.

Kosten

51

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Die Prüfung der ersten Frage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 5 Abs. 4 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 543/2008 der Kommission vom 16. Juni 2008 mit Durchführungsvorschriften zur Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 des Rates hinsichtlich der Vermarktungsnormen für Geflügelfleisch im Hinblick auf die unternehmerische Freiheit gemäß Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union beeinträchtigen könnte.

 

2.

Die Prüfung der zweiten Frage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 5 Abs. 4 Buchst. b der Verordnung Nr. 543/2008 im Hinblick auf das in Art. 40 Abs. 2 Unterabs. 2 AEUV vorgeschriebene Diskriminierungsverbot beeinträchtigen könnte.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.

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