Urteil vom Europäischer Gerichtshof - C-416/15

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)

30. Juni 2016 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Handelspolitik — Verordnung (EG) Nr. 1225/2009 — Art. 13 — Umgehung — Durchführungsverordnung (EU) Nr. 791/2011 — Offenmaschige Gewebe aus Glasfasern mit Ursprung in der Volksrepublik China — Antidumpingzölle — Durchführungsverordnung (EU) Nr. 437/2012 — Versand aus Taiwan — Einleitung einer Untersuchung — Durchführungsverordnung (EU) Nr. 21/2013 — Ausweitung des Antidumpingzolls — Zeitlicher Anwendungsbereich — Rückwirkungsverbot — Zollkodex der Gemeinschaften — Nacherhebung von Einfuhrabgaben“

In der Rechtssache C‑416/15

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curte de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) mit Entscheidung vom 20. April 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Juli 2015, in dem Verfahren

Selena România SRL

gegen

Direcția Generală Regională a Finanțelor Publice (DGRFP) București

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, des Richters C. Vajda und der Richterin K. Jürimäe (Berichterstatterin),

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der rumänischen Regierung, vertreten durch R.‑H. Radu und M. Bejenar als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. França und G.‑D. Balan als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 21/2013 des Rates vom 10. Januar 2013 zur Ausweitung des mit der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 791/2011 eingeführten endgültigen Antidumpingzolls auf die Einfuhren bestimmter offenmaschiger Gewebe aus Glasfasern mit Ursprung in der Volksrepublik China auf aus Taiwan und Thailand versandte Einfuhren bestimmter offenmaschiger Gewebe aus Glasfasern, ob als Ursprungserzeugnisse Taiwans oder Thailands angemeldet oder nicht (ABl. 2013, L 11, S. 1, im Folgenden: Ausweitungsverordnung), die nach einer Untersuchung gemäß Art. 13 der Verordnung (EG) Nr. 1225/2009 des Rates vom 30. November 2009 über den Schutz gegen gedumpte Einfuhren aus nicht zur Europäischen Gemeinschaft gehörenden Ländern (ABl. 2009, L 343, S. 51, und Berichtigung ABl. 2010, L 7, S. 22, im Folgenden: Grundverordnung) erlassen wurde.

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Selena România SRL und der Direcția Generală Regională a Finanțelor Publice (DGRFP) București (Regionale Generaldirektion für öffentliche Finanzen Bukarest, Rumänien, im Folgenden: DGRFP București) wegen eines von dieser Behörde erlassenen Regularisierungsbescheids, mit dem von Selena România Antidumpingzölle erhoben werden.

Rechtlicher Rahmen

Verordnung (EWG) Nr. 2913/92

3

Art. 26 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. 1992, L 302, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1186/2009 des Rates vom 16. November 2009 (ABl. 2009, L 324, S. 23) geänderten Fassung (im Folgenden: Zollkodex) bestimmt:

„(1)   Im Zollrecht oder in anderen besonderen [Unions]regelungen kann vorgesehen werden, dass der Ursprung der Waren durch die Vorlage einer Unterlage nachzuweisen ist.

(2)   Unbeschadet der Vorlage dieser Unterlage können die Zollbehörden im Fall ernsthafter Zweifel weitere Beweismittel verlangen, um sicherzustellen, dass die Angabe des Ursprungs tatsächlich den einschlägigen Regeln des [Unions]rechts entspricht.“

4

Titel VII Kapitel 3 („Erhebung des Zollschuldbetrags“) des Zollkodex enthält u. a. die Art. 217 bis 221.

Grundverordnung

5

Im 22. Erwägungsgrund der Grundverordnung heißt es:

„… [Es] ist … erforderlich, dass das [Unions]recht Bestimmungen enthält, um Praktiken, einschließlich der einfachen Montage in der [Europäischen Union] oder in einem Drittland, zu regeln, die in erster Linie auf die Umgehung von Antidumpingmaßnahmen abzielen.“

6

Art. 10 Abs. 1 dieser Verordnung sieht vor:

„Vorläufige Maßnahmen und endgültige Antidumpingzölle werden nur auf Waren angewendet, die nach dem Zeitpunkt, zu dem der gemäß Artikel 7 Absatz 1 bzw. Artikel 9 Absatz 4 gefasste Beschluss in Kraft tritt, in den zollrechtlich freien Verkehr übergeführt werden, vorbehaltlich der in dieser Verordnung genannten Ausnahmen.“

7

Art. 13 („Umgehung“) der Verordnung lautet:

„(1)   Die gemäß dieser Verordnung eingeführten Antidumpingzölle können auf die Einfuhren der gleichartigen Ware aus Drittländern, geringfügig verändert oder nicht, auf die Einfuhren der geringfügig veränderten gleichartigen Ware aus dem von Maßnahmen betroffenen Land oder auf die Einfuhren von Teilen dieser Ware ausgeweitet werden, wenn eine Umgehung der geltenden Maßnahmen stattfindet. Antidumpingzölle, die den gemäß Artikel 9 Absatz 5 eingeführten residualen Antidumpingzoll nicht übersteigen, können auf die Einfuhren von Unternehmen in den von Maßnahmen betroffenen Ländern, für die ein unternehmensspezifischer Zoll gilt, ausgeweitet werden, wenn eine Umgehung der geltenden Maßnahmen stattfindet. Die Umgehung wird als eine Veränderung des Handelsgefüges zwischen den Drittländern und der [Union] oder zwischen einzelnen Unternehmen in dem von Maßnahmen betroffenen Land und der [Union] definiert, die sich aus einer Praxis, einem Fertigungsprozess oder einer Arbeit ergibt, für die es außer der Einführung des Zolls keine hinreichende Begründung oder wirtschaftliche Rechtfertigung gibt, und wenn Beweise für eine Schädigung oder dafür vorliegen, dass die Abhilfewirkung des Zolls im Hinblick auf die Preise und/oder Mengen der gleichartigen Ware untergraben wird, und wenn erforderlichenfalls im Einklang mit Artikel 2 ermittelte Beweise für Dumping im Verhältnis zu den Normalwerten, die für die gleichartige Ware vorher festgestellt wurden, vorliegen.

Als Praxis, Fertigungsprozess oder Arbeit im Sinne des Unterabsatzes 1 gelten unter anderem geringfügige Veränderungen der betroffenen Ware, so dass sie unter Zollcodes fällt, für die die Maßnahmen normalerweise nicht gelten, sofern die Veränderungen ihre wesentlichen Eigenschaften nicht berühren, der Versand der von Maßnahmen betroffenen Ware über Drittländer, die Neuorganisation der Vertriebsmuster und ‑kanäle durch die Ausführer in dem von Maßnahmen betroffenen Land, so dass sie ihre Waren letztlich über Hersteller in die [Union] ausführen können, für die ein niedrigerer unternehmensspezifischer Zoll gilt als für die Waren der Ausführer, und, unter den in Absatz 2 genannten Umständen, die Montage von Teilen durch einen Montagevorgang in der [Union] oder einem Drittland.

(3)   Untersuchungen werden nach Maßgabe dieses Artikels auf Initiative der [Europäischen] Kommission oder auf Antrag eines Mitgliedstaats oder jeder anderen interessierten Partei eingeleitet, wenn der Antrag ausreichende Beweise für die in Absatz 1 genannten Faktoren enthält. Die Einleitung erfolgt nach Konsultationen im Beratenden Ausschuss durch eine Verordnung der Kommission, in der gleichzeitig den Zollbehörden Anweisung gegeben werden kann, die Einfuhren gemäß Artikel 14 Absatz 5 zollamtlich zu erfassen oder Sicherheitsleistungen zu verlangen. Die Untersuchungen werden von der Kommission durchgeführt, die von den Zollbehörden unterstützt werden kann, und innerhalb von neun Monaten abgeschlossen. Rechtfertigen die endgültig ermittelten Tatsachen die Ausweitung der Maßnahmen, wird diese Ausweitung vom Rat [der Europäischen Union] auf Vorschlag der Kommission nach Konsultationen im Beratenden Ausschuss eingeführt. Der Vorschlag wird vom Rat angenommen, es sei denn, der Rat beschließt innerhalb eines Monats nach dessen Vorlage durch die Kommission mit einfacher Mehrheit, den Vorschlag abzulehnen. Die Ausweitung gilt ab dem Zeitpunkt, zu dem die Einfuhren gemäß Artikel 14 Absatz 5 zollamtlich erfasst wurden oder zu dem Sicherheiten verlangt wurden. Die einschlägigen Verfahrensbestimmungen dieser Verordnung zur Einleitung und Durchführung von Untersuchungen finden Anwendung.

…“

8

Nach Art. 14 Abs. 5 der Grundverordnung gilt:

„Die Kommission kann nach Konsultationen im Beratenden Ausschuss die Zollbehörden anweisen, geeignete Schritte zu unternehmen, um die Einfuhren zollamtlich zu erfassen, so dass in der Folge Maßnahmen gegenüber diesen Einfuhren vom Zeitpunkt dieser zollamtlichen Erfassung an eingeführt werden können. Die zollamtliche Erfassung der Einfuhren kann auf einen Antrag des Wirtschaftszweigs der [Union] vorgenommen werden, der ausreichende Beweise für die Rechtfertigung dieser Maßnahme enthält. Die zollamtliche Erfassung wird durch eine Verordnung eingeführt, in der der Zweck dieser Erfassung und, soweit angemessen, der geschätzte Betrag der möglichen zukünftigen Zollschuld angegeben werden. Die Einfuhren dürfen nicht länger als neun Monate zollamtlich erfasst werden.“

Die Antidumpingverordnungen betreffend offenmaschige Gewebe aus Glasfasern

9

Auf eine von den europäischen Herstellern offenmaschiger Gewebe aus Glasfasern bei der Kommission eingereichte Beschwerde hin wurde die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 791/2011 des Rates vom 3. August 2011 zur Einführung eines endgültigen Antidumpingzolls und zur endgültigen Vereinnahmung des vorläufigen Zolls auf die Einfuhren bestimmter offenmaschiger Gewebe aus Glasfasern mit Ursprung in der Volksrepublik China (ABl. 2011, L 204, S. 1, im Folgenden: ursprüngliche Verordnung) erlassen.

10

Nach Art. 1 der ursprünglichen Verordnung wird ein endgültiger Antidumpingzoll eingeführt auf die Einfuhren bestimmter offenmaschiger Gewebe aus Glasfasern mit einer Zelllänge und ‑breite von mehr als 1,8 mm und mit einem Quadratmetergewicht von mehr als 35 g mit Ursprung in der Volksrepublik China, die unter den Codes ex 7019 51 00 und ex 7019 59 00 der Kombinierten Nomenklatur des Anhangs I der Verordnung (EG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif (ABl. 1987, L 256, S. 1) (TARIC‑Codes 7019 51 00 10 und 7019 59 00 10) eingereiht werden.

11

Nach Art. 4 der ursprünglichen Verordnung trat diese am 10. August 2011, also am Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union, in Kraft.

12

Auf einen von vier Herstellern bestimmter offenmaschiger Gewebe aus Glasfasern in der Union nach Art. 13 Abs. 3 und Art. 14 Abs. 5 der Grundverordnung gestellten Antrag hin erließ die Kommission die Verordnung (EU) Nr. 437/2012 vom 23. Mai 2012 zur Einleitung einer Untersuchung betreffend die mutmaßliche Umgehung der mit der Durchführungsverordnung Nr. 791/2011 des Rates eingeführten Antidumpingmaßnahmen und zur zollamtlichen Erfassung dieser Einfuhren (ABl. 2012, L 134, S. 12, im Folgenden: Einleitungsverordnung).

13

Gemäß Art. 1 der Einleitungsverordnung betrifft die nach dieser Verordnung eingeleitete Untersuchung die aus Taiwan oder Thailand in die Union versandten Einfuhren offenmaschiger Gewebe aus Glasfasern mit einer Zelllänge und ‑breite von mehr als 1,8 mm und mit einem Quadratmetergewicht von mehr als 35 g, ausgenommen Glasfaserscheiben, ob als Ursprungserzeugnisse Taiwans oder Thailands angemeldet oder nicht, die derzeit unter den KN-Codes ex 7019 51 00 und ex 7019 59 00 (TARIC‑Codes 7019 51 00 12, 7019 51 00 13, 7019 59 00 12 und 7019 59 00 13) eingereiht werden.

14

Art. 2 Abs. 1 der Einleitungsverordnung sieht vor, dass die Zollbehörden nach Art. 13 Abs. 3 und Art. 14 Abs. 5 der Grundverordnung angewiesen werden, geeignete Schritte zu unternehmen, um die in Art. 1 der Einleitungsverordnung genannten Einfuhren in die Union zollamtlich zu erfassen.

15

Die Einleitungsverordnung trat gemäß ihrem Art. 4 am 25. Mai 2012, also am Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union, in Kraft.

16

Nach Abschluss der gemäß der Einleitungsverordnung durchgeführten Untersuchung erließ der Rat die Ausweitungsverordnung.

17

Nach Art. 1 Abs. 1 der Ausweitungsverordnung wird der mit Art. 1 Abs. 2 der ursprünglichen Verordnung für Einfuhren von offenmaschigen Geweben aus Glasfasern mit einer Zelllänge und ‑breite von mehr als 1,8 mm und mit einem Quadratmetergewicht von mehr als 35 g mit Ursprung in der Volksrepublik China eingeführte endgültige Antidumpingzoll ausgeweitet auf aus Taiwan und Thailand versandte Einfuhren, ob als Ursprungserzeugnisse Taiwans oder Thailands angemeldet oder nicht.

18

Nach Art. 1 Abs. 2 der Ausweitungsverordnung wird der mit Abs. 1 ausgeweitete Zoll auf aus Taiwan und Thailand versandte Einfuhren von offenmaschigen Glasfasern erhoben, ob als Ursprungserzeugnisse Taiwans oder Thailands angemeldet oder nicht, die nach Art. 2 der Einleitungsverordnung sowie Art. 13 Abs. 3 und Art. 14 Abs. 5 der Grundverordnung zollamtlich erfasst wurden.

19

Die Ausweitungsverordnung trat gemäß ihrem Art. 4 am 17. Januar 2013, also am Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union, in Kraft.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

20

Zwischen dem 12. März und dem 18. Mai 2012 überführte Selena România, eine Gesellschaft mit Sitz in Rumänien, von einem in Taiwan ansässigen Lieferanten eingeführte offenmaschige Gewebe aus Glasfasern mit einer Zelllänge und ‑breite von mehr als 1,8 mm und mit einem Quadratmetergewicht von mehr als 35 g in den zollrechtlich freien Verkehr in der Union (im Folgenden: in Rede stehende Einfuhren).

21

Mit Regularisierungsbescheid vom 5. Februar 2014 erhob die DGRFP București von Selena România Antidumpingzölle und für diese Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr nicht entrichtete Mehrwertsteuer in Höhe von zusammen 1151748 rumänischen Lei (RON) (rund 257970 Euro) zuzüglich Zinsen und Säumniszuschlägen. Der Bescheid war damit begründet, dass nach einer bei Selena România durchgeführten nachträglichen Prüfung und einer vom Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) durchgeführten Untersuchung festgestellt worden sei, dass die in Rede stehenden Einfuhren ihren Ursprung tatsächlich in der Volksrepublik China hätten und folglich dem Antidumpingzoll der ursprünglichen Verordnung und der Ausweitungsverordnung unterlägen. Nach Auffassung der DGRFP București wurde durch den OLAF‑Untersuchungsbericht belegt, dass die Sendungen von Geweben aus Glasfasern von der Volksrepublik China aus nach Taiwan, die Gegenstand der in Rede stehenden Einfuhren gewesen seien, in Taiwan vor der Ausfuhr in die Union nicht be- oder verarbeitet worden seien, so dass sie ihren nicht präferenziellen chinesischen Ursprung bewahrt hätten.

22

Selena România legte gegen diesen Bescheid Einspruch bei der Direcția Generală Regională a Finanțelor Publice Galați (Regionale Generaldirektion für öffentliche Finanzen Galați, Rumänien) ein, die den Bescheid bestätigte.

23

Am 22. Juli 2014 erhob Selena România beim vorlegenden Gericht Klage auf Aufhebung des Regularisierungsbescheids. Zur Begründung ihrer Klage trug sie u. a. vor, die DGRFP București habe die Einleitungs- und die Ausweitungsverordnung zu Unrecht rückwirkend angewandt. Keine der beiden Verordnungen sei in Kraft gewesen, als die in Rede stehenden Einfuhren getätigt worden seien.

24

Das vorlegende Gericht wirft die Frage nach dem zeitlichen Anwendungsbereich der Ausweitungsverordnung auf. Insbesondere möchte es wissen, ob der mit Art. 1 der Ausweitungsverordnung eingeführte endgültige Antidumpingzoll auf Einfuhren aus Taiwan in die Union, wie die hier in Rede stehenden, anwendbar ist, wenn diese vor dem Inkrafttreten der Ausweitungsverordnung, aber nach dem Inkrafttreten der ursprünglichen Verordnung getätigt wurden.

25

Das vorlegende Gericht führt insoweit aus, das Verbot der Rückwirkung von Unionsrechtsakten werde durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigt, insbesondere durch die Urteile vom 9. Juni 1964, Capitaine/Kommission (69/63, EU:C:1964:38), und vom 9. Dezember 1965, Singer (44/65, EU:C:1965:122); allerdings seien auch Ausnahmen von diesem Grundsatz zugelassen worden.

26

Unter diesen Umständen hat die Curte de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist die Ausweitungsverordnung dahin auszulegen, dass sie auch für Einfuhren aus Taiwan gilt, die in der Europäischen Union ansässige Personen vor dem 17. Januar 2013, d. h. im Jahr 2012, aber nach Erlass der ursprünglichen Verordnung getätigt haben?

2.

Gilt der endgültige Antidumpingzoll, wie er in Art. 1 der Ausweitungsverordnung angegeben ist, auch im Fall von Einfuhren aus Taiwan, die in der Europäischen Union ansässige Personen vor dem 17. Januar 2013 und vor dem Erlass der Einleitungsverordnung, aber nach Erlass der ursprünglichen Verordnung getätigt haben?

Zu den Vorlagefragen

27

Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 1 der Ausweitungsverordnung dahin auszulegen ist, dass der durch diese Vorschrift ausgeweitete endgültige Antidumpingzoll rückwirkend auf aus Taiwan versandte Waren anwendbar ist, die in der Union nach dem Inkrafttreten der ursprünglichen Verordnung, aber vor dem Inkrafttreten der Einleitungsverordnung in den zollrechtlich freien Verkehr überführt wurden.

28

Da die Ausweitungsverordnung auf der Grundlage von Art. 13 der Grundverordnung erlassen wurde, ist festzustellen, dass nach Abs. 1 dieser Bestimmung die gemäß dieser Verordnung eingeführten Antidumpingzölle auf Einfuhren gleichartiger Waren aus Drittstaaten oder auf Einfuhren von Teilen dieser Waren ausgeweitet werden können, wenn eine Umgehung der geltenden Maßnahmen stattfindet. Nach Art. 13 Abs. 3 der Grundverordnung erfolgt die Einleitung der Untersuchung durch eine Verordnung der Kommission, in der den Zollbehörden Anweisung gegeben werden kann, die betroffenen Einfuhren gemäß Art. 14 Abs. 5 der Grundverordnung zollamtlich zu erfassen.

29

Aus Art. 13 Abs. 3 der Grundverordnung ergibt sich insbesondere, dass die Ausweitung der bereits eingeführten endgültigen Maßnahmen bei Vorliegen einer Umgehung ab dem Zeitpunkt gilt, zu dem die Einfuhren gemäß Art. 14 Abs. 5 der Grundverordnung zollamtlich erfasst wurden (Urteil vom 6. Juni 2013, Paltrade, C‑667/11, EU:C:2013:368, Rn. 26).

30

Zwar ist in Art. 10 Abs. 1 der Grundverordnung das Rückwirkungsverbot von Antidumpingmaßnahmen – die grundsätzlich nur auf nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung, mit der die Maßnahmen eingeführt wurden, in den zollrechtlich freien Verkehr überführte Waren angewendet werden dürfen – verankert, doch weichen mehrere Bestimmungen der Grundverordnung davon ab. Diese Bestimmungen gestatten nämlich die Anwendung von Antidumpingmaßnahmen auf vor dem Inkrafttreten der Verordnung, mit der die Maßnahmen eingeführt wurden, in den zollrechtlich freien Verkehr überführte Waren, sofern die betreffenden Einfuhren gemäß Art. 14 Abs. 5 der Grundverordnung zollrechtlich erfasst wurden (Urteil vom 17. Dezember 2015, APEX, C‑371/14, EU:C:2015:828, Rn. 48).

31

Die Ausweitungsverordnung weist in ihrem Art. 1 Abs. 2 ausdrücklich darauf hin, dass der nach Art. 1 Abs. 1 ausgeweitete Zoll auf aus Taiwan versandte Einfuhren offenmaschiger Gewebe aus Glasfasern im Sinne dieser Bestimmung erhoben wird, ob als Ursprungserzeugnisse Taiwans angemeldet oder nicht, die nach Art. 2 der Einleitungsverordnung sowie Art. 13 Abs. 3 und Art. 14 Abs. 5 der Grundverordnung zollamtlich erfasst wurden.

32

Vorliegend ist jedoch unstreitig, dass die in Rede stehenden Einfuhren vor dem Inkrafttreten der Einleitungsverordnung, also vor dem 25. Mai 2012, und damit bevor sie nach Art. 2 dieser Verordnung zollamtlich erfasst werden konnten, getätigt wurden.

33

Nach alledem ist der nach Art. 1 Abs. 1 der Ausweitungsverordnung ausgeweitete Antidumpingzoll nicht rückwirkend anwendbar auf Einfuhren wie die hier in Rede stehenden, die vor dem Inkrafttreten der Einleitungsverordnung getätigt wurden.

34

Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, ist jedoch darauf hinzuweisen, dass diese Auslegung, wie auch die rumänische Regierung und die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausführen, der Anwendung eines mit Art. 1 Abs. 1 der ursprünglichen Verordnung eingeführten endgültigen Antidumpingzolls auf solche Einfuhren nicht entgegensteht, wenn eine nachträgliche Prüfung ergibt, dass diese Einfuhren ihren Ursprung tatsächlich in der Volksrepublik China haben.

35

Nach Art. 1 Abs. 1 der ursprünglichen Verordnung wird nämlich auf die Einfuhren der in dieser Bestimmung beschriebenen offenmaschigen Gewebe aus Glasfasern mit Ursprung in der Volksrepublik China ein endgültiger Antidumpingzoll eingeführt.

36

Wie aus Art. 26 des Zollkodex hervorgeht, sehen die Unionsregelungen zwar vor, dass der Ursprung der Waren durch die Vorlage einer Unterlage nachzuweisen ist, doch sind die Zollbehörden durch die Vorlage dieser Unterlage nicht daran gehindert, im Fall ernsthafter Zweifel weitere Beweismittel zu verlangen, um sicherzustellen, dass die Angabe des Ursprungs tatsächlich den einschlägigen Regeln des Unionsrechts entspricht. Insoweit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass der Zweck der nachträglichen Prüfung darin besteht, die Ursprungsangabe im Ursprungszeugnis auf ihre Richtigkeit zu überprüfen (vgl. entsprechend Urteil vom 8. November 2012, Lagura Vermögensverwaltung, C‑438/11, EU:C:2012:703, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37

Folglich kann es sich bei der Tatsache, dass Waren ein Ursprungszeugnis beigefügt ist, nicht um einen Umstand handeln, der der Erhebung der für die Einfuhr dieser Waren geschuldeten Zölle entgegensteht, wenn sich diese Zeugnisse nach der Einfuhr als falsch erweisen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Juli 1997, Pascoal & Filhos, C‑97/95, EU:C:1997:370, Rn. 55 bis 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38

Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, in Bezug auf die in Rede stehenden Einfuhren zu bestimmen, ob den Zollbehörden für jede der Sendungen von offenmaschigen Geweben aus Glasfasern, die in der Union in den zollrechtlich freien Verkehr überführt wurden, hinreichende Beweise für die Feststellung vorliegen, dass diese Sendungen, obwohl sie aus Taiwan versandt und mit Ursprung aus Taiwan angemeldet wurden, tatsächlich als Waren mit Ursprung in der Volksrepublik China anzusehen sind; in diesem Fall ist der mit Art. 1 Abs. 1 der ursprünglichen Verordnung eingeführte Antidumpingzoll auf sie anwendbar. Wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen betont hat, müsste in diesem Fall dieser Zoll gemäß den für die Erhebung der Zollschuld geltenden Regelungen des Zollkodex nachträglich erhoben werden.

39

Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 der Ausweitungsverordnung dahin auszulegen ist, dass der mit dieser Vorschrift ausgeweitete endgültige Antidumpingzoll nicht rückwirkend auf aus Taiwan versandte Waren anwendbar ist, die in der Union nach dem Inkrafttreten der ursprünglichen Verordnung, aber vor dem Inkrafttreten der Einleitungsverordnung in den zollrechtlich freien Verkehr überführt wurden. Jedoch ist der mit Art. 1 Abs. 1 der ursprünglichen Verordnung eingeführte Antidumpingzoll auf die Einfuhren solcher Waren anwendbar, wenn nachgewiesen wird, dass diese Waren, obwohl sie aus Taiwan versandt und mit Ursprung aus Taiwan angemeldet wurden, ihren Ursprung tatsächlich in der Volksrepublik China haben.

Kosten

40

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 1 Abs. 1 der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 21/2013 des Rates vom 10. Januar 2013 zur Ausweitung des mit der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 791/2011 eingeführten endgültigen Antidumpingzolls auf die Einfuhren bestimmter offenmaschiger Gewebe aus Glasfasern mit Ursprung in der Volksrepublik China auf aus Taiwan und Thailand versandte Einfuhren bestimmter offenmaschiger Gewebe aus Glasfasern, ob als Ursprungserzeugnisse Taiwans oder Thailands angemeldet oder nicht, ist dahin auszulegen, dass der mit dieser Vorschrift ausgeweitete endgültige Antidumpingzoll nicht rückwirkend auf aus Taiwan versandte Waren anwendbar ist, die in der Union nach dem Inkrafttreten der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 791/2011 des Rates vom 3. August 2011 zur Einführung eines endgültigen Antidumpingzolls und zur endgültigen Vereinnahmung des vorläufigen Zolls auf die Einfuhren bestimmter offenmaschiger Gewebe aus Glasfasern mit Ursprung in der Volksrepublik China, aber vor dem Inkrafttreten der Verordnung (EU) Nr. 437/2012 der Kommission vom 23. Mai 2012 zur Einleitung einer Untersuchung betreffend die mutmaßliche Umgehung der mit der Durchführungsverordnung Nr. 791/2011 eingeführten Antidumpingmaßnahmen und zur zollamtlichen Erfassung dieser Einfuhren in den zollrechtlich freien Verkehr überführt wurden. Jedoch ist der mit Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 791/2011 eingeführte Antidumpingzoll auf die Einfuhren solcher Waren anwendbar, wenn nachgewiesen wird, dass diese Waren, obwohl sie aus Taiwan versandt und mit Ursprung aus Taiwan angemeldet wurden, ihren Ursprung tatsächlich in der Volksrepublik China haben.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Rumänisch.

Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen

This content does not contain any references.