Urteil vom Europäischer Gerichtshof - C-221/15

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

21. September 2016 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Richtlinie 2011/64/EU — Art. 15 Abs. 1 — Freie Festsetzung des Kleinverkaufshöchstpreises von Tabakwaren durch Hersteller und Importeure — Nationale Regelung, die es den Einzelhändlern verbietet, solche Waren zu niedrigeren als den auf dem Steuerzeichen angegebenen Preisen zu verkaufen — Freier Warenverkehr — Art. 34 AEUV — Verkaufsmodalitäten — Art. 101 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV“

In der Rechtssache C‑221/15

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hof van beroep te Brussel (Berufungsgericht Brüssel, Belgien) mit Entscheidung vom 5. Mai 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Mai 2015, in dem Strafverfahren gegen

Établissements Fr. Colruyt NV

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev (Berichterstatter) sowie der Richter J.‑C. Bonichot und C. G. Fernlund,

Generalanwalt: N. Wahl,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 17. Februar 2016,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Établissements Fr. Colruyt NV, vertreten durch R. Verstraeten und H. De Bauw, advocaten,

der belgischen Regierung, zunächst vertreten durch N. Zimmer sowie J. Van Holm und M. Jacobs, dann durch J. Van Holm und M. Jacobs als Bevollmächtigte im Beistand von A. Fromont, advocaat,

der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, D. Colas, J. Bousin und S. Ghiandoni als Bevollmächtigte,

der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, A. Brigas Afonso und M. Rebelo als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Manhaeve, H. van Vliet und F. Tomat als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. April 2016

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2011/64/EU des Rates vom 21. Juni 2011 über die Struktur und die Sätze der Verbrauchsteuern auf Tabakwaren (ABl. 2011, L 176, S. 24) in Verbindung mit den Art. 20 und 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), von Art. 34 AEUV sowie von Art. 101 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV.

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen die Établissements Fr. Colruyt NV (im Folgenden: Colruyt) wegen Verkaufs von Tabakwaren zu einem Einheitspreis, der unter dem Preis lag, den der Hersteller oder der Importeur auf dem an diesen Waren angebrachten Steuerzeichen angegeben hatte.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

In den Erwägungsgründen 2, 3, 9 und 10 der Richtlinie 2011/64 heißt es:

„(2)

Die Steuervorschriften der Union für Tabakwaren sollten das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes und gleichzeitig ein hohes Gesundheitsschutzniveau … gewährleisten …

(3)

Eines der Ziele des Vertrags über die Europäische Union ist es, eine Wirtschaftsunion, die einem innerstaatlichen Markt ähnlich ist und in der gesunder Wettbewerb herrscht, aufrechtzuerhalten. Im Bereich der Tabakwaren setzt dies voraus, dass die in den Mitgliedstaaten auf die Erzeugnisse dieses Sektors erhobenen Verbrauchsteuern die Wettbewerbsbedingungen nicht verfälschen und den freien Verkehr dieser Erzeugnisse in der Union nicht behindern.

(9)

Die Harmonisierung der Strukturen der Verbrauchsteuern muss insbesondere dazu führen, dass der Wettbewerb zwischen den einer gleichen Gruppe angehörenden Kategorien von Tabakwaren durch die Folgen der Besteuerung nicht verfälscht wird und dass es zur Öffnung der nationalen Märkte der Mitgliedstaaten kommt.

(10)

Die Erfordernisse des freien Wettbewerbs bedingen eine freie Preisbildung für alle Gruppen von Tabakwaren.“

4

Der in Kapitel 1 dieser Richtlinie enthaltene Art. 1 („Gegenstand“) sieht vor:

„Die vorliegende Richtlinie bestimmt allgemeine Grundsätze für die Harmonisierung der Struktur und der Sätze der Verbrauchsteuern, denen die Tabakwaren in den Mitgliedstaaten unterliegen.“

5

Art. 7 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„In der Union hergestellte Zigaretten und aus Drittländern eingeführte Zigaretten unterliegen in jedem Mitgliedstaat einer nach dem Kleinverkaufshöchstpreis einschließlich Zölle berechneten Ad-Valorem-Verbrauchsteuer sowie einer nach Erzeugniseinheit berechneten spezifischen Verbrauchsteuer.

…“

6

Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie lautet:

„Die Hersteller bzw. gegebenenfalls ihre Vertreter oder Beauftragten in der Union sowie die Importeure aus Drittländern bestimmen frei für jedes ihrer Erzeugnisse und für jeden Mitgliedstaat, in dem diese Erzeugnisse in den Verkehr gebracht werden sollen, den Kleinverkaufshöchstpreis.

Unterabsatz 1 steht jedoch der Anwendung einzelstaatlicher Rechtsvorschriften über die Preisüberwachung oder die Einhaltung der vorgeschriebenen Preise nicht entgegen, sofern diese Vorschriften mit de[n] Vorschriften der Union vereinbar sind.“

Belgisches Recht

7

Art. 7 § 2bis Nr. 1 der Wet betreffende de bescherming van de gezondheid van de gebruikers op het stuk van de voedingsmiddelen en andere produkten (Gesetz über den Schutz der Gesundheit der Verbraucher im Bereich der Lebensmittel und anderer Waren, Belgisch Staatsblad vom 8. April 1977, S. 4501) vom 24. Januar 1977 in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesundheitsschutzgesetz) sieht vor:

„Werbung für und Sponsoring durch Tabak, Erzeugnisse auf Tabakbasis und ähnliche Erzeugnisse, nachstehend Tabakerzeugnisse genannt, sind verboten.

Als Werbung und Sponsoring gilt jede Mitteilung oder Handlung, die unmittelbar oder mittelbar die Förderung des Verkaufs bezweckt, ungeachtet des Ortes, der eingesetzten Kommunikationsmittel oder der verwendeten Techniken.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

8

Colruyt betreibt in Belgien unter selbiger Firma eine Supermarktkette.

9

Im Anschluss an eine Untersuchung des Federale overheitsdienst van volksgezondheid (Föderaler Öffentlicher Dienst Volksgesundheit, Belgien) stellte das Openbaar Ministerie (Staatsanwaltschaft, Belgien) fest, Colruyt habe in seinen Supermärkten unter Verstoß gegen Art. 7 § 2bis Nr. 1 des Gesundheitsschutzgesetzes Werbung für Tabak betrieben. So habe Colruyt verschiedene Tabakerzeugnisse

zu einem Einheitspreis, der unter dem Preis gelegen habe, den der Hersteller oder der Importeur auf dem an den Waren angebrachten Steuerzeichen angegeben habe, verkauft;

mit einem Mengenrabatt verkauft, der auf dem Regaletikett mit einem gelb-roten Hintergrund hervorgehoben worden sei;

mit einem vorübergehenden allgemeinen Rabatt von 3 % für alle Kunden verkauft;

mit einem allgemeinen Rabatt von 3 % für eine bestimmte Personengruppe verkauft, nämlich die Mitglieder von Jugendbewegungen, dem sogenannten „kampkorting“ (wörtlich: „Lagerrabatt“).

10

Mit Urteil der Correctionele Rechtbank te Brussel (Strafgericht Brüssel, Belgien) vom 10. Mai 2013 wurde Colruyt wegen Verstoßes gegen die genannte Vorschrift u. a. zu einer Geldstrafe von 270000 Euro verurteilt.

11

Gegen dieses Urteil legte Colruyt beim Hof van beroep te Brussel (Berufungsgericht Brüssel, Belgien) Berufung ein. Zur Begründung macht sie insbesondere geltend, dass ein Verbot der Anwendung von Kleinverkaufspreisen unterhalb des Preises, den der Hersteller oder der Importeur auf dem an den Waren angebrachten Steuerzeichen angegeben habe, mit Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2011/64, Art. 34 AEUV und Art. 101 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV unvereinbar sei.

12

Unter diesen Umständen hat der Hof van beroep te Brussel (Berufungsgericht Brüssel) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

13

Die belgische Regierung hält das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig. Erstens stehe Art. 7 § 2bis Nr. 1 des Gesundheitsschutzgesetzes in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens, denn die Einzelhandelspreise von Tabakwaren würden in Belgien durch andere Vorschriften des belgischen Rechts geregelt. Zweitens sei die Auslegung der Richtlinie 2011/64 für den Ausgang dieses Verfahrens irrelevant, da der besagte Art. 7 § 2bis Nr. 1 nicht der Umsetzung dieser Richtlinie in das belgische Recht diene. Drittens genüge die Vorlageentscheidung nicht den Anforderungen von Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, da sie weder genügend Informationen über den sachlichen und rechtlichen Rahmen des Ausgangsverfahrens noch eine Darstellung der genauen Gründe enthalte, aus denen das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung von Vorschriften des Unionsrechts habe.

14

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen spricht, die das nationale Gericht zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof kann die Entscheidung über ein Vorabentscheidungsersuchen eines nationalen Gerichts nur dann ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 16. Juli 2015, Sommer Antriebs- und Funktechnik, C‑369/14, EU:C:2015:491, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

15

Was den ersten Grund für die Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens betrifft, genügt der Hinweis, dass der Gerichtshof weder über die Auslegung nationaler Rechtsvorschriften befinden noch darüber entscheiden kann, ob diese vom nationalen Gericht zutreffend ausgelegt worden sind (Urteil vom 7. Oktober 2010, dos Santos Palhota u. a., C‑515/08, EU:C:2010:589, Rn. 18).

16

In Bezug auf den zweiten Unzulässigkeitsgrund, den die belgische Regierung vorbringt, ist nicht offensichtlich, dass die im Ausgangsverfahren fragliche Situation vom Geltungsbereich der Richtlinie 2011/64 ausgeschlossen ist oder zumindest Art. 7 § 2bis Nr. 1 des Gesundheitsschutzgesetzes in keiner Weise geeignet ist, bestimmten Vorschriften dieser Richtlinie ihre praktische Wirksamkeit zu nehmen, und dass die erbetene Auslegung der Richtlinie in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht. Im Übrigen betrifft dieser Einwand den Kern der ersten Vorlagefrage.

17

Was den dritten Unzulässigkeitsgrund anbelangt, ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht im vorliegenden Fall den rechtlichen und sachlichen Rahmen des Ausgangsverfahrens hinreichend genau dargelegt hat, um zum einen dem Gerichtshof eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen und zum anderen den in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union genannten Parteien die Abgabe schriftlicher Erklärungen zu ermöglichen. Überdies lässt die Vorlageentscheidung erkennen, dass das vorlegende Gericht an der Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung mit den Vorschriften des Unionsrechts, um deren Auslegung ersucht wird, Zweifel hat und dass die Vorwürfe gegen Colruyt als unbegründet anzusehen wären, wenn diese Regelung für mit den besagten Vorschriften unvereinbar erachtet würde.

18

Somit ist das Vorabentscheidungsersuchen als zulässig anzusehen.

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

19

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2011/64 im Licht der Art. 20 und 21 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, die es Einzelhändlern verbietet, Tabakwaren zu einem Einheitspreis zu verkaufen, der unter dem Preis liegt, den der Hersteller oder der Importeur auf dem an den Waren angebrachten Steuerzeichen angegeben hat.

20

Gegenstand der Richtlinie 2011/64 ist nach ihrem Art. 1 die Bestimmung allgemeiner Grundsätze für die Harmonisierung der Struktur und der Sätze der Verbrauchsteuern, denen die Tabakwaren in den Mitgliedstaaten unterliegen. Die Richtlinie gehört somit zu den Steuervorschriften der Union für Tabakwaren, die nach dem zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie insbesondere das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts gewährleisten sollen.

21

Ferner geht aus dem dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/64 hervor, dass diese zur Erreichung des genannten Ziels gewährleisten soll, dass die in den Mitgliedstaaten auf die Erzeugnisse des Tabakwarensektors erhobenen Verbrauchsteuern die Wettbewerbsbedingungen nicht verfälschen und den freien Verkehr dieser Erzeugnisse in der Union nicht behindern. Wie der neunte Erwägungsgrund der Richtlinie besagt, muss die Harmonisierung der Strukturen der Verbrauchsteuern insbesondere dazu führen, dass der Wettbewerb zwischen den einer gleichen Gruppe angehörenden Kategorien von Tabakwaren durch die Folgen der Besteuerung nicht verfälscht wird und dass es zur Öffnung der nationalen Märkte der Mitgliedstaaten kommt.

22

Demnach soll die Richtlinie 2011/64 in Bezug auf die Verbrauchsteuer, die in den Mitgliedstaaten auf die Erzeugnisse des Tabakwarensektors erhoben wird, das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts gewährleisten.

23

Art. 15 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie ist mit Blick auf diese Zielsetzung auszulegen. Er sieht vor, dass die Hersteller bzw. gegebenenfalls ihre Vertreter oder Beauftragten in der Union sowie die Importeure aus Drittländern für jedes ihrer Erzeugnisse und für jeden Mitgliedstaat, in dem diese Erzeugnisse in den Verkehr gebracht werden sollen, den Kleinverkaufshöchstpreis frei bestimmen, so dass sichergestellt wird, dass zwischen ihnen tatsächlich Wettbewerb herrscht.

24

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs soll diese Vorschrift zum einen sicherstellen, dass die Ermittlung der Bemessungsgrundlage der proportionalen Verbrauchsteuer auf Tabakwaren, d. h. der Kleinverkaufshöchstpreis dieser Erzeugnisse, in allen Mitgliedstaaten denselben Regeln unterliegt, und zum anderen die Freiheit der genannten Wirtschaftsteilnehmer erhalten, die es ihnen ermöglicht, aus etwaigen niedrigeren Gestehungspreisen tatsächlich einen Wettbewerbsvorteil zu ziehen (vgl. entsprechend Urteil vom 4. März 2010, Kommission/Frankreich, C‑197/08, EU:C:2010:111, Rn. 36).

25

Außerdem ist diese Bestimmung Teil des Systems der Tabakbesteuerung, wonach der vom Hersteller oder vom Importeur festgelegte und behördlich gebilligte Preis als Höchstpreis vorgeschrieben ist und als solcher auf allen Ebenen des Vertriebssystems bis hin zum Verkauf an den Verbraucher einzuhalten ist, um zu verhindern, dass die Integrität der Steuereinnahmen durch die Überschreitung des vorgeschriebenen Preises gefährdet wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. März 2010, Kommission/Frankreich, C‑197/08, EU:C:2010:111, Rn. 43).

26

Art. 15 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2011/64 soll also sicherstellen, dass die Anwendung der Vorschriften über die Verbrauchsteuer auf Tabakwaren nicht die Erfordernisse des freien Wettbewerbs beeinträchtigt, die, wie aus dem zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie hervorgeht, für alle Gruppen von Tabakwaren eine freie Preisbildung durch die Hersteller oder Importeure bedingen.

27

Dementsprechend hat der Gerichtshof sinngemäß entschieden, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2011/64 nicht dahin ausgelegt werden darf, dass er einer Regelung entgegensteht, die für den Verkauf von importierten oder im Inland hergestellten Tabakwaren an den Verbraucher einen Verkaufspreis, nämlich den auf dem Steuerzeichen angegebenen Preis, vorschreibt, sofern dieser Preis vom Hersteller oder vom Importeur frei festgesetzt worden ist (vgl. entsprechend Urteil vom 16. November 1977, GB-Inno-BM, 13/77, EU:C:1977:185, Rn. 63 und 64).

28

Was den Ausgangsfall betrifft, so hat eine nationale Regelung wie Art. 7 § 2bis Nr. 1 des Gesundheitsschutzgesetzes – der nach den Angaben des vorlegenden Gerichts den Einzelhändlern u. a. verbietet, Tabakwaren zu einem Einheitspreis zu verkaufen, der unter dem Preis liegt, den der Hersteller oder der Importeur auf dem an diesen Waren angebrachten Steuerzeichen angegeben hat – unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Systems der Tabakbesteuerung zwar die Wirkung, diesen Wirtschaftsteilnehmern für den Verkauf solcher Waren an den Verbraucher den auf dem Steuerzeichen angegebenen Preis vorzuschreiben. Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten geht jedoch weder hervor, dass diese Vorschrift den Zweck hat, die Festlegung des vom Hersteller oder vom Importeur auf dem Steuerzeichen angegebenen Preises zu regeln, noch lässt sich ihnen entnehmen, dass die Vorschrift in anderer Weise die Erhebung der Verbrauchsteuer auf Tabakwaren betrifft.

29

Demnach fällt eine solche nationale Vorschrift nicht unter Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2011/64, womit dieser ihr auch nicht entgegensteht.

30

Diese Auslegung wird nicht durch das Argument von Colruyt in Frage gestellt, dass die Versagung des Rechts der Einzelhändler, den Endverkaufspreis von Tabakwaren im Sinne des genannten Art. 15 Abs. 1 frei zu bestimmen, eine gegen die Art. 20 und 21 der Charta verstoßende ungerechtfertigte Ungleichbehandlung von Einzelhändlern, die zugleich Importeure seien, und anderen Einzelhändlern darstelle. Die Bestimmungen der Charta können nämlich jedenfalls nicht dazu führen, dass der Geltungsbereich der Richtlinie 2011/64 auf die Festlegung des von den Einzelhändlern angewandten Mindestpreises ausgeweitet wird, die von der Erhebung der Verbrauchsteuer auf Tabakwaren grundsätzlich nicht betroffen ist.

31

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2011/64 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die es Einzelhändlern verbietet, Tabakwaren zu einem Einheitspreis zu verkaufen, der unter dem Preis liegt, den der Hersteller oder der Importeur auf dem an den Waren angebrachten Steuerzeichen angegeben hat, nicht entgegensteht, soweit dieser Preis vom Hersteller oder vom Importeur frei bestimmt wurde.

Zur zweiten Frage

32

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 34 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, die es Einzelhändlern verbietet, Tabakwaren zu einem Einheitspreis zu verkaufen, der unter dem Preis liegt, den der Hersteller oder der Importeur auf dem an den Waren angebrachten Steuerzeichen angegeben hat.

33

Nach Art. 34 AEUV sind mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen und alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten verboten. Nach ständiger Rechtsprechung ist jede Maßnahme eines Mitgliedstaats, die geeignet ist, den Handel innerhalb der Union unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern, als eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen im Sinne dieser Vorschrift anzusehen (Urteile vom 11. Juli 1974, Dassonville, 8/74, EU:C:1974:82, Rn. 5, und vom 23. Dezember 2015, Scotch Whisky Association u. a., C‑333/14, EU:C:2015:845, Rn. 31).

34

So stellen Hemmnisse für den freien Warenverkehr, die sich in Ermangelung einer Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften daraus ergeben, dass Waren aus anderen Mitgliedstaaten, die dort rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden sind, bestimmten Vorschriften entsprechen müssen, selbst dann Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen dar, wenn diese Vorschriften unterschiedslos für alle Erzeugnisse gelten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Februar 1979, Rewe-Zentral, Cassis de Dijon, 120/78, EU:C:1979:42, Rn. 6, 14 und 15).

35

Hingegen ist die Anwendung nationaler Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten nicht geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten im Sinne dieser Rechtsprechung unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern, sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, ist die Anwendung derartiger Regelungen auf den Verkauf von Erzeugnissen aus einem anderen Mitgliedstaat, die den von diesem Staat aufgestellten Bestimmungen entsprechen, nämlich nicht geeignet, den Marktzugang für diese Erzeugnisse zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse tut (Urteil vom 10. Februar 2009, Kommission/Italien, C‑110/05, EU:C:2009:66, Rn. 36).

36

Daher sind Maßnahmen eines Mitgliedstaats, mit denen bezweckt oder bewirkt wird, Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten weniger günstig zu behandeln, sowie die in Rn. 34 des vorliegenden Urteils genannten Maßnahmen als Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen im Sinne von Art. 34 AEUV anzusehen. Ebenfalls unter diesen Begriff fällt jede sonstige Maßnahme, die den Zugang zum Markt eines Mitgliedstaats für Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten behindert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Februar 2009, Kommission/Italien, C‑110/05, EU:C:2009:66, Rn. 37).

37

Soweit sich eine nationale Regelung über den Preis von Tabakwaren wie Art. 7 § 2bis Nr. 1 des Gesundheitsschutzgesetzes nicht auf die Merkmale dieser Erzeugnisse bezieht, sondern nur die Modalitäten betrifft, unter denen sie verkauft werden dürfen, ist sie als Regelung über Verkaufsmodalitäten anzusehen (vgl. entsprechend Urteil vom 30. April 2009, Fachverband der Buch‑ und Medienwirtschaft, C‑531/07, EU:C:2009:276, Rn. 20).

38

Hinsichtlich der Frage, ob eine solche Regelung die in Rn. 35 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen erfüllt, ist zum einen darauf hinzuweisen, dass eine nationale Vorschrift wie der besagte Art. 7 § 2bis Nr. 1, der es den Einzelhändlern verbietet, Tabakwaren zu einem Einheitspreis zu verkaufen, der unter dem Preis liegt, den der Hersteller oder der Importeur auf dem an den Waren angebrachten Steuerzeichen angegeben hat, für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gilt, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben.

39

Zum anderen ist diese Vorschrift, da sie nicht die Festsetzung des auf dem Steuerzeichen angegebenen Preises durch die Importeure von Waren aus anderen Mitgliedstaaten betrifft und die Importeure den Preis weiterhin frei bestimmen können, nicht geeignet, den Zugang zum belgischen Markt für Tabakwaren aus einem anderen Mitgliedstaat zu versperren oder ihn stärker zu behindern, als sie dies für inländische Tabakwaren tut.

40

Folglich ist eine solche Regelung keine nach Art. 34 AEUV verbotene Maßnahme mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen.

41

In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 34 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die es Einzelhändlern verbietet, Tabakwaren zu einem Einheitspreis zu verkaufen, der unter dem Preis liegt, den der Hersteller oder der Importeur auf dem an den Waren angebrachten Steuerzeichen angegeben hat, nicht entgegensteht, soweit dieser Preis vom Importeur frei bestimmt wurde.

Zur dritten Frage

42

Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 101 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die es Einzelhändlern verbietet, Tabakwaren zu einem Einheitspreis zu verkaufen, der unter dem Preis liegt, den der Hersteller oder der Importeur auf dem an den Waren angebrachten Steuerzeichen angegeben hat.

43

Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs betrifft Art. 101 AEUV zwar nur das Verhalten von Unternehmen und nicht als Gesetz oder Verordnung ergangene Maßnahmen der Mitgliedstaaten, aber in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV, der eine Pflicht zur Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten begründet, verbietet er es den Mitgliedstaaten, Maßnahmen, auch in Form von Gesetzen oder Verordnungen, zu treffen oder beizubehalten, die die praktische Wirksamkeit der für die Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln aufheben könnten (Urteil vom 4. September 2014, API u. a., C‑184/13 bis C‑187/13, C‑194/13, C‑195/13 und C‑208/13, EU:C:2014:2147, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44

Es liegt eine Verletzung von Art. 101 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV vor, wenn ein Mitgliedstaat gegen Art. 101 AEUV verstoßende Kartellabsprachen vorschreibt oder erleichtert oder die Auswirkungen solcher Absprachen verstärkt oder wenn er seiner eigenen Regelung dadurch ihren staatlichen Charakter nimmt, dass er die Verantwortung für in die Wirtschaft eingreifende Entscheidungen privaten Wirtschaftsteilnehmern überträgt (Urteil vom 4. September 2014, API u. a., C‑184/13 bis C‑187/13, C‑194/13, C‑195/13 und C‑208/13, EU:C:2014:2147, Rn. 29).

45

Hingegen verstößt eine Regelung, die nicht darauf gerichtet ist, den Abschluss von Vereinbarungen zwischen Lieferanten und Einzelhändlern oder andere der in Art. 101 Abs. 1 AEUV genannten Verhaltensweisen vorzuschreiben, sondern es vielmehr den Behörden überlässt, die Endverkaufspreise festzusetzen, nicht gegen diese Vorschrift in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Januar 1985, Cullet undChambre syndicale des réparateurs automobiles et détaillants de produits pétroliers, 231/83, EU:C:1985:29, Rn. 17 und 18). Ferner wird der Abschluss wettbewerbswidriger Vereinbarungen durch eine Regelung, die ein aus sich heraus wirksames Verbot ausspricht, weder vorgeschrieben noch erleichtert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. November 1991, Ohra Schadeverzekeringen, C‑245/91, EU:C:1993:887, Rn. 11).

46

Wie in Rn. 28 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, hat eine nationale Regelung wie Art. 7 § 2bis Nr. 1 des Gesundheitsschutzgesetzes die Wirkung, den Einzelhändlern für den Verkauf von Tabakwaren an den Verbraucher einen Verkaufspreis vorzuschreiben, nämlich den Preis, den der Hersteller oder der Importeur auf dem an diesen Waren angebrachten Steuerzeichen angegeben hat. Eine solche Regelung schreibt den Abschluss von Vereinbarungen zwischen Lieferanten und Einzelhändlern weder vor noch erleichtert sie ihn, sondern sie ist aus sich heraus wirksam, da sie direkt bewirkt, dass die Einzelhändler einen festen Preis anwenden. Zudem geht aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten nicht hervor, dass dem Erlass von Art. 7 § 2bis Nr. 1 des Gesundheitsschutzgesetzes eine Vereinbarung über verbindliche Weiterverkaufspreise im Tabakwarensektor vorausging.

47

Im Übrigen überträgt dieser Art. 7 § 2bis Nr. 1 nicht privaten Wirtschaftsteilnehmern die Verantwortung dafür, den von den Einzelhändlern angewandten Preis festzulegen oder andere in die Wirtschaft eingreifende Entscheidungen zu treffen.

48

Somit ist eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht geeignet, Art. 101 Abs. 1 AEUV die praktische Wirksamkeit zu nehmen.

49

Nach den vorstehenden Erwägungen ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 101 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen ist, dass er nicht einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die es Einzelhändlern verbietet, Tabakwaren zu einem Einheitspreis zu verkaufen, der unter dem Preis liegt, den der Hersteller oder der Importeur auf dem an den Waren angebrachten Steuerzeichen angegeben hat.

Kosten

50

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2011/64/EU des Rates vom 21. Juni 2011 über die Struktur und die Sätze der Verbrauchsteuern auf Tabakwaren ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die es Einzelhändlern verbietet, Tabakwaren zu einem Einheitspreis zu verkaufen, der unter dem Preis liegt, den der Hersteller oder der Importeur auf dem an den Waren angebrachten Steuerzeichen angegeben hat, nicht entgegensteht, soweit dieser Preis vom Hersteller oder vom Importeur frei bestimmt wurde.

 

2.

Art. 34 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die es Einzelhändlern verbietet, Tabakwaren zu einem Einheitspreis zu verkaufen, der unter dem Preis liegt, den der Hersteller oder der Importeur auf dem an den Waren angebrachten Steuerzeichen angegeben hat, nicht entgegensteht, soweit dieser Preis vom Importeur frei bestimmt wurde.

 

3.

Art. 101 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV ist dahin auszulegen, dass er nicht einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die es den Einzelhändlern verbietet, Tabakwaren zu einem Einheitspreis zu verkaufen, der unter dem Preis liegt, den der Hersteller oder der Importeur auf dem an den Waren angebrachten Steuerzeichen angegeben hat.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.

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