Urteil vom Europäischer Gerichtshof - C-572/15

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

5. Oktober 2016 ( *1 )

[Berichtigt durch Beschluss vom 13. Dezember 2016]

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Gewerbliches und kommerzielles Eigentum — Patent — Ergänzendes Schutzzertifikat — Verordnung (EG) Nr. 469/2009 — Art. 21 Abs. 2 — Übergangsbestimmungen — Zertifikat, das nach den nationalen Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vor dessen Beitritt zur Europäischen Union erteilt worden ist — Auslegung von Art. 21 Abs. 2 — Laufzeit des Zertifikats — Gültigkeit von Art. 21 Abs. 2 — Anpassung des Sekundärrechts, das sich unmittelbar aus der Beitrittsakte ergibt — Unzuständigkeit des Gerichtshofs“

In der Rechtssache C‑572/15

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Riigikohus (Staatsgerichtshof, Estland) mit Entscheidung vom 21. Oktober 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 2. November 2015, in dem Verfahren

F. Hoffmann-La Roche AG

gegen

Accord Healthcare OÜ

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin C. Toader (Berichterstatterin), der Richterin A. Prechal und des Richters E. Jarašiūnas,

Generalanwalt: M. Wathelet,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der F. Hoffmann-La Roche AG, vertreten durch C. Ginter und K. Lepasepp, vandeadvokaadid, sowie A. Sehver und T. Nelsas, patendivolinikud,

der Accord Healthcare OÜ, vertreten durch R. Antsmäe, vandeadvokaat,

der estnischen Regierung, vertreten durch K. Kraavi-Käerdi als Bevollmächtigte,

der tschechischen Regierung, vertreten durch J. Vláčil, S. Šindelková und M. Smolek als Bevollmächtigte,

des Europäischen Parlaments, vertreten durch J. Rodrigues, I. McDowell und M. Allik als Bevollmächtigte,

des Rates der Europäischen Union, vertreten durch M. Balta und M. Alver als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch T. Scharf, J. Samnadda und E. Randvere als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit und Auslegung von Art. 21 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel (ABl. 2009, L 152, S. 1) in der durch die Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Kroatien und die Anpassungen des Vertrags über die Europäische Union, des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. 2012, L 112, S. 21) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 469/2009).

2

Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen der F. Hoffmann-La Roche AG (im Folgenden: Roche) und der Accord Healthcare OÜ (im Folgenden: Accord) über die Frage, ob gewerbliche Schutzrechte von Roche den von Accord hergestellten Generika entgegengehalten werden können.

Rechtlicher Rahmen

3

Anhang II der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 2003, L 236, S. 33) enthält eine Rubrik 4. C. II („Ergänzende Schutzzertifikate“).

4

Nr. 1 Buchst. b dieser Rubrik sieht vor, dass Art. 20 der Verordnung (EWG) Nr. 1768/92 des Rates vom 18. Juni 1992 über die Schaffung eines ergänzenden Schutzzertifikats für Arzneimittel (ABl. 1992, L 182, S. 1) in der durch die Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 1994, C 241, S. 21) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1768/92) um folgenden Abs. 2 ergänzt wird:

„Diese Verordnung findet auf ergänzende Schutzzertifikate Anwendung, die vor dem Tag des Beitritts nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften der Tschechischen Republik, Estlands, Zyperns, Lettlands, Litauens, Maltas, Polens, Sloweniens und der Slowakei erteilt wurden.“

5

Wie im ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 469/2009 dargelegt, wurde die Verordnung Nr. 1768/92 mehrfach und erheblich geändert, weshalb der Gesetzgeber der Union beschlossen hat, aus Gründen der Übersichtlichkeit und der Klarheit diese Verordnung zu kodifizieren.

6

Der neunte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 469/2009 lautet:

„Die Dauer des durch das Zertifikat gewährten Schutzes sollte so festgelegt werden, dass dadurch ein ausreichender tatsächlicher Schutz erreicht wird. Hierzu müssen demjenigen, der gleichzeitig Inhaber eines Patents und eines Zertifikats ist, insgesamt höchstens fünfzehn Jahre Ausschließlichkeit ab der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen des betreffenden Arzneimittels in der Gemeinschaft eingeräumt werden.“

7

Art. 13 („Laufzeit des Zertifikats“) dieser Verordnung bestimmt:

„(1)   Das Zertifikat gilt ab Ablauf der gesetzlichen Laufzeit des Grundpatents für eine Dauer, die dem Zeitraum zwischen der Einreichung der Anmeldung für das Grundpatent und dem Zeitpunkt der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der Gemeinschaft entspricht, abzüglich eines Zeitraums von fünf Jahren.

(2)   Ungeachtet des Absatzes 1 beträgt die Laufzeit des Zertifikats höchstens fünf Jahre vom Zeitpunkt seines Wirksamwerdens an.

…“

8

Art. 21 Abs. 2 der Verordnung Nr. 469/2009, dessen Wortlaut im Wesentlichen Art. 20 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1768/92 entspricht, wobei diese Bestimmung jedoch noch nicht die Republik Kroatien betraf, lautet:

„Diese Verordnung findet auf ergänzende Schutzzertifikate Anwendung, die vor dem jeweiligen Tag des Beitritts nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften der Tschechischen Republik, Estlands, Kroatiens, Zyperns, Lettlands, Litauens, Maltas, Polens, Rumäniens, Sloweniens und der Slowakei erteilt wurden.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

9

Roche, eine Gesellschaft mit Sitz in der Schweiz, vertreibt in Estland ein Arzneimittel mit der Bezeichnung „Xeloda“, dessen Wirkstoff Capecitabin ist und für das sie das am 15. April 1998 erteilte Grundpatent Nr. 03086 (im Folgenden: Grundpatent) innehat. Um dieses Arzneimittel vertreiben zu können, ließ Roche Xeloda erstmals am 8. Juni 2001 in Estland registrieren und erhielt für das Arzneimittel auf Antrag vom 1. August 2001 auf Erteilung des ergänzenden Schutzzertifikats das ergänzende Schutzzertifikat Nr. 00001, das am 24. Oktober 2001 vom Patendiamet (Patentamt, Estland) erteilt wurde.

10

Die Accord Healthcare Limited erhielt über eine Tochtergesellschaft, Accord, mit Sitz in Estland, die Zulassung für ein Generikum, dessen Wirkstoff ebenfalls Capecitabin ist. Die Tochtergesellschaft beantragte am 3. Oktober 2014 beim estnischen Sozialministerium, ihr Generikum in das nach nationalem Recht vorgesehene Arzneimittelverzeichnis aufzunehmen, wodurch die Kosten dieses Arzneimittels für den Sozialversicherten gesenkt würden, da die nationale Krankenkasse einen Teil seiner Kosten übernehme. Am 4. Dezember 2014 gab das Sozialministerium dem Antrag auf Aufnahme in das Verzeichnis statt. Accord wollte ihr eigenes Medikament am 15. Dezember 2014 auf den estnischen Markt bringen.

11

Am 8. Dezember 2014 erhob Roche eine Klage vor dem Harju Maakohus (erstinstanzliches Gericht Harju, Estland), mit der Accord verpflichtet werden sollte, Tätigkeiten zu unterlassen und/oder zu beenden, die das ausschließliche Recht von Roche als Inhaberin des ergänzenden Schutzzertifikats für Xeloda verletzten, und zwar bis zum Ende der Gültigkeit dieses Zertifikats, d. h. – nach ihrer Ansicht – bis zum 8. Juni 2016, sowie ihr bis zu diesem Zeitpunkt zu untersagen, Arzneimittel, die den Wirkstoff Capecitabin enthielten, in Estland auf den Markt zu bringen, zum Verkauf anzubieten, zu verkaufen und zu bewerben. Darüber hinaus beantragte Roche bei diesem Gericht, die Vernichtung aller im Eigentum oder Besitz von Accord befindlichen Arzneimittel mit dem Wirkstoff Capecitabin anzuordnen.

12

Zur Stützung ihrer verschiedenen Anträge machte Roche geltend, sie sei bis zum 18. November 2014 Inhaberin des Grundpatents und Inhaberin des ergänzenden Schutzzertifikats für Xeloda, das am 8. Juni 2016 erlösche, gewesen.

13

Unter Berufung darauf, dass ihr durch das Inverkehrbringen des Generikums von Accord ein erheblicher Schaden entstehen würde, den sie mit einem Umsatzrückgang von 50 %, d. h. mit etwa 460000 Euro, bewertet, beantragte Roche gleichzeitig Maßnahmen zur Sicherung ihrer Klageforderung, die zum einen darin bestehen, alle im Eigentum von Accord stehenden Arzneimittel zu beschlagnahmen und es dieser zu untersagen, in ihrem Besitz befindliche Arzneimittel mit dem Wirkstoff Capecitabin Dritten zu überlassen, und zum anderen in dem Verbot, Arzneimittel, die diesen Wirkstoff enthalten, bis zur Rechtskraft der Gerichtsentscheidung, jedoch nicht länger als bis zum 8. Juni 2016, in Estland zu vertreiben, zum Verkauf anzubieten, zu verkaufen oder zu bewerben.

14

Accord beantragte, die Klage abzuweisen und erhob zudem am 6. Februar 2015 eine Widerklage, mit der sie beantragte, das ergänzende Schutzzertifikat für nichtig zu erklären oder festzustellen, dass dieses Zertifikat nicht wirksam geworden ist und nicht wirksam werden kann.

15

Mit Beschluss vom 15. Dezember 2014 gab der Harju Maakohus (erstinstanzliches Gericht Harju) dem Antrag der Klägerin auf Erlass von Sicherungsmaßnahmen statt.

16

Accord focht diesen Beschluss an und beantragte seine Aufhebung durch den Harju Maakohus (erstinstanzliches Gericht Harju). Nach Auffassung von Accord konnten keine solchen Sicherungsmaßnahmen gewährt werden, da Roche nicht über ein ausschließliches Recht für Capecitabin bis zum 8. Juni 2016 verfügt habe und ihre Klage daher in der Sache aussichtslos gewesen sei. Im Beschluss vom 13. Februar 2014, Merck Canada (C‑555/13, EU:C:2014:92), habe der Gerichtshof nämlich befunden, dass Art. 13 der Verordnung Nr. 469/2009 in Verbindung mit deren neuntem Erwägungsgrund dahin ausgelegt werden müsse, dass derjenige, der gleichzeitig Inhaber eines Patents und eines ergänzenden Schutzzertifikats sei, nicht die gesamte nach diesem Art. 13 berechnete Gültigkeitsdauer dieses Zertifikats in Anspruch nehmen könne, wenn ihm mit einer solchen Dauer für einen Wirkstoff für mehr als 15 Jahre ab der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen des aus diesem Wirkstoff zusammengesetzten oder ihn enthaltenden Arzneimittels in der Europäischen Union eine Ausschließlichkeit zugutekäme. Da die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen des Capecitabin enthaltenden Arzneimittels in der Union am 10. Juni 1998 erteilt worden sei, sei die Höchstdauer des ergänzenden Schutzes, auf die sich Roche hätte berufen können, 15 Jahre ab diesem ersten Inverkehrbringen, d. h. vom 10. Juni 1998 bis zum 10. Juni 2013. Da das Grundpatent wie auch das ergänzende Schutzzertifikat für Xeloda am 10. Juni 2013 abgelaufen sei, habe Roche daher nicht mehr über ein ausschließliches Recht an Capecitabin verfügt.

17

Der Harju Maakohus (erstinstanzliches Gericht Harju) verwies die Rechtssache zur Entscheidung über diese Beschwerde an den Tallinna ringkonnakohus (Bezirksgericht Tallinn, Estland).

18

Dieser hob den Beschluss des Harju Maakohus (erstinstanzliches Gericht Harju) vom 15. Dezember 2014 sowie die entsprechenden Sicherungsmaßnahmen mit Beschluss vom 26. Februar 2015 auf.

19

Mit ihrer Beschwerde vor dem Riigikohus (Staatsgerichtshof, Estland) begehrt Roche, den Beschluss des Tallinna ringkonnakohus (Bezirksgericht Tallinn) aufzuheben und den Beschluss des Harju Maakohus (erstinstanzliches Gericht Harju) zu bestätigen.

20

Nach Auffassung von Roche hat der Tallinna ringkonnakohus (Bezirksgericht Tallinn) Art. 21 Abs. 2 der Verordnung Nr. 469/2009 falsch ausgelegt. Zudem stehe die Auslegung der Rückwirkung der Verordnung Nr. 469/2009 durch dieses Gericht im Widerspruch zu anderen Unionsrechtsakten und namentlich der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

21

Roche macht geltend, dass das ergänzende Schutzzertifikat entgegen der Entscheidung des Tallinna ringkonnakohus (Bezirksgericht Tallinn) gültig sei, da es zu einer Zeit erteilt worden sei, in der die Republik Estland nicht Mitglied der Union gewesen sei. Daher sei nur das estnische Recht anwendbar gewesen, nach dem für die Gültigkeitsdauer des ergänzenden Schutzzertifikats nicht die Erteilung der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der Union, sondern die Erteilung dieser Genehmigung in Estland maßgeblich gewesen sei. In Art. 21 Abs. 2 der Verordnung Nr. 469/2009 sei nicht ausdrücklich geregelt, dass die Gültigkeitsdauer der ergänzenden Schutzzertifikate, die vor dem Beitritt des betreffenden Mitgliedstaats zur Union erteilt worden seien, neu zu berechnen sei. Somit verstoße die Auslegung dieser Bestimmung durch den Tallinna ringkonnakohus (Bezirksgericht Tallinn) gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit. Das ergänzende Schutzzertifikat für Xeloda habe daher bis zum 8. Juni 2016 gegolten, d. h. 15 Jahre nach Erteilung der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen des Arzneimittels in Estland gemäß dem damals geltenden nationalen Recht. Zweck von Art. 21 Abs. 2 der Verordnung Nr. 469/2009 sei es, den Inhabern nationaler ergänzender Schutzzertifikate aus der Zeit vor dem Beitritt des betroffenen Mitgliedstaats die Wahrnehmung ihrer Rechte zu ermöglichen, und weder nach dem Inhalt noch nach dem Zweck dieser Bestimmung sei sie rückwirkend auf früher nach dem nationalen Recht erteilte ergänzende Schutzzertifikate anzuwenden. Die Bezugnahme auf den Beschluss vom 13. Februar 2014, Merck Canada (C‑555/13, EU:C:2014:92), sei nicht stichhaltig, da dieser Beschluss nicht die zeitliche Anwendung von Art. 21 Abs. 2 der Verordnung Nr. 469/2009 betreffe.

22

Das vorlegende Gericht weist zum einen darauf hin, dass der Gerichtshof in diesem Beschluss zwar Art. 13 der Verordnung Nr. 469/2009 in Verbindung mit deren neuntem Erwägungsgrund ausgelegt habe, sich dieser Beschluss aber weder auf die Auslegung von Art. 21 Abs. 2 der Verordnung Nr. 469/2009 beziehe noch auf die sich daraus ergebende rückwirkende Rechtsanwendung, da es in der Rechtssache, die zu diesem Beschluss geführt habe, nicht um einen neuen Mitgliedstaat gegangen sei. Es sei daher nicht völlig klar gewesen, ob die daraus folgenden Erkenntnisse auch auf ergänzende Schutzzertifikate Anwendung fänden, die nach estnischem Recht vor dem Beitritt der Republik Estland zur Union am 1. Mai 2004 erteilt worden seien.

23

Zum anderen und für den Fall, dass der Gerichtshof entscheiden sollte, dass die Laufzeit eines ergänzenden Schutzzertifikats zu verkürzen sei, macht das vorlegende Gericht Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit dem Primärrecht der Union, insbesondere den allgemeinen Grundsätzen der Union in Bezug auf den Schutz erworbener Rechte und das Verbot der Rückwirkung sowie mit den Art. 16 und 17 der Charta, geltend.

24

Unter diesen Umständen hat der Riigikohus (Staatsgerichtshof) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Ist Art. 21 Abs. 2 der Verordnung Nr. 469/2009 dahin auszulegen, dass sich die Laufzeit eines ergänzenden Schutzzertifikats verkürzt, das in einem Mitgliedstaat vor dessen Beitritt zur Europäischen Union nach nationalem Recht erteilt wurde und dessen Laufzeit für einen Wirkstoff nach den in diesem Zertifikat enthaltenen Angaben länger wäre als 15 Jahre ab dem Zeitpunkt der Erteilung der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen eines aus dem betreffenden Wirkstoff zusammengesetzten oder ihn enthaltenden Arzneimittels in der Union?

2.

Falls die erste Frage bejaht wird: Steht Art. 21 Abs. 2 der Verordnung Nr. 469/2009 im Einklang mit dem Unionsrecht, insbesondere mit den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts über den Schutz erworbener Rechte, dem Rückwirkungsverbot und der Charta?

Vorlagefragen

Zweite Frage

25

Mit seiner zweiten Frage, die als Erstes zu prüfen ist, begehrt das vorlegende Gericht Aufschluss über die Gültigkeit von Art. 21 Abs. 2 der Verordnung Nr. 469/2009 im Licht des Unionsrechts.

26

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 267 Abs. 1 Buchst. b AEUV dem Gerichtshof die Zuständigkeit verleiht, im Wege der Vorabentscheidung sowohl über die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union als auch über die Gültigkeit dieser Handlungen zu entscheiden.

27

Vorliegend wurde, wie sich aus Rn. 4 des vorliegenden Urteils ergibt, Art. 20 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1768/92 durch die Akte über den Beitritt der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge in diese Verordnung eingefügt.

28

Nach diesem Art. 20 Abs. 2 findet die Verordnung Nr. 1768/92 auf ergänzende Schutzzertifikate Anwendung, „die vor dem jeweiligen Tag des Beitritts nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften der Tschechischen Republik, Estlands, Zyperns, Lettlands, Litauens, Maltas, Polens, Rumäniens, Sloweniens und der Slowakei erteilt wurden“.

29

Die Verordnung Nr. 1768/92 wurde durch die Verordnung Nr. 469/2009 kodifiziert, so dass aus Art. 20 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1768/92 Art. 21 Abs. 2 der Verordnung Nr. 469/2009 wurde.

30

Was eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche angeht, hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass die Anpassungen im Anhang eines Beitrittsakts Gegenstand eines Abkommens zwischen den Mitgliedstaaten und dem antragstellenden Staat sind und dass sie keinen Rechtsakt eines Organs darstellen, sondern primärrechtliche Bestimmungen, die nur nach den für die Revision der ursprünglichen Verträge vorgesehenen Verfahren ausgesetzt, geändert oder aufgehoben werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. April 1988, LAISA und CPC España/Rat, 31/86 und 35/86, EU:C:1988:211, Rn. 12).

31

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die unterschiedliche Behandlung, die sich aus den vorangegangenen Ausführungen ergibt, nicht willkürlich, sondern nur die Folge des zum Erlass dieser Bestimmungen jeweils gewählten Verfahrens ist. Während einige dieser Bestimmungen aufgrund von Handlungen der Organe erlassen worden sind, die als solche der im AEU-Vertrag vorgesehenen allgemeinen Rechtmäßigkeitskontrolle unterliegen, stellen die Bestimmungen, die sich unmittelbar aus einer Beitrittsakte ergeben, keine Rechtsakte der Organe dar und können daher nicht einer solchen Kontrolle unterzogen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. April 1988, LAISA und CPC España/Rat, 31/86 und 35/86, EU:C:1988:211, Rn. 17).

32

Darüber hinaus ändert, wie das Europäische Parlament geltend gemacht hat, der Umstand, dass die Verordnung Nr. 1768/92 aufgehoben und durch die Verordnung Nr. 469/2009 ersetzt worden ist, nichts an den vorstehend angeführten Argumenten, da diese Verordnung sich darauf beschränkt, aus Gründen der Klarheit und Übersichtlichkeit die Änderungen an der ursprünglichen Fassung zu kodifizieren, wobei sie jedoch ihren Inhalt beibehält.

33

Daher ist der Gerichtshof für eine Entscheidung über die Gültigkeit von Art. 21 Abs. 2 der Verordnung Nr. 469/2009 nicht zuständig.

Erste Frage

34

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 21 Abs. 2 der Verordnung Nr. 469/2009 dahin auszulegen ist, dass er auf ein ergänzendes Schutzzertifikat für ein bestimmtes Arzneimittel Anwendung findet, das von einem Mitgliedstaat vor dessen Beitritt zur Union erteilt wurde.

35

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 21 Abs. 2 der Verordnung Nr. 469/2009 klarstellt, dass diese Verordnung auf ergänzende Schutzzertifikate Anwendung findet, die vor dem Tag des Beitritts der Republik Estland nach Maßgabe ihrer einzelstaatlichen Rechtsvorschriften erteilt worden sind.

36

Sodann sieht Art. 13 dieser Verordnung in Verbindung mit deren neuntem Erwägungsgrund vor, dass demjenigen, der gleichzeitig Inhaber eines Patents und eines ergänzenden Schutzzertifikats ist, höchstens 15 Jahre Ausschließlichkeit ab der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen des betreffenden Arzneimittels in der Union eingeräumt werden kann (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 13. Februar 2014, Merck Canada, C‑555/13, EU:C:2014:92, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37

Daher hängt, wie die estnische Regierung hervorhebt, seit dem 1. Mai 2004 die Laufzeit des ergänzenden Schutzzertifikats nicht von der Erteilung der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der Republik Estland, sondern von der Erteilung der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der Union ab.

38

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Wendung „Genehmigung für das Inverkehrbringen in der [Union]“ im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 nicht auf die erste im Anmeldemitgliedstaat erteilte Genehmigung für das Inverkehrbringen, sondern auf die erste in einem beliebigen Mitgliedstaat erteilte Genehmigung abstellt. Nur diese Auslegung kann gewährleisten, dass die Ausweitung des durch das Patent gewährten Schutzes im Zusammenhang mit dem unter das Zertifikat fallenden Erzeugnis in allen Mitgliedstaaten, in denen das Zertifikat erteilt wurde, zum selben Zeitpunkt endet (Beschluss vom 13. Februar 2014, Merck Canada, C‑555/13, EU:C:2014:92, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39

[In der durch den Beschluss vom 13. Dezember 2016 berichtigten Fassung] Im vorliegenden Fall geht jedoch aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen von Xeloda nicht von einem Mitgliedstaat der Union, sondern am 10. Juni 1998 von einem Drittstaat, nämlich der Schweizerischen Eidgenossenschaft, erteilt worden ist. Der Gerichtshof hat jedoch bereits entschieden, dass, soweit die Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels, die von den schweizerischen Behörden erteilt worden ist und vom Fürstentum Liechtenstein gemäß den Rechtsvorschriften dieses Staates automatisch anerkannt wird, die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen dieses Arzneimittels in einem der Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) ist, die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen im Sinne von Art. 13 der Verordnung Nr. 1768/92 darstellt, wie er für die Anwendung des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 (ABl. 1994, L 1, S. 3) zu verstehen ist (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 14. November 2013, Astrazeneca, C‑617/12, EU:C:2013:761, Rn. 41 und 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40

Darüber hinaus ist der Umstand, dass die in der Schweiz erteilten Genehmigungen für das Inverkehrbringen den Verkehr mit den zugelassenen Arzneimitteln im Gebiet des EWR mit Ausnahme Liechtensteins nicht ermöglichen, für die Auslegung von Art. 13 der Verordnung Nr. 469/2009, wie er für die Anwendung des EWR-Abkommens zu verstehen ist, unerheblich (Beschluss vom 14. November 2013, Astrazeneca, C‑617/12, EU:C:2013:761, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41

[In der durch den Beschluss vom 13. Dezember 2016 berichtigten Fassung] Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass die Wirkungen einer wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen den Wirkungen einer „ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der [Union]“ im Sinne von Art. 13 der Verordnung Nr. 469/2009 gleichstehen.

42

Unter den Umständen des Ausgangsverfahrens und zum Zweck der Berechnung der Laufzeit des ergänzenden Schutzzertifikats ist daher, wie aus den Ausführungen des vorlegenden Gerichts hervorgeht, nicht der Zeitpunkt zugrunde zu legen, zu dem die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen von Xeloda in Estland erteilt worden ist, d. h. der 8. Juni 2001, sondern der Zeitpunkt, zu dem sie in der Schweiz erteilt worden ist, d. h. der 10. Juni 1998.

43

Es ist schließlich zum einen darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs eine neue Vorschrift des materiellen Unionsrechts unmittelbar auf die künftigen Auswirkungen eines Sachverhalts anzuwenden ist, der unter der Geltung der alten Vorschrift entstanden ist. Darüber hinaus gelten ab dem Beitritt eines neuen Mitgliedstaats die Bestimmungen des Unionsrechts nach Maßgabe der ursprünglichen Verträge und der jeweiligen Beitrittsakte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. September 2013, Kuso, C‑614/11, EU:C:2013:544, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44

Zum anderen gilt, wie die estnische Regierung und die Kommission geltend gemacht haben, das ergänzende Schutzzertifikat im Einklang mit dem Wortlaut von Art. 13 der Verordnung Nr. 469/2009 erst ab Ablauf der gesetzlichen Laufzeit des Grundpatents.

45

Im vorliegenden Fall ist dieses Patent unstreitig aber erst nach dem Beitritt des betroffenen Mitgliedstaats abgelaufen.

46

Da diese Verordnung bei Ablauf dieses Patents und zu dem Zeitpunkt, zu dem das ergänzende Schutzzertifikat Wirkung entfalten konnte, bereits in Kraft war, kann von einer rückwirkenden Anwendung dieser Verordnung keine Rede sein.

47

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 21 Abs. 2 der Verordnung Nr. 469/2009 dahin auszulegen ist, dass er auf ein ergänzendes Schutzzertifikat für ein bestimmtes Arzneimittel Anwendung findet, das von einem Mitgliedstaat vor dessen Beitritt zur Union erteilt wurde. Soweit für dieses Arzneimittel im EWR noch vor der in diesem Mitgliedstaat erteilten Genehmigung für das Inverkehrbringen und gegebenenfalls vor dessen Beitritt zur Union eine Genehmigung für das Inverkehrbringen erteilt wurde, ist für die Bestimmung der Laufzeit des ergänzenden Schutzzertifikats nur diese erste Genehmigung für das Inverkehrbringen zu berücksichtigen.

Kosten

48

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Der Gerichtshof der Europäischen Union ist für eine Entscheidung über die Gültigkeit von Art. 21 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel in der durch die Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Kroatien und die Anpassungen des Vertrags über die Europäische Union, des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft geänderten Fassung nicht zuständig.

 

2.

Art. 21 Abs. 2 der Verordnung Nr. 469/2009 in geänderter Fassung ist dahin auszulegen, dass er auf ein ergänzendes Schutzzertifikat für ein bestimmtes Arzneimittel Anwendung findet, das von einem Mitgliedstaat vor dessen Beitritt zur Europäischen Union erteilt wurde. Soweit für dieses Arzneimittel im Europäischen Wirtschaftsraum noch vor der in diesem Mitgliedstaat erteilten Genehmigung für das Inverkehrbringen und gegebenenfalls vor dessen Beitritt zur Union eine Genehmigung für das Inverkehrbringen erteilt wurde, ist für die Bestimmung der Laufzeit des ergänzenden Schutzzertifikats nur diese erste Genehmigung für das Inverkehrbringen zu berücksichtigen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Estnisch.

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