Urteil vom Europäischer Gerichtshof - C-218/15

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

6. Oktober 2016 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Art. 6 EUV — Art. 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Grundsatz der Rückwirkung des milderen Strafgesetzes — Italienische Staatsangehörige, die die unerlaubte Einreise rumänischer Staatsangehöriger in das italienische Hoheitsgebiet organisiert haben — Vor dem Beitritt Rumäniens zur Union abgeschlossene Handlungen — Auswirkung des Beitritts Rumäniens auf die Straftat der Beihilfe zur illegalen Einwanderung — Durchführung des Unionsrechts — Zuständigkeit des Gerichtshofs“

In der Rechtssache C‑218/15

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale ordinario di Campobasso (Gericht von Campobasso, Italien) mit Entscheidung vom 29. April 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Mai 2015, in dem Strafverfahren gegen

Gianpaolo Paoletti,

Umberto Castaldi,

Domenico Faricelli,

Antonio Angelucci,

Mauro Angelucci,

Antonio D’Ovidio,

Camillo Volpe,

Giampaolo Canzano,

Raffaele Di Giovanni,

Antonio Della Valle

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça (Berichterstatter), der Richter F. Biltgen, A. Borg Barthet und E. Levits sowie der Richterin M. Berger,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: A. Calot Escobar,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn Paoletti, vertreten durch G. Milia, avvocato,

von Herrn Canzano, vertreten durch P. Di Giovanni, avvocato,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von L. D’Ascia, avvocato dello Stato,

der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Eberhard als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Krämer und D. Nardi als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Mai 2016,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 EUV, von Art. 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und von Art. 7 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK).

2

Es ergeht im Rahmen eines gegen Herrn Gianpaolo Paoletti und weitere italienische Staatsangehörige eingeleiteten Strafverfahrens, in dem diese der vor dem Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union erfolgten Beihilfe zur illegalen Einwanderung von rumänischen Staatsangehörigen in das italienische Hoheitsgebiet angeklagt sind.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Nach dem zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2002/90/EG des Rates vom 28. November 2002 zur Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt (ABl. 2002, L 328, S. 17)

„… sollten Maßnahmen getroffen werden, um die Beihilfe zur illegalen Einwanderung zu bekämpfen, und zwar sowohl, wenn diese den unerlaubten Grenzübertritt im engeren Sinne betrifft, als auch, wenn dadurch ein Netzwerk zur Ausbeutung von Menschen unterhalten wird.“

4

Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Jeder Mitgliedstaat legt angemessene Sanktionen für diejenigen fest, die

a)

einer Person, die nicht Angehörige eines Mitgliedstaats ist, vorsätzlich dabei helfen, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Verletzung der Rechtsvorschriften des betreffenden Staates über die Einreise oder die Durchreise von Ausländern einzureisen oder durch dessen Hoheitsgebiet zu reisen;

b)

einer Person, die nicht Angehörige eines Mitgliedstaats ist, zu Gewinnzwecken vorsätzlich dabei helfen, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Verletzung der Rechtsvorschriften des betreffenden Staates über den Aufenthalt von Ausländern aufzuhalten.“

5

Nach Art. 3 dieser Richtlinie trifft jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die in den Art. 1 und 2 der Richtlinie genannten Handlungen Gegenstand wirksamer, angemessener und abschreckender Sanktionen sind.

6

Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/946/JI des Rates vom 28. November 2002 betreffend die Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt (ABl. 2002, L 328, S. 1) hat folgenden Wortlaut:

„Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen um sicherzustellen, dass die in den Artikeln 1 und 2 der Richtlinie 2002/90 … beschriebenen Handlungen mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Strafen bedroht sind, die zu einer Auslieferung führen können.“

Italienisches Recht

7

Art. 12 Abs. 3 und 3a des Decreto legislativo n. 286 – Testo unico delle disposizioni concernenti la disciplina dell’immigrazione e norme sulla condizione dello straniero (Gesetzesdekret Nr. 286 – Einheitstext der Bestimmungen über die Regelung der Einwanderung und die Rechtsstellung von Ausländern) vom 25. Juli 1998 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 191 vom 18. August 1998) in der durch die Legge n. 94 (Gesetz Nr. 94) vom 15. Juli 2009 geänderten Fassung (im Folgenden: Gesetzesdekret Nr. 286/1998) bestimmt:

„3.   Sofern die Handlung nicht den Tatbestand einer schwereren Straftat erfüllt, wird, wer unter Verstoß gegen den vorliegenden Einheitstext die Beförderung von Ausländern nach Italien fördert, leitet, organisiert, finanziert oder durchführt, oder andere Handlungen vornimmt, die darauf gerichtet sind, ihnen die unerlaubte Einreise nach Italien oder in einen anderen Staat, dessen Angehörige sie nicht sind oder in dem sie nicht über eine Niederlassungserlaubnis verfügen, zu ermöglichen, mit Freiheitsstrafe von fünf bis 15 Jahren und Geldstrafe von 15000 Euro für jede Person bestraft, wenn

a)

die Tat die unerlaubte Einreise von mindestens fünf Personen nach Italien oder deren unerlaubten Aufenthalt in Italien betrifft;

b)

das Leben oder die Sicherheit der beförderten Person gefährdet wurden, um ihr die unerlaubte Einreise oder den unerlaubten Aufenthalt zu ermöglichen;

c)

die beförderte Person einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wurde, um ihr die unerlaubte Einreise oder den unerlaubten Aufenthalt zu ermöglichen;

d)

die Tat von mindestens drei Personen gemeinsam oder unter Verwendung grenzüberschreitender Verkehrsdienste oder gefälschter oder verfälschter – oder jedenfalls rechtswidrig erlangter – Dokumente begangen wurde;

e)

die Täter über Waffen oder Sprengstoffe verfügen.

3a.   Erfüllt die Begehung der Taten im Sinne von Abs. 3 zwei oder mehr der unter dessen Buchst. a bis e aufgeführten Tatbestandsmerkmale, wird die dort vorgesehene Strafe erhöht.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

8

Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass die Angeklagten des Ausgangsverfahrens durch die Gründung einer Gesellschaft in Italien, einer fiktiven Zweigniederlassung der Api Construction SRL, einer Gesellschaft rumänischen Rechts, in den Jahren 2004 und 2005 von der Direzione provinciale del lavoro di Pescara (Provinzialdirektion Pescara für Arbeit, Italien) für 30 rumänische Arbeitnehmer Arbeitsgenehmigungen und sodann Erlaubnisse des Aufenthalts in Italien erwirkt haben. Diese Genehmigungen wurden auf der Grundlage von Art. 27 Buchst. g des Gesetzesdekrets Nr. 286/1998 gewährt, der – auf Antrag des Arbeitgebers und über das Einreisekontingent für ausländische Arbeitnehmer hinaus – die vorübergehende Zulassung von Arbeitnehmern ermöglicht, die bei in Italien tätigen Unternehmen beschäftigt sind.

9

Aus der Vorlageentscheidung geht ferner hervor, dass den Angeklagten des Ausgangsverfahrens zur Last gelegt wird, die unerlaubte Einreise dieser rumänischen Staatsangehörigen in einem vor dem Beitritt Rumäniens zur Union liegenden Zeitraum organisiert zu haben, um „aus der intensiven und fortlaufenden Nutzung gering bezahlter ausländischer Arbeitskräfte Profit zu ziehen“.

10

Das vorlegende Gericht möchte zum einen wissen, ob der Beitritt Rumäniens zur Union in Anbetracht von Art. 6 EUV, von Art. 49 der Charta und von Art. 7 EMRK zum Wegfall der Strafbarkeit der vor diesem Beitritt von italienischen Staatsangehörigen begangenen Straftat der Beihilfe zur illegalen Einwanderung von rumänischen Staatsangehörigen geführt hat, und zum anderen, ob für die Angeklagten des Ausgangsverfahrens der Grundsatz der Rückwirkung des milderen Strafgesetzes gelten muss.

11

Unter diesen Umständen hat das Tribunale ordinario di Campobasso (Gericht von Campobasso, Italien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Sind Art. 7 EMRK, Art. 49 der Charta und Art. 6 EUV dahin auszulegen, dass der Beitritt Rumäniens zur Union am 1. Januar 2007 bewirkt hat, dass die Straftat nach Art. 12 des Gesetzesdekrets Nr. 286/1998 in Bezug auf die Beihilfe zur Einwanderung von rumänischen Staatsangehörigen in das Hoheitsgebiet des italienischen Staates und zu deren Aufenthalt in diesem Hoheitsgebiet abgeschafft ist?

2.

Sind die genannten Bestimmungen dahin auszulegen, dass es einem Mitgliedstaat untersagt ist, gegenüber Personen, die vor dem 1. Januar 2007 (oder einem anderen späteren Datum, ab dem der Vertrag seine volle Wirkung entfaltet hat) – dem Datum, an dem der Beitritt Rumäniens zur Union wirksam wurde – gegen Art. 12 des Gesetzesdekrets Nr. 286/1998 verstoßen haben, indem sie Beihilfe zur Einwanderung rumänischer Staatangehöriger geleistet haben, was seit dem 1. Januar 2007 keine Straftat mehr darstellt, den Grundsatz der begünstigenden Rückwirkung (Rückwirkung in mitius) anzuwenden?

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

12

Die italienische Regierung bestreitet die Zulässigkeit der Vorlagefragen mit der Begründung, dass die genannten Bestimmungen des Unionsrechts in einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens nicht zur Anwendung kämen. Die nationalen Bestimmungen über die Straftat der Beihilfe zur illegalen Einwanderung – auch für den Fall, dass die Straftat zugunsten rumänischer Staatsangehöriger vor dem Beitritt Rumäniens zur Union begangen worden sei – fielen nämlich nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts.

13

Insoweit ist daran zu erinnern, dass der Anwendungsbereich der Charta, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in Art. 51 Abs. 1 der Charta definiert ist. Danach gilt diese für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union (Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 17).

14

Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich, dass der Begriff „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 der Charta das Vorliegen eines Zusammenhangs zwischen einem Unionsrechtsakt und der fraglichen nationalen Maßnahme voraussetzt, der darüber hinausgeht, dass die fraglichen Sachbereiche benachbart sind oder der eine von ihnen mittelbare Auswirkungen auf den anderen haben kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. März 2014, Siragusa, C‑206/13, EU:C:2014:126, Rn. 24).

15

Diese Erwägungen entsprechen denen, die Art. 6 Abs. 1 EUV zugrunde liegen, dem zufolge durch die Bestimmungen der Charta die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union in keiner Weise erweitert werden (Urteil vom 8. Mai 2014, Pelckmans Turnhout, C‑483/12, EU:C:2014:304, Rn. 21).

16

Zwar führt die Vorlageentscheidung die Bestimmungen des Unionsrechts, die mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung durchgeführt worden sein sollen, nicht ausdrücklich an.

17

Jedoch verfolgt die Richtlinie 2002/90 ausweislich ihres zweiten Erwägungsgrundes das Ziel, die Beihilfe zur illegalen Einwanderung einzuschränken. Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/946 seinerseits sieht vor, dass jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen trifft, um sicherzustellen, dass die in den Art. 1 und 2 dieser Richtlinie beschriebenen Handlungen mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Strafen bedroht sind, die zu einer Auslieferung führen können.

18

Unabhängig von der Frage, ob das Gesetzesdekret Nr. 286/1998 zum Zweck der Umsetzung der Bestimmungen der Richtlinie 2002/90 und des Rahmenbeschlusses 2002/946 in das italienische Recht erlassen wurde, besteht der Zweck von Strafverfolgungsmaßnahmen zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden darin, die Durchführung dieser Richtlinie und dieses Rahmenbeschlusses sicherzustellen (vgl. entsprechend Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 27 und 28).

19

Zudem ist festzustellen, dass mit den Vorlagefragen im vorliegenden Fall geklärt werden soll, welche Auswirkung der Erwerb der Unionsbürgerschaft durch die rumänischen Staatsangehörigen aufgrund des Beitritts Rumäniens auf die Anwendung der angeführten nationalen Rechtsvorschriften hat, womit die Auslegung des Unionsrechts ins Spiel kommt.

20

Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen zuständig ist.

Zur Begründetheit

Vorbemerkung

21

Gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV sind die durch die EMRK anerkannten Grundrechte als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts. Art. 52 Abs. 3 der Charta legt ferner fest, dass die Rechte der Charta, soweit sie den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie ihnen nach der EMRK verliehen wird. Diese Konvention stellt, solange die Union ihr nicht beigetreten ist, jedoch kein Rechtsinstrument dar, das formell in die Unionsrechtsordnung übernommen worden ist (Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 44, und vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 45).

22

Daher sind lediglich Art. 6 EUV und Art. 49 der Charta heranzuziehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. November 2012, Otis u. a., C‑199/11, EU:C:2012:684, Rn. 47, und vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 46).

Zu den Vorlagefragen

23

Mit seinen Vorlagefragen, die zusammen zu beantworten sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 6 EUV und Art. 49 der Charta dahin auszulegen sind, dass der Beitritt eines Staates zur Union einen anderen Mitgliedstaat nicht daran hindert, gegen Personen, die vor diesem Beitritt die Straftat der Beihilfe zur illegalen Einwanderung zugunsten von Angehörigen des ersteren Staates begangen haben, eine Strafe zu verhängen.

24

In diesem Zusammenhang fragt das vorlegende Gericht auch nach der Anwendung des Grundsatzes der Rückwirkung des milderen Strafgesetzes gegenüber den Angeklagten, die die illegale Einwanderung organisiert haben.

25

Hierzu ist festzustellen, dass dieser Grundsatz, wie er in Art. 49 Abs. 1 der Charta verankert ist, zum Primärrecht der Union gehört. Bereits vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, nach dem die Charta und die Verträge rechtlich gleichrangig sind, hat der Gerichtshof entschieden, dass dieser Grundsatz aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten folgt und dementsprechend zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört, die das nationale Gericht bei der Anwendung des nationalen Rechts zu berücksichtigen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Mai 1997, Kremzow, C‑299/95, EU:C:1997:254, Rn. 14).

26

Der Umstand allein, dass sich der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens in den Jahren 2004 und 2005, also vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009, zugetragen hat, steht der Anwendung der Charta – im vorliegenden Fall ihres Art. 49 Abs. 1 – daher nicht entgegen.

27

Die Anwendung des milderen Strafgesetzes bedeutet notwendigerweise, dass es sich um zeitlich aufeinanderfolgende Rechtsvorschriften handelt, und sie beruht auf der Feststellung, dass der Gesetzgeber entweder hinsichtlich der strafrechtlichen Qualifikation der Handlungen oder der für eine Straftat zu verhängenden Strafe seine Ansicht geändert hat.

28

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der dem Gerichtshof vorgelegten Akte, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Strafbestimmungen, nämlich Art. 12 Abs. 3 und 3a des Gesetzesdekrets Nr. 286/1998, seit der Begehung der den Angeklagten des Ausgangsverfahrens zur Last gelegten Straftaten keine Änderungen erfahren haben. Die Beihilfe zur illegalen Einwanderung nach Italien wird nämlich unverändert mit Freiheitsstrafe von fünf bis 15 Jahren geahndet.

29

Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass sich die zu berücksichtigende Gesetzesänderung im Rahmen eines „außer-strafrechtlichen“ Gesetzes – nämlich der Akte über den Beitritt Rumäniens zur Union – vollzogen habe. Der Erwerb der Unionsbürgerschaft durch die rumänischen Staatsangehörigen nach diesem am 1. Januar 2007 erfolgten Beitritt und die Aufhebung der letzten Beschränkungen im Zusammenhang mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit am 1. Januar 2014 habe die Gründe für die Strafverfolgungsmaßnahmen gegen die Personen, die zu einem davor gelegenen Zeitpunkt die Einwanderung dieser Staatsangehörigen organisiert hätten, entfallen lassen.

30

In einem Urteil vom 10. Januar 2008 habe die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) in der Besetzung als Vereinigte Kammern entschieden, dass der Beitritt Rumäniens zur Union der vor diesem Beitritt erfolgten Beihilfe zur illegalen Einwanderung nicht ihre Rechtswidrigkeit habe nehmen können. Diese Rechtsprechung sei in den Jahren 2011 und 2015 bestätigt worden. Jedoch habe die erste Kammer der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) im Beschluss vom 8. Mai 2007, mit dem sie jene Rechtssache an die Vereinigten Kammern verwiesen habe, die gegenteilige Auffassung vertreten.

31

Daraus ergibt sich die Frage, ob der Erwerb der Unionsbürgerschaft durch die rumänischen Staatsangehörigen einen Einfluss auf die Tatbestandsmerkmale der Zuwiderhandlung und folglich auf die Anwendung der im Ausgangsverfahren fraglichen Strafbestimmungen hat.

32

Art. 12 Abs. 3 und 3a des Gesetzesdekrets Nr. 286/1998 betrifft nicht die Angehörigen von Drittstaaten, die unerlaubt nach Italien einreisen und sich dort ohne einen Aufenthaltstitel aufhalten, sondern die Personen, die Beihilfe zur unerlaubten Einreise und zum unerlaubten Aufenthalt dieser Staatsangehörigen im Hoheitsgebiet dieses Staates leisten. Der bloße Umstand, dass diese Staatsangehörigen nach ihrer unerlaubten Einreise aufgrund des Beitritts ihres Herkunftsstaats zur Union Unionsbürger geworden sind, kann auf den Fortgang der gegen diese Personen, die Beihilfe zur illegalen Einwanderung geleistet haben, eingeleiteten Strafverfahren keinen Einfluss haben.

33

Dieser Erwerb der Unionsbürgerschaft stellt einen faktischen Umstand dar, der nicht geeignet ist, die Tatbestandselemente der Straftat der Beihilfe zur illegalen Einwanderung zu verändern.

34

Wie in Rn. 28 des vorliegenden Urteils ausgeführt, wird mit den im Ausgangsverfahren fraglichen Strafbestimmungen, d. h. Art. 12 Abs. 3 und 3a des Gesetzesdekrets Nr. 286/1998, die Beihilfe zur illegalen Einwanderung nach Italien mit Freiheitsstrafe geahndet und steht damit im Einklang mit Art. 3 der Richtlinie 2002/90 und Art. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/946, denen zufolge eine solche Straftat Gegenstand einer wirksamen, angemessenen und abschreckenden Sanktion sein muss.

35

Die Tatbestandselemente der Straftat der Beihilfe zur illegalen Einwanderung im italienischen Recht sind daher unverändert geblieben, weil der Beitritt Rumäniens zur Union auf die Qualifizierung dieser Zuwiderhandlung keine Auswirkungen hatte.

36

Wie der Generalanwalt in den Nrn. 26 und 27 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, lässt keine Bestimmung der Richtlinie 2002/90 oder einer anderen Regelung des Unionsrechts die Annahme zu, dass der Erwerb der Unionsbürgerschaft zum Wegfall der von Angeklagten wie denen des Ausgangsverfahrens – die sich des Handels mit Arbeitskräften schuldig gemacht haben – begangenen Straftat führen müsste. Eine gegenteilige Entscheidung liefe darauf hinaus, diese Art von Handel ab dem Zeitpunkt zu fördern, zu dem ein Staat in den Prozess zum Beitritt zur Union eingetreten ist, weil die Arbeitskräftehändler dann nämlich über die Gewissheit verfügten, später straffrei auszugehen. Das erreichte Ziel stünde also im Widerspruch zu dem vom Unionsgesetzgeber angestrebten.

37

Darüber hinaus hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass die Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft seit ihrem Inkrafttreten anzuwenden sind. Sie sind deshalb auf die gegenwärtigen Wirkungen von Sachverhalten anzuwenden, die vor diesem Zeitpunkt entstanden sind (Urteile vom 11. Juli 2002, D’Hoop, C‑224/98, EU:C:2002:432, Rn. 25, und vom 21. Dezember 2011, Ziolkowski und Szeja, C‑424/10 und C‑425/10, EU:C:2011:866, Rn. 58).

38

Es lässt sich der Vorlageentscheidung eindeutig entnehmen, dass die den Angeklagten des Ausgangsverfahrens zur Last gelegte Straftat in den Jahren 2004 und 2005 begangen wurde.

39

Wie der Generalanwalt in den Nrn. 36 und 37 seiner Schlussanträge dargelegt hat, ist die Art der Verwirklichung des materiellen Merkmals dieser Straftat allerdings der Kategorie der Zustandsdelikte zuzuordnen. In materieller Hinsicht ist nämlich der Tatbestand der Beihilfe zur Einreise dann erfüllt, wenn der Angehörige eines Drittlands die Außengrenze der Union überschreitet, und der Tatbestand der Beihilfe zum Aufenthalt, wenn ihm die betrügerisch erlangten Dokumente ausgehändigt werden, mittels deren er den Anschein erwecken kann, Anspruch auf die mit der Unionsbürgerschaft oder mit der Stellung eines legalen ausländischen Arbeitnehmers verbundenen Rechte zu haben.

40

Die den Angeklagten des Ausgangsverfahrens zur Last gelegte Straftat war daher vor dem Beitritt Rumäniens zur Union am 1. Januar 2007 und erst recht vor der am 1. Januar 2014 erfolgten Aufhebung der letzten Beschränkungen im Zusammenhang mit der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die Angehörige dieses Staates sind, bereits vollständig und endgültig abgeschlossen.

41

Daraus folgt, dass diese Straftat im vorliegenden Fall keinen vor dem Beitritt Rumäniens zur Union entstandenen Sachverhalt darstellt, dessen sämtliche Folgen nicht bereits vor diesem Beitritt eingetreten wären (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. September 2014, X, C‑318/13, EU:C:2014:2133, Rn. 22 und 23).

42

Nach alledem ist daher auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 6 EUV und Art. 49 der Charta dahin auszulegen sind, dass der Beitritt eines Staates zur Union einen anderen Mitgliedstaat nicht daran hindert, eine Strafe gegen Personen zu verhängen, die vor diesem Beitritt die Straftat der Beihilfe zur illegalen Einwanderung zugunsten von Angehörigen des ersteren Staates begangen haben.

Kosten

43

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 6 EUV und Art. 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass der Beitritt eines Staates zur Union einen anderen Mitgliedstaat nicht daran hindert, eine Strafe gegen Personen zu verhängen, die vor diesem Beitritt die Straftat der Beihilfe zur illegalen Einwanderung zugunsten von Angehörigen des ersteren Staates begangen haben.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.

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Referenzen

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