Urteil vom Europäischer Gerichtshof - C-154/16

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

18. Mai 2017 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Zollkodex der Gemeinschaften — Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 — Art. 94 Abs. 1 und Art. 96 — Externes gemeinschaftliches Versandverfahren — Haftung des Hauptverpflichteten — Art. 203, Art. 204 und Art. 206 Abs. 1 — Entstehung der Zollschuld — Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung — Nichterfüllung einer der sich aus der Inanspruchnahme eines Zollverfahrens ergebenden Pflichten — Vernichtung oder Zerstörung oder unwiederbringlicher Verlust einer Ware aus in ihrer Natur liegenden Gründen, durch Zufall oder infolge höherer Gewalt — Art. 213 — Gesamtschuldnerische Zahlung der Zollschuld — Richtlinie 2006/112/EG — Mehrwertsteuer — Art. 2 Abs. 1 sowie Art. 70 und 71 — Steuertatbestand und Steueranspruch — Art. 201, 202 und 205 — Zur Entrichtung der Steuer verpflichtete Personen — Feststellung des Fehlens von Frachtgut durch die Bestimmungszollstelle — Nicht richtig geschlossene oder beschädigte untere Entladevorrichtung des Kesselwagens“

In der Rechtssache C‑154/16

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Augstākās tiesas Administratīvo lietu departaments (Oberster Gerichtshof, Senat für Verwaltungsstreitsachen, Lettland) mit Entscheidung vom 9. März 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 15. März 2016, in dem Verfahren

„Latvijas Dzelzceļš“ VAS

gegen

Valsts ieņēmumu dienests

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Vilaras sowie der Richter M. Safjan (Berichterstatter) und D. Šváby,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der lettischen Regierung, vertreten durch G. Bambāne, D. Pelše und I. Kalniņš als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Grønfeldt, M. Wasmeier und A. Sauka als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 94 Abs. 1, Art. 96, 203, 204, Art. 206 Abs. 1 und Art. 213 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. 1992, L 302, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 648/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005 (ABl. 2005, L 117, S. 13) geänderten Fassung (im Folgenden: Zollkodex) sowie von Art. 2 Abs. 1 Buchst. d, Art. 70, 71, 201, 202 und 205 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der „Latvijas Dzelzceļš“ VAS (im Folgenden: LDz), einer staatlichen Aktiengesellschaft, die als Hauptverpflichteter im Sinne des Zollkodex auftritt, und dem Valsts ieņēmumu dienests (Steuerverwaltung, Lettland) (im Folgenden: VID) wegen der Entrichtung von Einfuhrzoll und Einfuhrmehrwertsteuer.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Zollkodex

3

In Art. 4 Nrn. 9, 10, 12 bis 14, 19 und 21 des Zollkodex heißt es:

„Im Sinne dieses Zollkodex ist oder sind

9.

Zollschuld: die Verpflichtung einer Person, die für eine bestimmte Ware im geltenden Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Einfuhrabgaben (Einfuhrzollschuld) … zu entrichten;

10.

Einfuhrabgaben:

Zölle und Abgaben mit gleicher Wirkung bei der Einfuhr von Waren;

12.

Zollschuldner: eine zur Erfüllung der Zollschuld verpflichtete Person;

13.

zollamtliche Überwachung: allgemeine Maßnahmen der Zollbehörden, um die Einhaltung des Zollrechts und gegebenenfalls der sonstigen für Waren unter zollamtlicher Überwachung geltenden Vorschriften zu gewährleisten;

14.

Zollkontrollen: besondere von den Zollbehörden durchgeführte Handlungen zur Gewährleistung der ordnungsgemäßen Anwendung der zollrechtlichen und sonstigen Vorschriften über den Eingang, den Ausgang, den Versand, die Beförderung und die besondere Verwendung von Waren, die zwischen dem Zollgebiet der Gemeinschaft und Drittländern befördert werden, sowie über das Vorhandensein von Waren ohne Gemeinschaftsstatus; zu diesen Handlungen können die Beschau der Waren, die Überprüfung der Anmeldungsdaten und des Vorhandenseins und der Echtheit elektronischer oder schriftlicher Unterlagen, die Prüfung der Unternehmensbuchführung und sonstiger Aufzeichnungen, die Kontrolle der Beförderungsmittel, die Kontrolle des Gepäcks und sonstiger Waren, die von oder an Personen mitgeführt werden, die Vornahme behördlicher Nachforschungen und andere ähnliche Handlungen gehören;

19.

Gestellung: die Mitteilung an die Zollbehörden in der vorgeschriebenen Form, dass sich die Waren bei der Zollstelle oder an einem anderen von den Zollbehörden bezeichneten oder zugelassenen Ort befinden;

21.

Inhaber des Zollverfahrens: die Person, für deren Rechnung die Zollanmeldung abgegeben wird, oder die Person, der die Rechte und Pflichten der vorgenannten Person im Zusammenhang mit einem Zollverfahren übertragen worden sind“.

4

Art. 37 des Zollkodex sieht vor:

„(1)   Waren, die in das Zollgebiet der Gemeinschaft verbracht werden, unterliegen vom Zeitpunkt des Verbringens an der zollamtlichen Überwachung. Sie können nach dem geltenden Recht Zollkontrollen unterzogen werden.

(2)   Sie bleiben so lange unter zollamtlicher Überwachung, wie es für die Ermittlung ihres zollrechtlichen Status erforderlich ist, und, im Fall von Nichtgemeinschaftswaren unbeschadet des Artikels 82 Absatz 1, bis sie ihren zollrechtlichen Status wechseln, in eine Freizone oder ein Freilager verbracht, wiederausgeführt oder nach Artikel 182 vernichtet oder zerstört werden.“

5

Art. 38 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex lautet:

„Die in das Zollgebiet der Gemeinschaft verbrachten Waren sind vom Verbringer unverzüglich und gegebenenfalls unter Benutzung des von den Zollbehörden bezeichneten Verkehrsweges nach Maßgabe der von diesen Behörden festgelegten Einzelheiten zu befördern:

a)

zu der von den Zollbehörden bezeichneten Zollstelle oder einem anderen von diesen Behörden bezeichneten oder zugelassenen Ort“.

6

In Art. 40 des Zollkodex heißt es:

„Waren sind beim Eingang in das Zollgebiet der Gemeinschaft von der Person zu gestellen, die sie dorthin verbracht hat oder die gegebenenfalls die Verantwortung für ihre Weiterbeförderung übernimmt …“

7

Art. 59 Abs. 2 des Zollkodex bestimmt:

„Gemeinschaftswaren, die zur Ausfuhr, zur passiven Veredelung, zum Versandverfahren oder zum Zolllagerverfahren angemeldet worden sind, stehen vom Zeitpunkt der Annahme der Zollanmeldung an unter zollamtlicher Überwachung, bis sie aus dem Zollgebiet der Gemeinschaft verbracht oder vernichtet oder zerstört werden oder bis die Zollanmeldung für ungültig erklärt wird.“

8

Art. 91 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex sieht vor:

„Im externen Versandverfahren können folgende Waren zwischen zwei innerhalb des Zollgebiets der Gemeinschaft gelegenen Orten befördert werden:

a)

Nichtgemeinschaftswaren, ohne dass diese Waren Einfuhrabgaben, anderen Abgaben oder handelspolitischen Maßnahmen unterliegen“.

9

Art. 92 des Zollkodex lautet:

„(1)   Das externe Versandverfahren endet und die Verpflichtungen des Inhabers des Verfahrens sind erfüllt, wenn die in dem Verfahren befindlichen Waren und die erforderlichen Dokumente entsprechend den Bestimmungen des betreffenden Verfahrens am Bestimmungsort der dortigen Zollstelle gestellt werden.

(2)   Die Zollbehörden erledigen das externe Versandverfahren, wenn für sie auf der Grundlage eines Vergleichs der der Abgangszollstelle zur Verfügung stehenden Angaben mit den der Bestimmungszollstelle zur Verfügung stehenden Angaben ersichtlich ist, dass das Verfahren ordnungsgemäß beendet ist.“

10

Art. 94 Abs. 1 des Zollkodex bestimmt:

„Der Hauptverpflichtete leistet eine Sicherheit, damit die Erfüllung der Zollschuld und die Zahlung der sonstigen Abgaben, die gegebenenfalls für die Waren entstehen, sichergestellt sind.“

11

Art. 96 des Zollkodex lautet:

„(1)   Der Hauptverpflichtete ist der Inhaber des externen gemeinschaftlichen Versandverfahrens. Er hat

a)

die Waren innerhalb der vorgeschriebenen Frist unter Beachtung der von den Zollbehörden zur Nämlichkeitssicherung getroffenen Maßnahmen unverändert der Bestimmungszollstelle zu gestellen;

b)

die Vorschriften über das gemeinschaftliche Versandverfahren einzuhalten.

(2)   Unbeschadet der Pflichten des Hauptverpflichteten nach Absatz 1 ist ein Warenführer oder Warenempfänger, der die Waren annimmt und weiß, dass sie dem gemeinschaftlichen Versandverfahren unterliegen, auch verpflichtet, sie innerhalb der vorgeschriebenen Frist unter Beachtung der von den Zollbehörden zur Nämlichkeitssicherung getroffenen Maßnahmen unverändert der Bestimmungszollstelle zu gestellen.“

12

Art. 202 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex bestimmt:

„Eine Einfuhrzollschuld entsteht,

a)

wenn eine einfuhrabgabenpflichtige Ware vorschriftswidrig in das Zollgebiet der Gemeinschaft verbracht wird …

…“

13

Art. 203 des Zollkodex sieht vor:

„(1)   Eine Einfuhrzollschuld entsteht,

wenn eine einfuhrabgabenpflichtige Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen wird.

(2)   Die Zollschuld entsteht in dem Zeitpunkt, in dem die Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen wird.

(3)   Zollschuldner sind:

die Person, welche die Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen hat;

die Personen, die an dieser Entziehung beteiligt waren, obwohl sie wussten oder billigerweise hätten wissen müssen, dass sie die Ware der zollamtlichen Überwachung entziehen;

die Personen, welche die betreffende Ware erworben oder im Besitz gehabt haben, obwohl sie im Zeitpunkt des Erwerbs oder Erhalts der Ware wussten oder billigerweise hätten wissen müssen, dass diese der zollamtlichen Überwachung entzogen worden war;

gegebenenfalls die Person, welche die Verpflichtungen einzuhalten hatte, die sich aus der vorübergehenden Verwahrung einer einfuhrabgabenpflichtigen Ware oder aus der Inanspruchnahme des betreffenden Zollverfahrens ergeben.“

14

In Art. 204 des Zollkodex heißt es:

„(1)   Eine Einfuhrzollschuld entsteht, wenn in anderen als den in Artikel 203 genannten Fällen

a)

eine der Pflichten nicht erfüllt wird, die sich bei einer einfuhrabgabenpflichtigen Ware aus deren vorübergehender Verwahrung oder aus der Inanspruchnahme des Zollverfahrens, in das sie übergeführt worden ist, ergeben, …

es sei denn, dass sich diese Verfehlungen nachweislich auf die ordnungsgemäße Abwicklung der vorübergehenden Verwahrung oder des betreffenden Zollverfahrens nicht wirklich ausgewirkt haben.

(2)   Die Zollschuld entsteht in dem Zeitpunkt, in dem die Pflicht, deren Nichterfüllung die Zollschuld entstehen lässt, nicht mehr erfüllt wird, oder dem Zeitpunkt, in dem die Ware in das betreffende Zollverfahren übergeführt worden ist, wenn sich nachträglich herausstellt, dass eine der Voraussetzungen für die Überführung dieser Ware in das Verfahren oder für die Gewährung eines ermäßigten Einfuhrabgabensatzes oder einer Einfuhrabgabenfreiheit aufgrund der Verwendung der Ware zu besonderen Zwecken nicht wirklich erfüllt war.

(3)   Zollschuldner ist die Person, welche die Pflichten zu erfüllen hat, die sich bei einer einfuhrabgabenpflichtigen Ware aus deren vorübergehender Verwahrung oder aus der Inanspruchnahme des betreffenden Zollverfahrens ergeben, oder welche die Voraussetzungen für die Überführung der Ware in dieses Zollverfahren zu erfüllen hat.“

15

Art. 206 Abs. 1 des Zollkodex bestimmt:

„(1)   Eine Einfuhrzollschuld gilt für eine bestimmte Ware abweichend von den Artikeln 202 und 204 Absatz 1 Buchstabe a) als nicht entstanden, wenn der Beteiligte nachweist, dass die Pflichten aufgrund

der Artikel 38 bis 41 und 177 zweiter Gedankenstrich,

der vorübergehenden Verwahrung der betreffenden Ware,

der Inanspruchnahme des Zollverfahrens, in das diese Ware übergeführt worden ist,

nicht erfüllt werden konnten, weil die betreffende Ware aus in ihrer Natur liegenden Gründen, durch Zufall oder infolge höherer Gewalt oder mit Zustimmung der Zollbehörden vernichtet oder zerstört worden oder unwiederbringlich verlorengegangen ist.

Im Sinne dieses Absatzes ist eine Ware unwiederbringlich verlorengegangen, wenn sie von niemandem mehr zu verwenden ist.“

16

Art. 213 des Zollkodex lautet:

„Gibt es für eine Zollschuld mehrere Zollschuldner, so sind diese gesamtschuldnerisch zur Erfüllung dieser Zollschuld verpflichtet.“

Verordnung (EWG) Nr. 2454/93

17

Art. 360 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 (ABl. 1993, L 253, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 414/2009 der Kommission vom 30. April 2009 (ABl. 2009, L 125, S. 6) geänderten Fassung bestimmt:

„In den folgenden Fällen hat der Beförderer das Versandbegleitdokument – Versandbegleitdokument/Sicherheit mit einem entsprechenden Vermerk zu versehen und es den Zollbehörden des Landes, auf dessen Gebiet sich das Beförderungsmittel befindet, unter Vorführung der Sendung vorzulegen:

e)

bei jedem Ereignis, Zwischenfall oder Unfall mit möglichen Auswirkungen auf die Einhaltung der Verpflichtungen des Hauptverpflichteten oder des Beförderers.“

Mehrwertsteuerrichtlinie

18

In Art. 2 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:

„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:

d)

die Einfuhr von Gegenständen.“

19

Art. 60 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Die Einfuhr von Gegenständen erfolgt in dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet sich der Gegenstand zu dem Zeitpunkt befindet, in dem er in die Gemeinschaft verbracht wird.“

20

Art. 61 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Abweichend von Artikel 60 erfolgt bei einem Gegenstand, der sich nicht im freien Verkehr befindet und der vom Zeitpunkt seiner Verbringung in die Gemeinschaft einem Verfahren oder einer sonstigen Regelung im Sinne des Artikels 156, der Regelung der vorübergehenden Verwendung bei vollständiger Befreiung von Einfuhrabgaben oder dem externen Versandverfahren unterliegt, die Einfuhr in dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet der Gegenstand nicht mehr diesem Verfahren oder der sonstigen Regelung unterliegt.“

21

Art. 70 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Steuertatbestand und Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Einfuhr des Gegenstands erfolgt.“

22

Art. 71 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„(1)   Unterliegen Gegenstände vom Zeitpunkt ihrer Verbringung in die Gemeinschaft … der Regelung der vorübergehenden Verwendung bei vollständiger Befreiung von Einfuhrabgaben oder dem externen Versandverfahren, treten Steuertatbestand und Steueranspruch erst zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Gegenstände diesem Verfahren oder dieser sonstigen Regelung nicht mehr unterliegen.

Unterliegen die eingeführten Gegenstände Zöllen, landwirtschaftlichen Abschöpfungen oder im Rahmen einer gemeinsamen Politik eingeführten Abgaben gleicher Wirkung, treten Steuertatbestand und Steueranspruch zu dem Zeitpunkt ein, zu dem Tatbestand und Anspruch für diese Abgaben entstehen.

(2)   In den Fällen, in denen die eingeführten Gegenstände keiner der Abgaben im Sinne des Absatzes 1 Unterabsatz 2 unterliegen, wenden die Mitgliedstaaten in Bezug auf Steuertatbestand und Steueranspruch die für Zölle geltenden Vorschriften an.“

23

Art. 201 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Bei der Einfuhr wird die Mehrwertsteuer von der Person oder den Personen geschuldet, die der Mitgliedstaat der Einfuhr als Steuerschuldner bestimmt oder anerkennt.“

24

Art. 202 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Die Mehrwertsteuer wird von der Person geschuldet, die veranlasst, dass die Gegenstände nicht mehr einem Verfahren oder einer sonstigen Regelung im Sinne der Artikel 156, 157, 158, 160 und 161 unterliegen.“

25

Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„In den in den Artikeln 193 bis 200 sowie 202, 203 und 204 genannten Fällen können die Mitgliedstaaten bestimmen, dass eine andere Person als der Steuerschuldner die Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat.“

Lettisches Recht

26

Art. 2 Abs. 2.2 des Likums par pievienotās vērtības nodokli (Mehrwertsteuergesetz) vom 9. März 1995 (Latvijas Vēstnesis, 1995, Nr. 49), das bis 31. Dezember 2012 in Kraft war, sah vor:

„Die Steuer erfasst alle Einfuhren von Waren, sofern in diesem Gesetz nichts anderes vorgesehen ist.“

27

In Art. 12 Abs. 2 dieses Gesetzes hieß es:

„Bei der Einfuhr von Waren wird die Steuer von demjenigen geschuldet, der die Waren in den zollrechtlich freien Verkehr überführt. Die Steuerschuld für eingeführte Waren entsteht, sobald die Zollschuld entsteht …“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

28

Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass LDz, die als Hauptverpflichtete auftrat, am 25. Februar 2011 eine Reihe von Kesselwagen unter Vorlage eines Eisenbahnfrachtbriefs in das externe gemeinschaftliche Versandverfahren im Sinne von Art. 91 des Zollkodex überführte. Die versandte Ware (Lösungsmittel) sollte von dem Warenführer, dem Baltijas Tranzīta Serviss, an die Bestimmungszollstelle, hier die Zollkontrollstelle des Hafens von Ventspils (Lettland), befördert werden.

29

Während des Transports der Ware durch das lettische Hoheitsgebiet wurde an einem dieser Kesselwagen ein Leck an der unteren Entladevorrichtung festgestellt. Am 28. Februar und am 1. März 2011 wurden über die Schäden am betreffenden Kessel und die zur Behebung des Schadens ergriffenen Maßnahmen Standardprotokolle, nämlich ein Kontrollprotokoll und ein Protokoll zur Feststellung des technischen Zustands des Kesselwagens, angefertigt. Am 1. März 2011 wurde zudem in einem Schadensprotokoll festgehalten, dass in dem betreffenden Kessel 2448 kg Frachtgut fehlten.

30

Am 10. März 2011 stellte die Bestimmungszollstelle das Fehlen von 2448 kg Frachtgut fest, das darauf zurückzuführen war, dass die untere Entladevorrichtung eines der fraglichen Kesselwagen nicht richtig verschlossen worden oder beschädigt worden war. Da der Bestimmungszollstelle keine Dokumente über die Gestellung des fehlenden Frachtguts und die ordnungsgemäße Beendigung des externen gemeinschaftlichen Versandverfahrens vorgelegt wurden und keine Beweise dafür vorlagen, dass eine Handlung des Versenders für das Fehlen des Frachtguts ursächlich war, erließ der VID einen Bescheid, in dem er die Zollschuld von LDz auf 63,26 Lats (LVL) (etwa 90,01 Euro) und ihre Mehrwertsteuerschuld auf 228,02 LVL (etwa 324,44 Euro) festsetzte. LDz focht diesen Bescheid an. Der Generaldirektor des VID bestätigte ihn durch Entscheidung vom 16. September 2011.

31

LDz erhob daher Klage beim Administratīvā rajona tiesa (Bezirksverwaltungsgericht, Lettland) auf Nichtigerklärung der letztgenannten Entscheidung und machte geltend, dass im vorliegenden Fall mehrere Personen als Gesamtschuldner für die fragliche Zollschuld in Betracht kämen, insbesondere die für die technische Durchführung des Transports und die ordnungsgemäße Erstellung des Schadensprotokolls verantwortlichen Personen. Zudem habe der VID nicht berücksichtigt, dass das festgestellte Fehlen des Frachtguts darauf zurückzuführen sei, dass die betreffende Ware aus in ihrer Natur liegenden Gründen, durch Zufall oder infolge höherer Gewalt vernichtet oder zerstört worden oder unwiederbringlich verlorengegangen sei.

32

Mit Urteil vom 6. August 2013 wies dieses Gericht die Klage von LDz ab.

33

Mit Urteil vom 8. Dezember 2014 wies das Administratīvā apgabaltiesa (Regionales Verwaltungsgericht, Lettland) die von LDz gegen das erstinstanzliche Urteil eingelegte Berufung zurück.

34

Im Rahmen der Prüfung der von LDz eingelegten Kassationsbeschwerde äußert der Augstākās tiesas Administratīvo lietu departaments (Oberster Gerichtshof, Senat für Verwaltungsstreitsachen, Lettland) zunächst Zweifel hinsichtlich der Frage, ob sich der VID und die vorinstanzlichen Gerichte im vorliegenden Fall zu Recht auf Art. 203 Abs. 1 des Zollkodex über die rechtswidrige Entziehung von Waren aus der zollamtlichen Überwachung gestützt haben. In diesem Zusammenhang weist er darauf hin, dass einerseits der VID die Auffassung vertrete, dass Abschnitt 2.2 des „Handbuchs Versandverfahren“ der Generaldirektion „Steuern und Zollunion“ der Kommission (Arbeitsdokument Taxud/2033/2008 – LV Rev. 4) vom 15. September 2009 auf alle Fälle Anwendung finde, in denen von der Bestimmungszollstelle ein Fehlen von Waren festgestellt werde, während andererseits LDz nachdrücklich darauf hinweise, dass im vorliegenden Fall festgestellt worden sei, dass aus technischen Gründen Lösungsmittel aus dem betreffenden Kessel ausgetreten sei, und die Maßnahmen zur Behebung dieses Mangels festgehalten worden seien.

35

In diesem Zusammenhang stellt sich das vorlegende Gericht die Frage, ob unter Umständen wie denen des vorliegenden Falles nicht vielmehr Art. 204 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex in Verbindung mit der in Art. 206 Abs. 1 des Zollkodex vorgesehenen Ausnahme anzuwenden ist, was erlaube, keine Einfuhrzollschuld festzusetzen, wenn die Vernichtung oder Zerstörung der Waren, die den Eintritt dieser Waren in den Wirtschaftskreislauf der Union ausschließe, nachgewiesen werde.

36

Des Weiteren weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Frage der Befreiung von der Pflicht zur Entrichtung von Einfuhrzoll mit der Frage der Befreiung von der Mehrwertsteuer verknüpft sei. Da die Anwendung des Zollkodex es nicht gebiete, Einfuhrzölle auf Waren festzusetzen, die vernichtet oder zerstört worden seien, während sie sich im externen gemeinschaftlichen Versandverfahren befunden hätten, und daher nicht in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangt seien, sei auch keine Mehrwertsteuer zu entrichten.

37

Auch wenn sich aus Art. 94 Abs. 1 und Art. 96 Abs. 1 des Zollkodex eindeutig ergebe, dass in erster Linie der Hauptverpflichtete für die Zahlung der Zollschuld hafte, und der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung die Bedeutung der dem Hauptverpflichteten auferlegten Haftung für den Schutz der finanziellen Interessen der Union und ihrer Mitgliedstaaten hervorgehoben habe, blieben hinsichtlich der Tragweite der Bestimmungen des Zollkodex, die die Haftung anderer Personen – sei es durch die Erfüllung von sich aus dem externen gemeinschaftlichen Versandverfahren ergebenden Pflichten, sei es durch die Zahlung der Zollschuld – vorsähen, Fragen offen. Sowohl gemäß Art. 203 als auch gemäß Art. 204 des Zollkodex könne nämlich der Kreis der Personen, deren Haftung aufgrund der fraglichen Leckage in Betracht komme, über den Hauptverpflichteten hinausgehen.

38

Vor diesem Hintergrund hat der Augstākās tiesas Administratīvo lietu departaments (Oberster Gerichtshof, Senat für Verwaltungsstreitsachen) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 203 Abs. 1 des Zollkodex dahin auszulegen, dass er stets anwendbar ist, wenn der Bestimmungszollstelle bei einem externen gemeinschaftlichen Versandverfahren nicht die gesamte Ware gestellt wird, auch wenn in angemessener Weise nachgewiesen wird, dass die Ware vernichtet oder zerstört wurde und unwiederbringlich verlorengegangen ist?

2.

Falls die erste Frage verneint wird: Kann der angemessene Nachweis der Vernichtung oder Zerstörung der Waren und demzufolge der Umstand, dass ausgeschlossen ist, dass die Waren in den Wirtschaftskreislauf des Mitgliedstaats gelangen, die Anwendung von Art. 204 Abs. 1 Buchst. a und Art. 206 des Zollkodex rechtfertigen, so dass die während des externen gemeinschaftlichen Versandverfahrens vernichtete oder zerstörte Ware bei der Berechnung der Zollschuld nicht einbezogen wird?

3.

Falls Art. 203 Abs. 1, Art. 204 Abs. 1 Buchst. a und Art. 206 des Zollkodex dahin ausgelegt werden können, dass für während des externen gemeinschaftlichen Versandverfahrens vernichtete oder zerstörte Waren Einfuhrzölle erhoben werden, können dann Art. 2 Abs. 1 Buchst. d, Art. 70 und 71 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin ausgelegt werden, dass zusammen mit den Einfuhrabgaben auch die Mehrwertsteuer zu erheben ist, auch wenn ausgeschlossen ist, dass die Waren tatsächlich in den Wirtschaftskreislauf des Mitgliedstaats gelangt sind?

4.

Ist Art. 96 des Zollkodex dahin auszulegen, dass der Hauptverpflichtete stets für die Zahlung dieser beim externen gemeinschaftlichen Versandverfahren auftretenden Zollschuld haftet, unabhängig davon, ob der Warenführer den Verpflichtungen nachgekommen ist, die Art. 96 Abs. 2 des Zollkodex ihm auferlegt?

5.

Sind Art. 94 Abs. 1, Art. 96 Abs. 1 und Art. 213 des Zollkodex dahin auszulegen, dass die Zollverwaltung eines Mitgliedstaats verpflichtet ist, die gesamtschuldnerische Haftung all jener Personen festzustellen, die nach den Bestimmungen des Zollkodex im konkreten Fall zusammen mit dem Hauptverpflichteten als für die Zollschuld haftbar angesehen werden können?

6.

Sind in dem Fall, dass die vorstehende Frage bejaht wird und dass die Gesetze eines Mitgliedstaats die Verpflichtung zur Zahlung der Mehrwertsteuer für die Einfuhr von Waren im Allgemeinen an das Verfahren knüpfen, in dem die Überführung der Waren in den zollrechtlich freien Verkehr erlaubt wird, Art. 201, 202 und 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass der Mitgliedstaat verpflichtet ist, festzustellen, dass all jene Personen gesamtschuldnerisch für die Zahlung der Mehrwertsteuer haften, die im konkreten Fall nach den Bestimmungen des Zollkodex als für die Zollschuld haftbar angesehen werden können?

7.

Falls die fünfte oder die sechste Frage bejaht wird: Sind Art. 96 Abs. 1 und Art. 213 des Zollkodex sowie Art. 201, 202 und 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass in dem Fall, dass die Zollverwaltung aufgrund eines Irrtums hinsichtlich keiner der Personen, die zusammen mit dem Hauptverpflichteten haften, die gesamtschuldnerische Haftung für die Zollschuld festgestellt hat, dieser Umstand allein die Befreiung des Hauptverpflichteten von der Haftung für die Zollschuld rechtfertigen könnte?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

39

Mit der ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 203 Abs. 1 des Zollkodex dahin auszulegen ist, dass er anwendbar ist, wenn nicht die gesamte Ware, die sich im externen gemeinschaftlichen Versandverfahren befindet, der im Rahmen dieses Verfahrens vorgesehenen Bestimmungszollstelle gestellt wird, weil ein Teil dieser Ware vernichtet oder zerstört wurde oder unwiederbringlich verlorengegangen ist, und dies in angemessener Weise nachgewiesen wird.

40

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 203 Abs. 1 des Zollkodex eine Einfuhrzollschuld entsteht, wenn eine einfuhrabgabenpflichtige Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen wird.

41

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der Begriff „Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung“ im Sinne von Art. 203 Abs. 1 des Zollkodex so zu verstehen, dass er jede Handlung oder Unterlassung umfasst, die dazu führt, dass die zuständige Zollbehörde auch nur zeitweise am Zugang zu einer unter zollamtlicher Überwachung stehenden Ware und an der Durchführung der in Art. 37 Abs. 1 des Zollkodex vorgesehenen Prüfungen gehindert wird (vgl. Urteile vom 1. Februar 2001, D. Wandel, C‑66/99, EU:C:2001:69, Rn. 47, und vom 12. Juni 2014, SEK Zollagentur, C‑75/13, EU:C:2014:1759, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42

Daher stellt jede von der zuständigen Zollbehörde nicht genehmigte unvorsätzliche oder – wie etwa bei einem Diebstahl – vorsätzliche Entfernung einer Ware, die unter zollamtlicher Überwachung steht, vom zugelassenen Lagerort eine Entziehung einer Ware aus der zollamtlichen Überwachung im Sinne von Art. 203 Abs. 1 des Zollkodex dar (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 1. Februar 2001, D. Wandel, C‑66/99, EU:C:2001:69, Rn. 48 und 50, vom 12. Februar 2004, Hamann International, C‑337/01, EU:C:2004:90, Rn. 36, und vom 11. Juli 2013, Harry Winston, C‑273/12, EU:C:2013:466, Rn. 30 und 33). Zudem hat der Gerichtshof entschieden, dass eine in vorläufiger Verwahrung befindliche Ware als der zollamtlichen Überwachung entzogen anzusehen ist, wenn sie zwar zu einem externen gemeinschaftlichen Versandverfahren angemeldet worden ist, jedoch nicht das Lager verlässt und nicht der Bestimmungszollstelle gestellt wird, obwohl dieser die Versandpapiere vorgelegt worden sind (Urteil vom 12. Juni 2014, SEK Zollagentur, C‑75/13, EU:C:2014:1759, Rn. 33).

43

Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die Bestimmungszollstelle feststellte, dass 2448 kg Frachtgut (Lösungsmittel) fehlten, weil die untere Entladevorrichtung des betreffenden Kesselwagens nicht richtig geschlossen oder beschädigt worden war. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts hat das Administratīvā apgabaltiesa (regionales Verwaltungsgericht) die Umstände dieses Verlusts des Frachtguts nicht näher festgestellt.

44

Das vorlegende Gericht geht aber jedenfalls von einer Vernichtung oder Zerstörung oder einem unwiederbringlichen Verlust der Ware aus.

45

Gemäß Art. 37 Abs. 1 des Zollkodex kann eine Ware, die der zollamtlichen Überwachung unterliegt, Zollkontrollen unterzogen werden.

46

Diese Kontrollen dienen gemäß Art. 4 Nr. 14 des Zollkodex insbesondere der Gewährleistung der ordnungsgemäßen Anwendung der zollrechtlichen Vorschriften und können u. a. die Beschau der Waren, die Überprüfung der Anmeldungsdaten und des Vorhandenseins und der Echtheit von Unterlagen sowie die Kontrolle der Beförderungsmittel umfassen.

47

Gemäß der in den Rn. 41 und 42 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs kann der Verlust eines Teils der im externen gemeinschaftlichen Versandverfahren befindlichen Ware grundsätzlich eine Entziehung dieser Ware aus der zollamtlichen Überwachung im Sinne von Art. 203 Abs. 1 des Zollkodex darstellen, da die Zollbehörden in diesem Fall tatsächlich am Zugang zu diesem Teil der Ware und an der Durchführung der in Art. 37 Abs. 1 des Zollkodex vorgesehenen Prüfungen gehindert sind.

48

Die Anwendung von Art. 203 Abs. 1 des Zollkodex ist jedoch dann gerechtfertigt, wenn das Verschwinden der Ware die Gefahr begründet, dass die Ware unverzollt in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. Januar 2005, Honeywell Aerospace, C‑300/03, EU:C:2005:43, Rn. 20, und vom 15. Mai 2014, X, C‑480/12, EU:C:2014:329, Rn. 35 und 36).

49

Dies ist aber nicht der Fall beim Verschwinden einer Ware durch Vernichtung oder Zerstörung oder unwiederbringlichen Verlust – wobei eine Ware gemäß Art. 206 Abs. 1 Unterabs. 2 des Zollkodex unwiederbringlich verlorengegangen ist, wenn sie von niemandem mehr zu verwenden ist –, wenn eine Flüssigkeit wie das im Ausgangsverfahren fragliche Lösungsmittel bei ihrem Transport aus einem Kessel austritt. Eine Ware, die nicht mehr existiert oder von niemandem mehr verwendet werden kann, kann nämlich allein deshalb nicht mehr in den Wirtschaftskreislauf der Union eingehen.

50

Nach diesen Erwägungen ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 203 Abs. 1 des Zollkodex dahin auszulegen ist, dass er nicht anwendbar ist, wenn nicht die gesamte Ware, die sich im externen gemeinschaftlichen Versandverfahren befindet, der im Rahmen dieses Verfahrens vorgesehenen Bestimmungszollstelle gestellt wird, weil ein Teil dieser Ware vernichtet oder zerstört wurde oder unwiederbringlich verlorengegangen ist, und dies in angemessener Weise nachgewiesen wird.

Zur zweiten Frage

51

Mit der zweiten Frage, die für den Fall gestellt wird, dass die erste Frage verneint wird, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 204 Abs. 1 Buchst. a und Art. 206 des Zollkodex dahin auszulegen sind, dass sie Anwendung finden, wenn nicht die gesamte Ware, die sich in einem externen gemeinschaftlichen Versandverfahren befindet, der im Rahmen dieses Verfahrens vorgesehenen Bestimmungszollstelle gestellt wird, weil ein Teil dieser Ware vernichtet oder zerstört wurde oder unwiederbringlich verlorengegangen ist, und dies in angemessener Weise nachgewiesen wird.

52

Hierzu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Art. 203 und 204 des Zollkodex unterschiedliche Anwendungsbereiche haben. Art. 204 des Zollkodex kann nach seinem Wortlaut nur in den Fällen Anwendung finden, die nicht unter Art. 203 des Zollkodex fallen, dessen Anwendbarkeit auf den betreffenden Sachverhalt an erster Stelle zu prüfen ist (vgl. Urteile vom 12. Februar 2004, Hamann International, C‑337/01, EU:C:2004:90, Rn. 28 bis 30, und vom 29. Oktober 2015, B & S Global Transit Center, C‑319/14, EU:C:2015:734, Rn. 25 bis 27).

53

Da Art. 203 Abs. 1 des Zollkodex, wie sich aus der Antwort auf die erste Frage ergibt, hier keine Anwendung findet, ist zu prüfen, ob die Situation, um die es im Ausgangsverfahren geht, unter Art. 204 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex fällt.

54

Nach dieser Bestimmung entsteht eine Einfuhrzollschuld, wenn in anderen als den in Art. 203 des Zollkodex genannten Fällen eine der Pflichten nicht erfüllt wird, die sich bei einer einfuhrabgabenpflichtigen Ware aus der Inanspruchnahme des Zollverfahrens, in das sie übergeführt worden ist, ergeben.

55

Im Fall des externen gemeinschaftlichen Versandverfahrens gehört dazu nach Art. 96 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex u. a. die Pflicht, eine Ware unverändert der Bestimmungszollstelle zu gestellen.

56

Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens kann es nicht als Gestellung einer unveränderten Ware im Sinne von Art. 96 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex angesehen werden, wenn der Bestimmungszollstelle eine geringere Warenmenge gestellt wird als bei der Abgangszollstelle zum externen gemeinschaftlichen Versandverfahren angemeldet wurde, nachdem ein Teil der Ware vernichtet oder zerstört worden oder unwiederbringlich verlorengegangen ist.

57

Daraus folgt, dass eine derartige Gestellung als Nichterfüllung einer der mit dem externen gemeinschaftlichen Versandverfahren verbundenen Pflichten im Sinne von Art. 204 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex zu qualifizieren ist, was grundsätzlich dazu führt, dass die Einfuhrzollschuld für den Teil der Ware entsteht, der nicht der Bestimmungszollstelle gestellt wurde.

58

Jedoch sieht Art. 206 Abs. 1 des Zollkodex vor, dass abweichend von Art. 204 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex eine Einfuhrzollschuld für eine bestimmte Ware als nicht entstanden gilt, wenn der Beteiligte nachweist, dass die sich aus der Inanspruchnahme des Zollverfahrens, in das diese Ware übergeführt worden ist, ergebenden Pflichten nicht erfüllt werden konnten, weil die betreffende Ware aus in ihrer Natur liegenden Gründen, durch Zufall oder infolge höherer Gewalt vernichtet oder zerstört worden oder unwiederbringlich verlorengegangen ist.

59

Daher ist zu prüfen, ob der Austritt einer Flüssigkeit wie eines Lösungsmittels aus einem Kessel, der dadurch verursacht wurde, dass die untere Entladevorrichtung des betreffenden Kesselwagens nicht richtig geschlossen oder beschädigt worden war, als Zufall oder höhere Gewalt eingestuft werden kann.

60

In diesem Zusammenhang ist auf die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs hinzuweisen, wonach die Bedeutung des Begriffs „höhere Gewalt“, da dieser auf den verschiedenen Anwendungsgebieten des Gemeinschaftsrechts nicht den gleichen Inhalt hat, anhand des rechtlichen Rahmens zu bestimmen ist, innerhalb dessen er seine Wirkungen entfalten soll (Urteile vom 18. Dezember 2007, Société Pipeline Méditerranée et Rhône, C‑314/06, EU:C:2007:817, Rn. 25, sowie vom 14. Juni 2012, CIVAD, C‑533/10, EU:C:2012:347, Rn. 26).

61

Im Zusammenhang mit den Zollvorschriften kennzeichnen sich die Begriffe „Zufall“ und „höhere Gewalt“ beide durch ein objektives Merkmal, das sich auf ungewöhnliche, außerhalb der Sphäre des Betroffenen liegende Umstände bezieht, und ein subjektives Merkmal, das mit der Verpflichtung des Betroffenen zusammenhängt, sich gegen die Folgen ungewöhnlicher Ereignisse zu wappnen, indem er, ohne übermäßige Opfer zu bringen, geeignete Maßnahmen trifft (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Dezember 2007, Société Pipeline Méditerranée et Rhône, C‑314/06, EU:C:2007:817, Rn. 24, und vom 14. Juni 2012, CIVAD, C‑533/10, EU:C:2012:347, Rn. 28, Beschluss vom 21. September 2012, Noscira/HABM, C‑69/12 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2012:589, Rn. 39, Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 30. September 2014, Faktor B. i W. Gęsina/Kommission, C‑138/14 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2256, Rn. 19, und Urteil vom 4. Februar 2016, C & J Clark International und Puma, C‑659/13 und C‑34/14, EU:C:2016:74, Rn. 192).

62

Außerdem sind die Begriffe „höhere Gewalt“ und „Zufall“ im Sinne von Art. 206 Abs. 1 des Zollkodex, da diese Bestimmung eine Ausnahme von der in Art. 204 Abs. 1 Buchst. a Zollkodex aufgestellten Regel darstellt, eng auszulegen (vgl. entsprechend Urteile vom 14. Juni 2012, CIVAD, C‑533/10, EU:C:2012:347, Rn. 24, vom 4. Februar 2016, C & J Clark International und Puma, C‑659/13 und C‑34/14, EU:C:2016:74, Rn. 190 und 191, und vom 25. Januar 2017, Vilkas, C‑640/15, EU:C:2017:39, Rn. 56).

63

Im Licht der in Rn. 61 des vorliegenden Urteils formulierten Kriterien ist festzustellen, dass ein Austritt von Lösungsmittel wie er im Ausgangsverfahren in Rede steht, wenn er durch das unsachgemäße Verschließen einer Entladevorrichtung verursacht wurde, nicht als ungewöhnlicher Umstand, der außerhalb der Sphäre des auf dem Gebiet des Transports von Flüssigkeiten tätigen Wirtschaftsteilnehmers liegt, sondern als Folge einer Verletzung der im Rahmen der Tätigkeit dieses Wirtschaftsteilnehmers normalerweise erforderlichen Sorgfalt anzusehen ist, so dass weder das objektive noch das subjektive Merkmal, die in Rn. 61 des vorliegenden Urteils genannt sind und durch die sich „höhere Gewalt“ und „Zufall“ kennzeichnen, im vorliegenden Fall erfüllt sind.

64

Im Fall der Beschädigung einer Entladevorrichtung kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie die in Rn. 61 des vorliegenden Urteils angeführten Kriterien erfüllt, wenn sich erweist, dass sie ungewöhnlich ist und außerhalb der Sphäre eines solchen Wirtschaftsteilnehmers liegt, und sich ihre Folgen trotz aller angewandten Sorgfalt nicht hätten vermeiden lassen. Es ist jedoch Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob diese Kriterien erfüllt sind. Im Rahmen dieser Prüfung hat es insbesondere zu berücksichtigen, ob die hinsichtlich des technischen Zustands der Kessel und der Sicherheit des Transports von Flüssigkeiten wie Lösungsmittel geltenden Vorschriften und Anforderungen von den Wirtschaftsteilnehmern wie dem Hauptverpflichteten und dem Warenführer eingehalten wurden.

65

Nach den vorstehenden Erwägungen ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 204 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex dahin auszulegen ist, dass, wenn nicht die gesamte Ware, die sich in einem externen gemeinschaftlichen Versandverfahren befindet, der im Rahmen dieses Verfahrens vorgesehenen Bestimmungszollstelle gestellt wird, weil ein Teil dieser Ware vernichtet oder zerstört wurde oder unwiederbringlich verlorengegangen ist, und dies in angemessener Weise nachgewiesen wird, diese Situation, die eine Nichterfüllung einer der mit diesem Verfahren verbundenen Pflichten, nämlich der Pflicht, eine Ware unverändert der Bestimmungszollstelle zu gestellen, darstellt, für den Teil der Ware, der dieser Zollstelle nicht gestellt wurde, eine Einfuhrzollschuld entstehen lässt. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob im vorliegenden Fall ein Umstand wie die Beschädigung einer Entladevorrichtung die Kriterien erfüllt, durch die sich „höhere Gewalt“ und „Zufall“ im Sinne von Art. 206 Abs. 1 des Zollkodex kennzeichnen, d. h. ob sich erweist, dass dieser Umstand für einen auf dem Gebiet des Transports von Flüssigkeiten tätigen Wirtschaftsteilnehmer ungewöhnlich ist und außerhalb seiner Sphäre liegt und ob sich seine Folgen trotz aller angewandten Sorgfalt nicht hätten vermeiden lassen. Im Rahmen dieser Prüfung hat das nationale Gericht insbesondere zu berücksichtigen, ob die hinsichtlich des technischen Zustands der Kessel und der Sicherheit des Transports von Flüssigkeiten wie Lösungsmittel geltenden Vorschriften und Anforderungen von den Wirtschaftsteilnehmern wie dem Hauptverpflichteten und dem Warenführer eingehalten wurden.

Zur dritten Frage

66

Mit der dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Abs. 1 Buchst. d sowie Art. 70 und 71 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass auf den vernichteten oder zerstörten oder unwiederbringlich verlorengegangenen Teil einer Ware, die sich im externen gemeinschaftlichen Versandverfahren befindet, Mehrwertsteuer zu entrichten ist.

67

Nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. d der Mehrwertsteuerrichtlinie unterliegt die Einfuhr von Gegenständen der Mehrwertsteuer. Art. 70 der Mehrwertsteuerrichtlinie stellt den Grundsatz auf, dass Steuertatbestand und Steueranspruch zu dem Zeitpunkt eintreten, zu dem die Einfuhr des Gegenstands erfolgt. So sieht Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie insbesondere vor, dass Steuertatbestand und Steueranspruch, wenn Gegenstände vom Zeitpunkt ihrer Verbringung in die Union dem externen gemeinschaftlichen Versandverfahren unterliegen, erst zu dem Zeitpunkt eintreten, zu dem die Gegenstände diesem Verfahren nicht mehr unterliegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2013, Harry Winston, C‑273/12, EU:C:2013:466, Rn. 40).

68

Aus diesen Bestimmungen ergibt sich, dass die Vernichtung oder Zerstörung oder der unwiederbringliche Verlust einer dem externen gemeinschaftlichen Versandverfahren unterliegenden Ware den Steuertatbestand und den Steueranspruch nur eintreten lassen können, wenn sie dem Ausscheiden dieser Ware aus diesem Verfahren gleichgestellt werden können.

69

Da es sich bei der Mehrwertsteuer naturgemäß um eine Verbrauchsteuer handelt, findet sie auf Waren und Dienstleistungen Anwendung, die in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangen und einem Verbrauch zugeführt werden können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. November 2013, Tulică und Plavoşin, C‑249/12 und C‑250/12, EU:C:2013:722, Rn. 35, sowie vom 2. Juni 2016, Eurogate Distribution und DHL Hub Leipzig, C‑226/14 und C‑228/14, EU:C:2016:405, Rn. 65).

70

Daher ist unter dem Ausscheiden einer Ware aus dem externen gemeinschaftlichen Versandverfahren, das den Steuertatbestand und den Steueranspruch eintreten lässt, der Eingang dieser Ware in den Wirtschaftskreislauf der Union zu verstehen, der ausgeschlossen ist, wenn eine Ware nicht mehr existiert oder von niemandem mehr verwendet werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. April 2010, Dansk Transport og Logistik, C‑230/08, EU:C:2010:231, Rn. 93 und 96).

71

Folglich kann eine Ware, die vernichtet oder zerstört worden oder unwiederbringlich verlorengegangen ist, während sie sich im externen gemeinschaftlichen Versandverfahren befand, da sie nicht in den Wirtschaftskreislauf der Union eingehen und damit auch nicht aus diesem Verfahren ausscheiden kann, weder als „eingeführt“ im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. d der Mehrwertsteuerrichtlinie angesehen werden noch nach dieser Bestimmung der Mehrwertsteuer unterliegen.

72

In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 2 Abs. 1 Buchst. d sowie Art. 70 und 71 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass auf den vernichteten oder zerstörten oder unwiederbringlich verlorengegangenen Teil einer Ware, die sich im externen gemeinschaftlichen Versandverfahren befindet, keine Mehrwertsteuer zu entrichten ist.

Zur vierten Frage

73

Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 96 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 204 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 des Zollkodex dahin auszulegen ist, dass der Hauptverpflichtete für die Zahlung der für eine dem externen gemeinschaftlichen Versandverfahren unterliegende Ware entstandenen Zollschuld auch dann haftet, wenn der Warenführer seinen Pflichten aus Art. 96 Abs. 2 des Zollkodex, insbesondere der Pflicht, diese Ware innerhalb der vorgeschriebenen Frist unverändert der Bestimmungszollstelle zu gestellen, nicht nachgekommen ist.

74

Nach Art. 96 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 204 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex entsteht eine Einfuhrzollschuld, wenn eine dem externen gemeinschaftlichen Versandverfahren unterliegende Ware nicht unverändert der Bestimmungszollstelle gestellt wird. Nach Art. 204 Abs. 3 des Zollkodex ist Zollschuldner die Person, die die Pflichten, die sich aus der Inanspruchnahme dieses Zollverfahrens ergeben, zu erfüllen hat.

75

Nach Art. 96 Abs. 1 des Zollkodex hat der Hauptverpflichtete die betreffende Ware unverändert der Bestimmungszollstelle zu gestellen. Nach Art. 96 Abs. 2 des Zollkodex ist unbeschadet der Pflichten des Hauptverpflichteten der Warenführer auch verpflichtet, die Ware unverändert der Bestimmungszollstelle zu gestellen.

76

Hierzu hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass Art. 204 des Zollkodex eine ordnungsgemäße Anwendung des Zollrechts gewährleisten soll. Nach Art. 96 Abs. 1 und Art. 204 Abs. 1 des Zollkodex ist nämlich der Hauptverpflichtete als Inhaber des externen gemeinschaftlichen Versandverfahrens Schuldner der sich aus der Nichteinhaltung der Bestimmungen zu diesem Verfahren ergebenden Zollschuld. Durch die dem Hauptverpflichteten damit auferlegte Haftung sollen im Interesse des Schutzes der finanziellen Interessen der Union und ihrer Mitgliedstaaten die sorgfältige und einheitliche Anwendung der Bestimmungen zum externen gemeinschaftlichen Versandverfahren sowie der ordnungsgemäße Ablauf der Versandverfahren gewährleistet werden (Urteil vom 15. Juli 2010, DSV Road, C‑234/09, EU:C:2010:435, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

77

Zudem besteht diese Haftung unabhängig davon, ob der Hauptverpflichtete gutgläubig ist und der Verstoß gegen das externe gemeinschaftliche Versandverfahren auf einen Umstand zurückgeht, mit dem er nichts zu tun hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. April 2008, Militzer & Münch, C‑230/06, EU:C:2008:186, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

78

Außerdem wird diese Haftung nicht dadurch in Frage gestellt, dass sie sich nach Art. 96 Abs. 2 des Zollkodex auch auf andere Personen wie den Warenführer erstreckt, da die Bestimmungen des Zollkodex zum externen gemeinschaftlichen Versandverfahren insoweit keine Befreiungen für den Hauptverpflichteten vorsehen. Aus dem Wortlaut von Art. 96 Abs. 2 des Zollkodex ergibt sich nämlich, dass die Pflicht des Warenführers, die Ware unverändert der Bestimmungszollstelle zu gestellen, „[u]nbeschadet der Pflichten des Hauptverpflichteten“ in diesem Zusammenhang besteht.

79

Daraus folgt, dass der Hauptverpflichtete auch dann Schuldner der für eine dem externen gemeinschaftlichen Versandverfahren unterliegende Ware entstandenen Zollschuld ist, wenn der Warenführer seinen Verpflichtungen aus Art. 96 Abs. 2 des Zollkodex nicht nachgekommen ist.

80

Diese Schlussfolgerung bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass der Hauptverpflichtete alleiniger Schuldner dieser Zollschuld ist.

81

Wie sich aus den Rn. 74 und 75 des vorliegenden Urteils ergibt, ist der Warenführer, wenn er gegen seine Pflicht verstoßen hat, eine dem externen gemeinschaftlichen Versandverfahren unterliegende Ware unverändert der Bestimmungszollstelle zu gestellen, ebenfalls als Zollschuldner anzusehen, was bedeutet, dass er nach Art. 213 des Zollkodex gesamtschuldnerisch mit dem Hauptverpflichteten zur Erfüllung dieser Zollschuld verpflichtet ist.

82

In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 96 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 204 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 des Zollkodex dahin auszulegen ist, dass der Hauptverpflichtete für die Zahlung der für eine dem externen gemeinschaftlichen Versandverfahren unterliegende Ware entstandenen Zollschuld auch dann haftet, wenn der Warenführer seinen Pflichten aus Art. 96 Abs. 2 des Zollkodex, insbesondere der Pflicht, diese Ware innerhalb der vorgeschriebenen Frist unverändert der Bestimmungszollstelle zu gestellen, nicht nachgekommen ist.

Zur fünften Frage

83

Mit der fünften Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 96 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2, Art. 204 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 sowie Art. 213 des Zollkodex dahin auszulegen sind, dass die Zollverwaltung eines Mitgliedstaats verpflichtet ist, den Warenführer, der zusammen mit dem Hauptverpflichteten als Zollschuldner anzusehen ist, gesamtschuldnerisch in Anspruch zu nehmen.

84

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Art. 213 des Zollkodex den Grundsatz der Gesamtschuld für den Fall bestätigt, dass es für ein und dieselbe Zollschuld mehrere Schuldner gibt. Weder andere Vorschriften des Zollkodex noch die Durchführungsverordnung zum Zollkodex enthalten eine nähere Regelung für die Behandlung dieser Gesamtschuld (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Februar 2011, Berel u. a., C‑78/10, EU:C:2011:93, Rn. 42 und 43).

85

Bereits aus dem Wesen der Gesamtschuld ergibt sich jedoch, dass jeder Schuldner für die gesamte Verbindlichkeit haftet und es dem Gläubiger grundsätzlich freisteht, die Erfüllung dieser Verbindlichkeit von einem oder mehreren Schuldnern seiner Wahl zu verlangen.

86

Wie sich aus den Rn. 76 bis 79 und 82 des vorliegenden Urteils ergibt, haftet nach Art. 96 Abs. 1 Buchst. a sowie Art. 204 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 des Zollkodex der Hauptverpflichtete auch dann für die Zahlung der für eine dem externen gemeinschaftlichen Versandverfahren unterliegende Ware entstandenen Zollschuld, wenn der Warenführer seinen Pflichten aus Art. 96 Abs. 2 des Zollkodex nicht nachgekommen ist.

87

Daraus folgt, dass der Zollkodex, indem er diese objektive Haftung des Hauptverpflichteten vorsieht, einen rechtlichen Grundmechanismus festlegt, der im Interesse des Schutzes der finanziellen Interessen der Union und ihrer Mitgliedstaaten u. a. den ordnungsgemäßen Ablauf der Versandverfahren erleichtert (vgl. Urteil vom 15. Juli 2010, DSV Road, C‑234/09, EU:C:2010:435, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

88

Hierzu hat der Gerichtshof präzisiert, dass der in Art. 213 des Zollkodex vorgesehene Mechanismus der Gesamtschuld ein den nationalen Behörden zur Verfügung gestelltes zusätzliches Rechtsinstrument ist, um ihr Vorgehen bei der Erhebung von Zollschulden wirksamer zu gestalten und die Eigenmittel der Union zu schützen (Urteil vom 17. Februar 2011, Berel u. a., C‑78/10, EU:C:2011:93, Rn. 48).

89

Folglich ist unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die Zollverwaltung eines Mitgliedstaats zwar verpflichtet, den Hauptverpflichteten in Anspruch zu nehmen. Hingegen ergibt sich aus dem Wesen des in Rn. 85 des vorliegenden Urteils genannten Gesamtschuldmechanismus, dass die Zollverwaltung die Möglichkeit hat, nicht aber verpflichtet ist, den Warenführer gesamtschuldnerisch in Anspruch zu nehmen.

90

Allerdings lässt der Umstand, dass die Zollverwaltung eines Mitgliedstaats den Warenführer nicht als Gesamtschuldner auf Zahlung der Zollschuld in Anspruch nimmt, das Recht des Hauptverpflichteten unberührt, Regressansprüche gegen den Warenführer geltend zu machen.

91

In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf die fünfte Frage zu antworten, dass Art. 96 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2, Art. 204 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 sowie Art. 213 des Zollkodex dahin auszulegen sind, dass die Zollverwaltung eines Mitgliedstaats nicht verpflichtet ist, den Warenführer, der zusammen mit dem Hauptverpflichteten als Zollschuldner anzusehen ist, gesamtschuldnerisch in Anspruch zu nehmen.

Zur sechsten und zur siebten Frage

92

Angesichts der Antwort auf die fünfte Frage sind die sechste und die siebte Frage nicht mehr zu beantworten.

Kosten

93

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 203 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften in der durch die Verordnung (EG) Nr. 648/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er nicht anwendbar ist, wenn nicht die gesamte Ware, die sich im externen gemeinschaftlichen Versandverfahren befindet, der im Rahmen dieses Verfahrens vorgesehenen Bestimmungszollstelle gestellt wird, weil ein Teil dieser Ware vernichtet oder zerstört wurde oder unwiederbringlich verlorengegangen ist, und dies in angemessener Weise nachgewiesen wird.

 

2.

Art. 204 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2913/92 in der durch die Verordnung Nr. 648/2005 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass, wenn nicht die gesamte Ware, die sich in einem externen gemeinschaftlichen Versandverfahren befindet, der im Rahmen dieses Verfahrens vorgesehenen Bestimmungszollstelle gestellt wird, weil ein Teil dieser Ware vernichtet oder zerstört wurde oder unwiederbringlich verlorengegangen ist, und dies in angemessener Weise nachgewiesen wird, diese Situation, die eine Nichterfüllung einer der mit diesem Verfahren verbundenen Pflichten, nämlich der Pflicht, eine Ware unverändert der Bestimmungszollstelle zu gestellen, darstellt, für den Teil der Ware, der dieser Zollstelle nicht gestellt wurde, eine Einfuhrzollschuld entstehen lässt. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob im vorliegenden Fall ein Umstand wie die Beschädigung einer Entladevorrichtung die Kriterien erfüllt, durch die sich „höhere Gewalt“ und „Zufall“ im Sinne von Art. 206 Abs. 1 des Zollkodex kennzeichnen, d. h. ob sich erweist, dass dieser Umstand für einen auf dem Gebiet des Transports von Flüssigkeiten tätigen Wirtschaftsteilnehmer ungewöhnlich ist und außerhalb seiner Sphäre liegt und ob sich seine Folgen trotz aller angewandten Sorgfalt nicht hätten vermeiden lassen. Im Rahmen dieser Prüfung hat das nationale Gericht insbesondere zu berücksichtigen, ob die hinsichtlich des technischen Zustands der Kessel und der Sicherheit des Transports von Flüssigkeiten wie Lösungsmittel geltenden Vorschriften und Anforderungen von den Wirtschaftsteilnehmern wie dem Hauptverpflichteten und dem Warenführer eingehalten wurden.

 

3.

Art. 2 Abs. 1 Buchst. d sowie die Art. 70 und 71 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sind dahin auszulegen, dass auf den vernichteten oder zerstörten oder unwiederbringlich verlorengegangenen Teil einer Ware, die sich im externen gemeinschaftlichen Versandverfahren befindet, keine Mehrwertsteuer zu entrichten ist.

 

4.

Art. 96 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 204 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 der Verordnung Nr. 2913/92 in der durch die Verordnung Nr. 648/2005 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass der Hauptverpflichtete für die Zahlung der für eine dem externen gemeinschaftlichen Versandverfahren unterliegende Ware entstandenen Zollschuld auch dann haftet, wenn der Warenführer seinen Pflichten aus Art. 96 Abs. 2 des Zollkodex, insbesondere der Pflicht, diese Ware innerhalb der vorgeschriebenen Frist unverändert der Bestimmungszollstelle zu gestellen, nicht nachgekommen ist.

 

5.

Art. 96 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2, Art. 204 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 sowie Art. 213 der Verordnung Nr. 2913/92 in der durch die Verordnung Nr. 648/2005 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass die Zollverwaltung eines Mitgliedstaats nicht verpflichtet ist, den Warenführer, der zusammen mit dem Hauptverpflichteten als Zollschuldner anzusehen ist, gesamtschuldnerisch in Anspruch zu nehmen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Lettisch.

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