Urteil vom Europäischer Gerichtshof - C-111/17

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

8. Juni 2017 ( *1 )

[Text berichtigt durch Beschluss vom 12. Juni 2017]

[Text berichtigt durch Beschluss vom 14. September 2017]

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Internationale Kindesentführung – Haager Übereinkommen vom 25. Oktober 1980 – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Art. 11 – Rückgabeantrag – Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts eines Säuglings – Kind, das im Einklang mit dem Willen seiner Eltern in einem anderen Mitgliedstaat als dem ihres gewöhnlichen Aufenthalts geboren wurde – Ständiger Aufenthalt des Kindes im Mitgliedstaat seiner Geburt während seiner ersten Lebensmonate – Entscheidung der Mutter, nicht in den Mitgliedstaat zurückzukehren, in dem sich der gewöhnliche Aufenthalt des Ehepaars befand“

In der Rechtssache C‑111/17 PPU

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Monomeles Protodikeio Athinon (Regionalgericht Athen, Griechenland, in Einzelrichterbesetzung) mit Entscheidung vom 28. Februar 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 7. März 2017, in dem Verfahren

OL

gegen

PQ

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça (Berichterstatter), der Richterin M. Berger sowie der Richter A. Borg Barthet, E. Levits und F. Biltgen,

Generalanwalt: N. Wahl,

Kanzler: L. Hewlett,

aufgrund des Antrags des vorlegenden Gerichts vom 28. Februar 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 7. März 2017, das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem Eilverfahren zu unterwerfen,

aufgrund der Entscheidung der Fünften Kammer vom 16. März 2017, diesem Antrag stattzugeben,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Mai 2017,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von OL, vertreten durch C. Athanasopoulos und A. Alexopoulou, dikigoroi,

von PQ, vertreten durch S. Sfakianaki, dikigoros,

der hellenischen Regierung, vertreten durch T. Papadopoulou, G. Papadaki und A. Magrippi als Bevollmächtigte,

[berichtigt durch Beschluss vom 14. September 2017] der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Brandon als Bevollmächtigten im Beistand von E. Devereux, QC,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Konstantinidis, M. Wilderspin und A. Katsimerou als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Mai 2017

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 11 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen OL und PQ wegen eines von OL gestellten Antrags auf Rückgabe ihres Kindes, das sich in Griechenland befindet, dem Mitgliedstaat, in dem es geboren wurde und sich mit seiner Mutter aufhält, nach Italien, wo sich vor der Geburt des Kindes der gewöhnliche Aufenthalt des Ehepaars befand.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

3

Das am 25. Oktober 1980 in Den Haag geschlossene Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1980) soll, wie aus seiner Präambel hervorgeht, u. a. das Kind vor den Nachteilen eines widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens international schützen und Verfahren einführen, um seine sofortige Rückgabe in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts sicherzustellen. Es wurde von allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ratifiziert.

4

Art. 1 des Haager Übereinkommens von 1980 lautet:

„Ziel dieses Übereinkommens ist es,

a)

die sofortige Rückgabe widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter oder dort zurückgehaltener Kinder sicherzustellen und

b)

zu gewährleisten, dass das in einem Vertragsstaat bestehende Sorgerecht und Recht zum persönlichen Umgang in den anderen Vertragsstaaten tatsächlich beachtet wird.“

5

Art. 3 des Übereinkommens lautet:

„Das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes gilt als widerrechtlich, wenn

a)

dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und

b)

dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte.

Das unter Buchstabe a genannte Sorgerecht kann insbesondere kraft Gesetzes, aufgrund einer gerichtlichen oder behördlichen Entscheidung oder aufgrund einer nach dem Recht des betreffenden Staates wirksamen Vereinbarung bestehen.“

6

Nach Art. 5 Buchst. a des Übereinkommens umfasst das „Sorgerecht“ in dessen Sinne die Sorge für die Person des Kindes und insbesondere das Recht, den Aufenthalt des Kindes zu bestimmen.

7

Art. 8 des Übereinkommens lautet:

„Macht eine Person, Behörde oder sonstige Stelle geltend, ein Kind sei unter Verletzung des Sorgerechts verbracht oder zurückgehalten worden, so kann sie sich entweder an die für den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes zuständige zentrale Behörde oder an die zentrale Behörde eines anderen Vertragsstaats wenden, um mit deren Unterstützung die Rückgabe des Kindes sicherzustellen.

…“

8

Nach Art. 11 Abs. 1 des Übereinkommens haben die Gerichte oder Verwaltungsbehörden eines jeden Vertragsstaats in Verfahren auf Rückgabe von Kindern mit der gebotenen Eile zu handeln.

Unionsrecht

9

Die Erwägungsgründe 12 und 17 der Verordnung Nr. 2201/2003 lauten:

„(12)

Die in dieser Verordnung für die elterliche Verantwortung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften wurden dem Wohle des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet. Die Zuständigkeit sollte vorzugsweise dem Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vorbehalten sein außer in bestimmten Fällen, in denen sich der Aufenthaltsort des Kindes geändert hat oder in denen die Träger der elterlichen Verantwortung etwas anderes vereinbart haben.

(17)

Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes sollte dessen Rückgabe unverzüglich erwirkt werden; zu diesem Zweck sollte das [Haager Übereinkommen von 1980], das durch die Bestimmungen dieser Verordnung und insbesondere des Artikels 11 ergänzt wird, weiterhin Anwendung finden. …“

10

Nach Art. 2 der Verordnung bezeichnet der Ausdruck

„…

7.

‚elterliche Verantwortung‘ die gesamten Rechte und Pflichten, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen wurden. Elterliche Verantwortung umfasst insbesondere das Sorge- und das Umgangsrecht;

8.

‚Träger der elterlichen Verantwortung‘ jede Person, die die elterliche Verantwortung für ein Kind ausübt;

9.

‚Sorgerecht‘ die Rechte und Pflichten, die mit der Sorge für die Person eines Kindes verbunden sind, insbesondere das Recht auf die Bestimmung des Aufenthaltsortes des Kindes;

11.

‚widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes‘ das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes, wenn

a)

dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes oder aufgrund einer rechtlich verbindlichen Vereinbarung nach dem Recht des Mitgliedstaats besteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte,

und

b)

das Sorgerecht zum Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, wenn das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte. Von einer gemeinsamen Ausübung des Sorgerechts ist auszugehen, wenn einer der Träger der elterlichen Verantwortung aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes nicht ohne die Zustimmung des anderen Trägers der elterlichen Verantwortung über den Aufenthaltsort des Kindes bestimmen kann.“

11

Art. 8 („Allgemeine Zuständigkeit“) der Verordnung lautet:

„(1)   Für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

(2)   Absatz 1 findet vorbehaltlich der Artikel 9, 10 und 12 Anwendung.“

12

Art. 10 („Zuständigkeit in Fällen von Kindesentführung“) der Verordnung bestimmt:

„Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes bleiben die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so lange zuständig, bis das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erlangt hat und

a)

jede sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt hat

oder

b)

das Kind sich in diesem anderen Mitgliedstaat mindestens ein Jahr aufgehalten hat, nachdem die sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle seinen Aufenthaltsort kannte oder hätte kennen müssen und sich das Kind in seiner neuen Umgebung eingelebt hat, sofern eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist:

i)

Innerhalb eines Jahres, nachdem der Sorgeberechtigte den Aufenthaltsort des Kindes kannte oder hätte kennen müssen, wurde kein Antrag auf Rückgabe des Kindes bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats gestellt, in den das Kind verbracht wurde oder in dem es zurückgehalten wird;

ii)

ein von dem Sorgeberechtigten gestellter Antrag auf Rückgabe wurde zurückgezogen, und innerhalb der in Ziffer i) genannten Frist wurde kein neuer Antrag gestellt;

iii)

ein Verfahren vor dem Gericht des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wurde gemäß Artikel 11 Absatz 7 abgeschlossen;

iv)

von den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wurde eine Sorgerechtsentscheidung erlassen, in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird.“

13

Art. 11 („Rückgabe des Kindes“) der Verordnung bestimmt:

„(1)   Beantragt eine sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle bei den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats eine Entscheidung auf der Grundlage des [Haager Übereinkommens von 1980], um die Rückgabe eines Kindes zu erwirken, das widerrechtlich in einen anderen als den Mitgliedstaat verbracht wurde oder dort zurückgehalten wird, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so gelten die Absätze 2 bis 8.

(3)   Das Gericht, bei dem die Rückgabe eines Kindes nach Absatz 1 beantragt wird, befasst sich mit gebotener Eile mit dem Antrag und bedient sich dabei der zügigsten Verfahren des nationalen Rechts.

Unbeschadet des Unterabsatzes 1 erlässt das Gericht seine Anordnung spätestens sechs Wochen nach seiner Befassung mit dem Antrag, es sei denn, dass dies aufgrund außergewöhnlicher Umstände nicht möglich ist.

…“

Griechisches Recht

14

Aus den Angaben in der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass in Griechenland ein Rückgabeantrag im Sinne des Haager Übereinkommens von 1980 beim Monomeles Protodikeio (Regionalgericht in Einzelrichterbesetzung) des Ortes zu stellen ist, an dem sich das betreffende Kind nach seiner Entführung befindet, oder am Wohnort der Person, die es entführt hat. Ein solcher Antrag kann entweder vom Justizministerium – das in diesem Mitgliedstaat die mit Rückgabeanträgen betraute zentrale Behörde ist – oder unmittelbar von der Person, Einrichtung oder Organisation gestellt werden, die sich auf ein Sorgerecht für das Kind beruft. Der Antrag wird in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes behandelt, aber das angerufene Gericht entscheidet endgültig über den die Rückgabe des Kindes betreffenden Rechtsstreit.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

15

Aus der Vorlageentscheidung sowie den schriftlichen und mündlichen Erklärungen vor dem Gerichtshof ergibt sich, dass OL, ein italienischer Staatsangehöriger, und PQ, eine griechische Staatsangehörige, am 1. Dezember 2013 in Italien heirateten und sich dann dort gemeinsam in der Gemeinde Sassoferrato niederließen.

16

Als PQ im achten Monat schwanger war, kamen die Ehegatten überein, dass sie ihr Kind in Athen (Griechenland) zur Welt bringen werde, wo sie die Unterstützung ihrer Familie väterlicherseits erhalten könne, und dass sie anschließend mit dem Kind nach Italien in die Wohnung des Ehepaars zurückkehren werde.

17

Die Ehegatten begaben sich daher nach Athen, wo PQ am 3. Februar 2016 ein Mädchen zur Welt brachte, das sich dort seither mit seiner Mutter aufhält. OL kehrte anschließend nach Italien zurück. Nach seinen Angaben wurde vereinbart, dass das Kind bis Mai 2016 in Griechenland bleiben und dann zusammen mit seiner Ehefrau nach Italien kommen solle. Im Juni 2016 habe PQ jedoch einseitig entschieden, mit dem Kind in Griechenland zu bleiben.

18

Nach den Angaben von PQ hatten die Ehegatten keinen genauen Zeitpunkt für ihre Rückkehr mit dem Kind nach Italien festgelegt. OL habe sie im Mai und dann im Juni 2016 in Griechenland besucht. Sie seien zudem übereingekommen, die Sommerferien gemeinsam in diesem Mitgliedstaat zu verbringen.

19

Am 20. Juli 2016 leitete OL vor dem Tribunale ordinario di Ancona (Zivilgericht von Ancona, Italien) ein Scheidungsverfahren ein. In diesem Rahmen beantragte er u. a., ihm das alleinige Sorgerecht für seine Tochter zu übertragen, der Mutter ein Umgangsrecht einzuräumen, die Rückgabe des Kindes nach Italien anzuordnen und ihm eine Rente für dessen Unterhalt zuzuerkennen. Am 7. November 2016 kam dieses Gericht zu dem Ergebnis, dass über die die elterliche Verantwortung für das Kind betreffenden Anträge nicht zu entscheiden sei, weil es sich seit seiner Geburt in einem anderen Mitgliedstaat als Italien aufhalte. OL legte ein Rechtsmittel gegen diese Entscheidung ein, die am 20. Januar 2017 von der Corte d’appello di Ancona (Berufungsgericht von Ancona) bestätigt wurde. Überdies lehnte das Tribunale ordinario di Ancona (Zivilgericht von Ancona) es am 23. Januar 2017 ab, den Antrag auf Zuerkennung einer Unterhaltsrente zu bescheiden, ebenfalls mit der Begründung, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes nicht in Italien befinde. Schließlich erklärte es am 23. Februar 2017 die Ehe von OL und PQ für geschieden, ohne über die elterliche Verantwortung für das Kind zu befinden.

20

Parallel zu dem Verfahren vor den italienischen Gerichten beantragte OL am 20. Oktober 2016 beim Monomeles Protodikeio Athinon (Regionalgericht Athen, Griechenland, in Einzelrichterbesetzung) die Rückgabe des Kindes.

21

Dieses Gericht ist der Ansicht, zwar sei das Kind nicht im Sinne von Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 oder von Art. 3 des Haager Übereinkommens von 1980 von einem Mitgliedstaat in einen anderen „verbracht“ worden, doch werde es von seiner Mutter in Griechenland widerrechtlich zurückgehalten, ohne dass der Vater, der gemeinsam mit der Mutter die elterliche Verantwortung wahrnehme, eingewilligt habe, dass es dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt begründe.

22

Fälle, in denen ein Kind an einem Ort geboren werde, der keine Verbindung zum gewöhnlichen Aufenthalt seiner Eltern aufweise – z. B. zufällig oder aufgrund höherer Gewalt, etwa während einer Auslandsreise der Eltern – und anschließend von einem Elternteil widerrechtlich verbracht oder zurückgehalten werde, führten zu flagranten Beeinträchtigungen der Elternrechte und zur tatsächlichen Entfernung des Kindes von dem Ort, an dem sich bei normalem Verlauf sein gewöhnlicher Aufenthalt befunden hätte. Für solche Fälle müsse deshalb das im Haager Übereinkommen von 1980 und in der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehene Rückgabeverfahren gelten.

23

Die körperliche Anwesenheit des Kindes an einem bestimmten Ort dürfe daher keine Vorbedingung dafür sein, dass es dort seinen „gewöhnlichen Aufenthalt“ im Sinne von Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 begründe. Speziell bei Neugeborenen und Säuglingen verlören die Faktoren, die normalerweise die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts ermöglichten, wegen der völligen Abhängigkeit dieser Kleinkinder von den für sie sorgenden Personen ihre Relevanz. Der Gerichtshof gehe im Übrigen selbst davon aus, dass die körperliche Anwesenheit des Kindes bei Säuglingen von geringerer Bedeutung sei, denn er habe im Urteil vom 22. Dezember 2010, Mercredi (C‑497/10 PPU, EU:C:2010:829), entschieden, dass die Tatsache, dass sich ein Säugling einige Tage an einem bestimmten Ort aufgehalten habe, zusammen mit anderen Gesichtspunkten ausreiche, um dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen.

24

Bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts eines Neugeborenen oder eines Säuglings sei vielmehr als Hauptkriterium auf die gemeinsame Intention der verantwortlichen Eltern abzustellen, die aus ihren Vorbereitungshandlungen für die Ankunft des Kindes wie der Anmeldung seiner Geburt beim Standesamt ihres gewöhnlichen Aufenthaltsorts, dem Kauf der notwendigen Kinderkleidung oder für das Kind bestimmter Möbel, der Vorbereitung eines Kinderzimmers oder der Anmietung eines größeren Hauses abgeleitet werden könne.

25

Unter diesen Umständen hat der Monomeles Protodikeio Athinon (Regionalgericht Athen in Einzelrichterbesetzung) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Welche Auslegung ist dem Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ in Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 im Fall eines Säuglings zu geben, der zufällig oder aufgrund höherer Gewalt an einem anderen Ort als demjenigen geboren wurde, den seine Eltern, die die elterliche Verantwortung über ihn gemeinsam ausüben, als den Ort seines gewöhnlichen Aufenthalts beabsichtigt hatten, und der seitdem widerrechtlich von einem Elternteil in dem Staat, in dem er geboren wurde, zurückgehalten wird oder in einen dritten Staat verbracht worden ist? Ist insbesondere die körperliche Anwesenheit in jedem Fall eine notwendige und selbstverständliche Vorbedingung für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts einer Person und insbesondere eines Neugeborenen?

Zum Eilvorabentscheidungsverfahren

26

Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen.

27

Es hat seinen Antrag darauf gestützt, dass der Ausgangsrechtsstreit ein Kind von kaum einem Jahr betreffe, das von seinem Vater seit mehr als neun Monaten getrennt sei, ohne dass dieser die Möglichkeit habe, mit ihm zu kommunizieren. Diese Situation sei geeignet, das künftige Verhältnis des Kindes zu seinem Vater schwer zu beeinträchtigen.

28

Insoweit ist erstens festzustellen, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen die Auslegung der Verordnung Nr. 2201/2003 betrifft, die u. a. auf der Grundlage von Art. 61 Buchst. c EG, jetzt Art. 67 AEUV, der zu Titel V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) des Dritten Teils des AEU-Vertrags gehört, erlassen wurde. Es kommt daher für ein Eilvorabentscheidungsverfahren in Betracht.

29

Zweitens geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass das betreffende Kind in einem für seine Entwicklung wichtigen Alter von seinem Vater getrennt ist und dass der Fortbestand der gegenwärtigen Situation für das künftige Verhältnis des Kindes zu seinem Vater sehr abträglich sein könnte.

30

Unter diesen Umständen hat die Fünfte Kammer des Gerichtshofs am 16. März 2017 auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts stattzugeben und das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen.

Zur Vorlagefrage

31

Einleitend ist festzustellen, dass sich die Umstände des Ausgangsverfahrens teilweise von den der Vorlagefrage zugrunde gelegten Umständen unterscheiden.

32

Aus der Vorlageentscheidung geht nämlich hervor, dass das Kind von OL und PQ nicht „zufällig oder aufgrund höherer Gewalt“ in Griechenland geboren wurde, sondern im Einklang mit dem gemeinsamen Willen seiner Eltern, damit PQ vor der Niederkunft und in den ersten Lebensmonaten des Kindes von ihrer Familie väterlicherseits unterstützt werden konnte. Ferner liegt auf der Hand, dass es nicht in der Folge „in einen dritten Staat verbracht worden ist“. Außerdem spricht das vorlegende Gericht in seiner Frage zwar sowohl von einem „Neugeborenen“ als auch von einem „Säugling“, doch ist festzustellen, dass das Kind unmittelbar vor dem behaupteten Zurückbehalten, d. h. im Juni 2016, bereits fünf Monate alt war, so dass das Ausgangsverfahren einen Säugling betrifft.

33

Nach ständiger Rechtsprechung ist es aber nicht Sache des Gerichtshofs, Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen abzugeben (Urteil vom 16. Juli 1992, Meilicke, C‑83/91, EU:C:1992:332, Rn. 25, und Beschluss vom 11. Januar 2017, Boudjellal, C‑508/16, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:6, Rn. 32).

34

Gleichwohl ist es im Rahmen des in Art. 267 AEUV geschaffenen Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dessen Aufgabe, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Unter diesem Blickwinkel obliegt es dem Gerichtshof gegebenenfalls, die ihm gestellten Fragen umzuformulieren (vgl. u. a. Urteil vom 13. Oktober 2016, M. und S., C‑303/15, EU:C:2016:771, Rn. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35

Daher ist die gestellte Frage so zu verstehen, dass das vorlegende Gericht wissen möchte, wie der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ im Sinne von Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 auszulegen ist. Dabei soll geklärt werden, ob in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der ein Kind im Einklang mit dem gemeinsamen Willen seiner Eltern in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Eltern vor seiner Geburt ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten, geboren wurde und sich dort mehrere Monate lang ununterbrochen mit seiner Mutter aufgehalten hat, ein „widerrechtliches Zurückhalten“ vorliegt. In diesem Zusammenhang fragt das vorlegende Gericht, ob die ursprüngliche Intention der Eltern, dass die Mutter mit dem Kind in den früheren Aufenthaltsstaat der Eltern zurückkehren sollte, ein ausschlaggebender Faktor dafür ist, dass das Kind dort seinen „gewöhnlichen Aufenthalt“ im Sinne der Verordnung hat, ungeachtet dessen, dass es in diesem Mitgliedstaat nie körperlich anwesend war.

36

Hierzu ist festzustellen, dass nach der Definition in Art. 2 Nr. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003, der ganz ähnlich formuliert ist wie Art. 3 des Haager Übereinkommens von 1980, der Begriff „widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes“ das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes unter Verletzung eines Sorgerechts betrifft, das aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes oder aufgrund einer rechtlich verbindlichen Vereinbarung nach dem Recht des Mitgliedstaats besteht, „in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte“.

37

Überdies gelten nach Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 die Bestimmungen dieses Artikels, wenn der Sorgeberechtigte bei den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats eine Entscheidung auf der Grundlage des Haager Übereinkommens von 1980 beantragt, um die Rückgabe eines Kindes zu erwirken, das widerrechtlich „in einen anderen als den Mitgliedstaat verbracht wurde oder dort zurückgehalten wird, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte“.

38

Aus diesen Bestimmungen ergibt sich, dass der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ein zentraler Gesichtspunkt für die Beurteilung der Begründetheit eines Antrags auf Rückgabe ist. Ein solcher Antrag kann nämlich nur Erfolg haben, wenn das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt unmittelbar vor dem behaupteten Verbringen oder Zurückhalten in dem Mitgliedstaat hatte, in den es zurückkehren soll.

39

Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes wird weder in der Verordnung Nr. 2201/2003 noch im Haager Übereinkommen von 1980 definiert. Die Artikel der Verordnung, in denen er verwendet wird, enthalten zur Definition seines Sinnes und seiner Tragweite auch keine ausdrückliche Bezugnahme auf das Recht der Mitgliedstaaten.

40

Der Gerichtshof hat daher wiederholt entschieden, dass es sich um einen autonomen Begriff des Unionsrechts handelt, der anhand des Kontexts der Bestimmungen, in denen er erwähnt wird, und der Ziele der Verordnung Nr. 2201/2003 auszulegen ist, namentlich anhand des aus ihrem zwölften Erwägungsgrund hervorgehenden Ziels, wonach die in der Verordnung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften dem Wohl des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet wurden (vgl. Urteile vom 2. April 2009, A, C‑523/07, EU:C:2009:225, Rn. 34 und 35, sowie vom 22. Dezember 2010, Mercredi, C‑497/10 PPU, EU:C:2010:829, Rn. 44 bis 46).

41

Überdies muss der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs in der Verordnung Nr. 2201/2003 eine einheitliche Bedeutung haben. Daher ist die im Rahmen der die internationale Zuständigkeit der Gerichte im Bereich der elterlichen Verantwortung betreffenden Art. 8 und 10 der Verordnung vorgenommene Auslegung dieses Begriffs auf Art. 11 Abs. 1 der Verordnung übertragbar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Oktober 2014, C, C‑376/14 PPU, EU:C:2014:2268, Rn. 54).

42

Nach der Rechtsprechung ist unter dem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes der Ort zu verstehen, der Ausdruck einer gewissen Integration des Kindes in ein soziales und familiäres Umfeld ist. Dieser Ort ist von den nationalen Gerichten anhand aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls zu bestimmen (Urteile vom 2. April 2009, A, C‑523/07, EU:C:2009:225, Rn. 42 und 44, sowie vom 22. Dezember 2010, Mercredi, C‑497/10 PPU, EU:C:2010:829, Rn. 47).

43

Dabei sind neben der körperlichen Anwesenheit des Kindes in einem Mitgliedstaat andere Faktoren heranzuziehen, die zeigen können, dass es sich nicht nur um eine vorübergehende oder gelegentliche Anwesenheit handelt und dass der Aufenthalt des Kindes Ausdruck einer solchen Integration in ein soziales und familiäres Umfeld ist (Urteil vom 2. April 2009, A, C‑523/07, EU:C:2009:225, Rn. 38).

44

Zu diesen Faktoren gehören die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts des Kindes in einem Mitgliedstaat, die Gründe für diesen Aufenthalt sowie die Staatsangehörigkeit des Kindes (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. April 2009, A, C‑523/07, EU:C:2009:225, Rn. 39). Die relevanten Faktoren variieren zudem je nach dem Alter des betreffenden Kindes (Urteil vom 22. Dezember 2010, Mercredi, C‑497/10 PPU, EU:C:2010:829, Rn. 53).

45

Zum Fall eines Säuglings hat der Gerichtshof ausgeführt, dass sein Umfeld weitgehend ein familiäres Umfeld ist, das durch die Bezugsperson oder ‑personen bestimmt wird, mit denen er zusammenlebt, die ihn tatsächlich betreuen und die für ihn sorgen, und dass er zwangsläufig das soziale und familiäre Umfeld dieser Person oder Personen teilt. Infolgedessen sind, wenn ein Säugling wie im Ausgangsverfahren tatsächlich von seiner Mutter in einem anderen Mitgliedstaat als dem betreut wird, in dem sich der Vater gewöhnlich aufhält, u. a. zum einen die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände ihres Aufenthalts im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats sowie die Gründe für diesen Aufenthalt zu berücksichtigen und zum anderen die geografische und familiäre Herkunft der Mutter sowie die familiären und sozialen Bindungen der Mutter und des Kindes in dem betreffenden Mitgliedstaat (vgl. Urteil vom 22. Dezember 2010, Mercredi, C‑497/10 PPU, EU:C:2010:829, Rn. 54 bis 56).

46

Wie der Gerichtshof anerkannt hat, kann auch die Intention der Eltern, sich mit dem Kind in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen, berücksichtigt werden, wenn sie sich in bestimmten äußeren Umständen wie dem Erwerb oder der Anmietung einer Wohnung im Aufnahmemitgliedstaat manifestiert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. April 2009, A, C‑523/07, EU:C:2009:225, Rn. 40).

47

[Berichtigt durch Beschluss vom 12. Juni 2017] Dabei kann nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Intention der Eltern grundsätzlich für sich genommen bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes im Sinne der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht entscheidend sein, sondern stellt ein „Indiz“ dar, das ein Bündel anderer übereinstimmender Gesichtspunkte vervollständigen kann.

48

Das dieser Erwägung für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes beizumessende Gewicht hängt allerdings von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2010, Mercredi, C‑497/10 PPU, EU:C:2010:829, Rn. 50 und 51).

49

In Anbetracht dessen ist darauf hinzuweisen, dass im Ausgangsverfahren, wie in Rn. 32 des vorliegenden Urteils hervorgehoben, das Kind in einem Mitgliedstaat geboren wurde, den seine Eltern gemeinsam bestimmt hatten, und dass es sich dort unmittelbar vor dem behaupteten Zurückhalten fünf Monate lang hintereinander mit seiner Mutter bei deren Familie väterlicherseits aufhielt, ohne das Hoheitsgebiet dieses Staates je zu verlassen.

50

Würde unter solchen Umständen als ausschlaggebende Erwägung auf die ursprünglich geäußerte Intention der Eltern abgestellt, wonach die Mutter mit dem Kind in einen zweiten Mitgliedstaat, und zwar den des gewöhnlichen Aufenthalts der Eltern vor der Geburt des Kindes, zurückkehren sollte, und damit de facto eine allgemeine und abstrakte Regel des Inhalts aufgestellt, dass der gewöhnliche Aufenthalt eines Säuglings zwangsläufig der seiner Eltern ist, ginge dies über die Grenzen des Begriffs „gewöhnlicher Aufenthalt“ im Sinne der Verordnung Nr. 2201/2003 hinaus und liefe der Systematik, der Wirksamkeit und der Zielsetzung des Rückgabeverfahrens zuwider. Schließlich erfordert auch das Kindeswohl die vom vorlegenden Gericht vorgeschlagene Auslegung nicht.

51

Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne der Verordnung Nr. 2201/2003 im Wesentlichen eine Tatsachenfrage darstellt. Es wäre daher mit diesem Begriff schwer vereinbar, wenn der ursprünglichen Intention der Eltern, dass sich das Kind an einem bestimmten Ort aufhalten soll, größeres Gewicht zukäme als dem Umstand, dass es sich seit seiner Geburt ununterbrochen in einem anderen Staat aufhält.

52

Zweitens kann angesichts der Systematik des Haager Übereinkommens von 1980 und von Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 das Argument, dass die Eltern gemeinsam das Sorgerecht ausübten und die Mutter deshalb nicht allein über den Aufenthaltsort des Kindes habe entscheiden können, für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes im Sinne der Verordnung nicht ausschlaggebend sein.

53

Nach der in Rn. 36 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Definition der Wendung „widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes“ in Art. 2 Nr. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 und in Art. 3 des Haager Übereinkommens von 1980 richtet sich die Rechtmäßigkeit oder Widerrechtlichkeit des Verbringens oder Zurückhaltens nämlich nach dem aufgrund des Rechts des Mitgliedstaats, in dem das Kind vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, zuerkannten Sorgerecht. Im Rahmen der Beurteilung eines Rückgabeantrags geht somit die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes der Ermittlung eines etwa verletzten Sorgerechts voraus.

54

Infolgedessen kann die vom Vater in Ausübung seines Sorgerechts erteilte oder nicht erteilte Zustimmung zur Begründung des Aufenthalts des Kindes an einem bestimmten Ort keine entscheidende Erwägung bei der Ermittlung des „gewöhnlichen Aufenthalts“ des Kindes im Sinne der Verordnung Nr. 2201/2003 sein, was im Übrigen mit dem Gedanken in Einklang steht, dass dieser Begriff im Wesentlichen eine Tatsachenfrage darstellt.

55

Diese Auslegung wird zudem durch Art. 10 der Verordnung bestätigt, der gerade den Fall betrifft, dass das Kind im Anschluss an ein widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt.

56

Drittens würde es in einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens der Wirksamkeit des Rückgabeverfahrens und der Rechtssicherheit zuwiderlaufen, wenn die ursprüngliche Intention der Eltern als ausschlaggebender Faktor bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes angesehen würde.

57

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass ein Rückgabeverfahren seinem Wesen nach ein Eilverfahren ist, da es nach der Präambel des Haager Übereinkommens von 1980 und dem 17. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 die unverzügliche Rückgabe des Kindes sicherstellen soll. Der Unionsgesetzgeber hat diese Vorgabe im Übrigen in Art. 11 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 in der Weise konkretisiert, dass er den mit Rückgabeanträgen befassten Gerichten vorschreibt, ihre Anordnung, sofern keine außergewöhnlichen Umstände vorliegen, spätestens sechs Wochen nach ihrer Befassung zu erlassen.

58

Ein Rückgabeantrag muss deshalb auf schnell und einfach überprüfbaren und nach Möglichkeit eindeutigen Gesichtspunkten beruhen. In einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens kann es aber schwierig oder sogar unmöglich sein, ohne jeden vernünftigen Zweifel u. a. zu klären, für welchen Zeitpunkt die Eltern ursprünglich die Rückkehr der Mutter in den Mitgliedstaat ihres gewöhnlichen Aufenthalts vorgesehen hatten und ob die Entscheidung der Mutter, im Geburtsmitgliedstaat des Kindes zu bleiben, der Grund oder im Gegenteil die Folge des vom Vater bei den Gerichten des erstgenannten Staates gestellten Scheidungsantrags ist.

59

Alles in allem würde in einem solchen Kontext die Heranziehung einer Auslegung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes im Sinne der Verordnung Nr. 2201/2003, wonach die ursprüngliche Intention der Eltern hinsichtlich des „ins Auge gefassten“ Aufenthaltsorts der dafür ausschlaggebende Faktor wäre, die nationalen Gerichte zwingen, entweder eine Vielzahl von Beweisen und Aussagen zu sammeln, um diese Intention mit Sicherheit zu ermitteln, was mit dem Eilcharakter des Rückgabeverfahrens schwer vereinbar wäre, oder ihre Entscheidungen zu erlassen, ohne alle relevanten Gesichtspunkte zu kennen, was eine Quelle von Rechtsunsicherheit wäre.

60

Viertens würde in einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens die vom vorlegenden Gericht vorgeschlagene Auslegung des Begriffs „gewöhnlicher Aufenthalt“ dem Ziel des Rückgabeverfahrens zuwiderlaufen.

61

Wie aus dem Erläuternden Bericht zum Haager Übereinkommen von 1980 hervorgeht, besteht nämlich eines der Ziele dieses Übereinkommens und damit auch von Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 in der Wiederherstellung des status quo ante, d. h. der Situation vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten des Kindes. Das Rückgabeverfahren soll daher das Kind in das Umfeld zurückbringen, das ihm am vertrautesten ist, und dadurch die Beständigkeit seiner Existenz- und Entwicklungsbedingungen wiederherstellen.

62

In einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens kann in Anbetracht dieses Ziels das behauptete widerrechtliche Verhalten eines Elternteils aber nicht als Rechtfertigung dafür ausreichen, einem Rückgabeantrag stattzugeben und das Kind aus dem Mitgliedstaat, in dem es geboren wurde und fortwährend seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, in einen ihm nicht vertrauten Mitgliedstaat zu bringen.

63

Das im Haager Übereinkommen von 1980 und in der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehene Rückgabeverfahren soll zwar auch verhindern, dass ein Elternteil seine Position in Bezug auf die Sorge für das Kind stärkt, indem er sich durch die Schaffung von Tatsachen der Zuständigkeit der Gerichte entzieht, die nach den insbesondere in der Verordnung vorgesehenen Regeln über die elterliche Verantwortung für das Kind zu entscheiden haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. Dezember 2009, Detiček, C‑403/09 PPU, EU:C:2009:810, Rn. 49, und vom 9. Oktober 2014, C, C‑376/14 PPU, EU:C:2014:2268, Rn. 67).

64

Insoweit ist jedoch in Bezug auf das Ausgangsverfahren hervorzuheben, dass kein Indiz dafür geliefert wurde, dass die Mutter die in der Verordnung vorgesehenen Zuständigkeitsregeln im Bereich der elterlichen Verantwortung umgehen wollte.

65

Überdies ist klarzustellen, dass eine Entscheidung darüber, ob das Kind zurückzugeben ist oder nicht, die Frage der Sorge für das Kind nicht regelt. In diesem Zusammenhang lässt die Tatsache, dass der Rückgabeantrag im Ausgangsverfahren erfolglos bleibt, die Befugnis des Vaters unberührt, seine Rechte in Bezug auf das Kind mittels eines Sachfragen der elterlichen Verantwortung betreffenden Verfahrens vor den nach der Verordnung Nr. 2201/2003 hierfür zuständigen Gerichten geltend zu machen, in dem eine eingehende Prüfung aller Umstände einschließlich des Verhaltens der Eltern vorgenommen werden kann (vgl. entsprechend Urteil vom 5. Oktober 2010, McB., C‑400/10 PPU, EU:C:2010:582, Rn. 58).

66

Schließlich ist im Hinblick auf die Ausführungen in Rn. 40 des vorliegenden Urteils, wonach der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ im Sinne der Verordnung Nr. 2201/2003 anhand des Kindeswohls auszulegen ist, hervorzuheben, dass diese entscheidende Erwägung in der vorliegenden Rechtssache die vom vorlegenden Gericht vorgeschlagene Auslegung nicht erfordert. Insbesondere gebietet es der in Art. 24 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Anspruch des Kindes auf persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen nicht, dass es in den Mitgliedstaat gebracht wird, in dem sich seine Eltern vor seiner Geburt aufhielten. Dieses Grundrecht kann nämlich im Rahmen eines das materielle Sorgerecht betreffenden Verfahrens, wie es in der vorhergehenden Randnummer angesprochen worden ist, gewahrt werden, in dem die Möglichkeit besteht, die Frage der Kindessorge zu überprüfen und gegebenenfalls Umgangsrechte vorzusehen.

67

Dem Kriterium der räumlichen Nähe, dem der Unionsgesetzgeber im Rahmen der Verordnung Nr. 2201/2003 gerade deshalb den Vorzug gegeben hat, um die Berücksichtigung des Kindeswohls zu gewährleisten, wird im Übrigen besser Rechnung getragen, wenn etwaige das Kind betreffende Entscheidungen von den Gerichten des Mitgliedstaats getroffen werden, in dem es sich seit seiner Geburt ständig aufhält (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. Dezember 2009, Detiček, C‑403/09 PPU, EU:C:2009:810, Rn. 36, und vom 15. Juli 2010, Purrucker, C‑256/09, EU:C:2010:437, Rn. 91).

68

Der Gerichtshof verfügt jedenfalls über keinen Anhaltspunkt dafür, dass unter den speziellen Umständen des Ausgangsverfahrens das Kindeswohl berührt würde.

69

Aus diesen Gründen kann in einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht dahin ausgelegt werden, dass das Kind sofort nach dem vom Vater behaupteten Zurückhalten seinen „gewöhnlichen Aufenthalt“ im Sinne dieser Bestimmung in dem Mitgliedstaat hatte, in dem sich vor seiner Geburt der gewöhnliche Aufenthalt seiner Eltern befand. Daher kann die Weigerung der Mutter, mit dem Kind in diesen Staat zurückzukehren, kein „widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten“ des Kindes im Sinne der genannten Bestimmung darstellen.

70

Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der ein Kind im Einklang mit dem gemeinsamen Willen seiner Eltern in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Eltern vor seiner Geburt ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten, geboren wurde und sich dort mehrere Monate lang ununterbrochen mit seiner Mutter aufgehalten hat, die ursprüngliche Intention der Eltern, dass die Mutter mit dem Kind in den früheren Aufenthaltsstaat der Eltern zurückkehren sollte, nicht den Schluss zulässt, dass das Kind dort seinen „gewöhnlichen Aufenthalt“ im Sinne der Verordnung hat.

Infolgedessen kann in einer solchen Situation die Weigerung der Mutter, mit dem Kind in diesen Mitgliedstaat zurückzukehren, nicht als „widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten“ des Kindes im Sinne von Art. 11 Abs. 1 der Verordnung angesehen werden.

Kosten

71

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 11 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der ein Kind im Einklang mit dem gemeinsamen Willen seiner Eltern in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Eltern vor seiner Geburt ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten, geboren wurde und sich dort mehrere Monate lang ununterbrochen mit seiner Mutter aufgehalten hat, die ursprüngliche Intention der Eltern, dass die Mutter mit dem Kind in den früheren Aufenthaltsstaat der Eltern zurückkehren sollte, nicht den Schluss zulässt, dass das Kind dort seinen „gewöhnlichen Aufenthalt“ im Sinne der Verordnung hat.

 

Infolgedessen kann in einer solchen Situation die Weigerung der Mutter, mit dem Kind in diesen Mitgliedstaat zurückzukehren, nicht als „widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten“ des Kindes im Sinne von Art. 11 Abs. 1 der Verordnung angesehen werden.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Griechisch.

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