Urteil vom Europäischer Gerichtshof - C-556/16

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)

19. Oktober 2017 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 – Zollunion – Gemeinsamer Zolltarif – Tarifierung – Kombinierte Nomenklatur – Tarifpositionen – Unterposition 6212 20 00 (Miederhosen) – Erläuterungen zur Kombinierten Nomenklatur – Erläuterungen zum Harmonisierten System“

In der Rechtssache C‑556/16

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Hamburg (Deutschland) mit Entscheidung vom 11. Mai 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 3. November 2016, in dem Verfahren

Lutz GmbH

gegen

Hauptzollamt Hannover

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Vajda, des Richters E. Juhász (Berichterstatter) und der Richterin K. Jürimäe,

Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Lutz GmbH, vertreten durch T. Lutz,

der Europäischen Kommission, vertreten durch B.-R. Killmann und A. Caeiros als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Unterposition 6212 20 00 der Kombinierten Nomenklatur in Anhang I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif (ABl. 1987, L 256, S. 1) in der durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 927/2012 der Kommission vom 9. Oktober 2012 (ABl. 2012, L 304, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: KN).

2

Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Lutz GmbH (im Folgenden: Lutz) und dem Hauptzollamt Hannover (Deutschland) wegen der zolltariflichen Einreihung von Formslips.

Rechtlicher Rahmen

Kombinierte Nomenklatur

3

Teil II („Zolltarif“) der KN enthält einen Abschnitt XI („Spinnstoffe und Waren daraus“). Dieser Abschnitt umfasst u. a. die Kapitel 61 und 62.

4

Kapitel 61 der KN („Bekleidung und Bekleidungszubehör, aus Gewirken oder Gestricken“) enthält eine Anmerkung 2 Buchst. a, wonach Waren der Position 6212 nicht zu diesem Kapitel gehören.

5

Die Unterposition 6108 22 00 der KN betrifft „Unterkleider, Unterröcke, Slips und andere Unterhosen, Nachthemden, Schlafanzüge, Negligés, Bademäntel und ‑jacken, Hausmäntel und ähnliche Waren, aus Gewirken oder Gestricken, für Frauen oder Mädchen: – Slips und andere Unterhosen: aus Chemiefasern“.

6

Diese Unterposition sieht einen vertragsmäßigen Zollsatz von 12 % vor.

7

Kapitel 62 („Bekleidung und Bekleidungszubehör, ausgenommen aus Gewirken oder Gestricken“) der KN enthält eine Anmerkung 1, wonach zu diesem Kapitel nur konfektionierte Waren aus anderen textilen Flächenerzeugnissen als Watte, ausgenommen Waren aus Gewirken oder Gestricken (Waren der Position 6212), gehören.

8

Die Position 6212 der KN betrifft „Büstenhalter, Hüftgürtel, Korsette, Hosenträger, Strumpfhalter, Strumpfbänder und ähnliche Waren, Teile davon, auch aus Gewirken oder Gestricken“.

9

Die Unterposition 6212 20 00 der KN betrifft „Büstenhalter, Hüftgürtel, Korsette, Hosenträger, Strumpfhalter, Strumpfbänder und ähnliche Waren, Teile davon, auch aus Gewirken oder Gestricken – Hüftgürtel und Miederhosen“.

10

Die Unterposition 6212 90 00 der KN betrifft „Büstenhalter, Hüftgürtel, Korsette, Hosenträger, Strumpfhalter, Strumpfbänder und ähnliche Waren, Teile davon, auch aus Gewirken oder Gestricken: – andere als Büstenhalter, Hüftgürtel und Miederhosen sowie Korseletts.

11

Für die gesamte Position 6212 gilt ein vertragsmäßiger Zollsatz von 6,5 %.

Erläuterungen zur Kombinierten Nomenklatur

12

Gemäß Art. 9 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2658/87 erlässt die Kommission Erläuterungen zur Kombinierten Nomenklatur der Europäischen Union (im Folgenden: Erläuterungen zur KN).

13

Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits die im Amtsblatt der Europäischen Union vom 4. März 2015 (ABl. 2015, C 76, S. 1) veröffentlichten Erläuterungen zur KN von Bedeutung sind. Die Erläuterung zur KN betreffend die Unterposition 6212 20 00 lautet:

„Hüftgürtel und Miederhosen

Hierher gehören vor allem solche Miederhosen, auch aus Gewirken oder Gestricken, die wie eine kurze Hose mit oder ohne Bein oder eine kurze Hose mit oder ohne Bein mit hoher Taille geschnitten sind.

Sie müssen die sortentypischen Merkmale aufweisen:

a)

[S]ie umschließen Taille und Hüften fest; die Seitenteile sind länger als 8 cm (vom Beinausschnitt bis zum oberen Rand gemessen);

b)

sie sind längselastisch, jedoch in Querrichtung ist die Elastizität begrenzt. Eine Verstärkung oder eine Einlage im Bauchbereich, ebenso Spitzen, Bänder, Posamenterie oder andere Applikationen sind zulässig, wenn die Längselastizität nicht beeinträchtigt wird;

c)

sie bestehen aus folgenden Spinnstoffen:

Baumwollmischung mit einem Elastomer-Anteil von mindestens 15 % … oder

Mischung aus synthetischen Chemiefasern mit einem Elastomer-Anteil von mindestens 10 % … oder

Baumwollmischung (nicht mehr als 50 %) mit einem hohen Anteil an synthetischen Chemiefasern und einem Elastomer- Anteil von mindestens 10 %.“

Erläuterungen zum Harmonisierten System

14

Der Rat für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Zollwesens, jetzt Weltzollorganisation (WZO), wurde durch das am 15. Dezember 1950 in Brüssel unterzeichnete Abkommen zur Gründung dieses Rates errichtet. Das Harmonisierte System zur Bezeichnung und Codierung der Waren (im Folgenden: HS) wurde von der WZO ausgearbeitet und mit dem am 14. Juni 1983 in Brüssel geschlossenen Internationalen Übereinkommen über das Harmonisierte System zur Bezeichnung und Codierung der Waren eingeführt, das mit dem dazugehörigen Änderungsprotokoll vom 24. Juni 1986 durch den Beschluss 87/369/EWG des Rates vom 7. April 1987 (ABl. 1987, L 198, S. 1) im Namen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft genehmigt wurde.

15

Gemäß Art. 6 Abs. 1 dieses Übereinkommens wurde ein als „Ausschuss für das Harmonisierte System“ bezeichneter Ausschuss, der aus Vertretern aller Vertragsparteien zusammengesetzt ist, innerhalb des Rates für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Zollwesens eingerichtet. Seine Aufgabe besteht u. a. darin, Änderungen des Übereinkommens vorzuschlagen und Erläuterungen (im Folgenden: Erläuterungen zum HS), Einreihungsavise und sonstige Stellungnahmen zur Auslegung des HS auszuarbeiten.

16

Nach den die Position 6212 betreffenden Erläuterungen zum HS gehören zu dieser Position Waren, die dazu bestimmt sind, gewisse Teile des Körpers zu stützen oder verschiedene Kleidungsstücke beim Tragen zu halten, und Teile davon, wobei diese Waren aus Spinnstofferzeugnissen aller Art, auch elastischen, einschließlich Gewirken oder Gestricken, hergestellt sein können.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

17

Lutz beantragte im Oktober 2013 eine verbindliche Zolltarifauskunft für einen Formslip und schlug in ihrem Antrag eine Einreihung dieses Slips in die KN-Unterposition 6212 90 00 vor.

18

Das deutsche Hauptzollamt erteilte eine verbindliche Zolltarifauskunft, in der dieser Slip in die KN-Unterposition 6108 22 00 eingereiht wurde.

19

Da Lutz diese Einreihung für falsch hielt, legte sie zunächst erfolglos Einspruch ein und erhob dann Klage beim Finanzgericht Hamburg (Deutschland).

20

Das Finanzgericht Hamburg wies darauf hin, dass es sich bei der in Rede stehenden Ware um einen als Hüftslip gearbeiteten Formslip aus Gestricken handele, der sowohl in Längs- als auch in Querrichtung elastisch sei. Werde der Slip von Hand auseinandergezogen, lasse er sich in seiner Querrichtung weniger gut dehnen als in seiner Längsrichtung. Die Beurteilung, in welchem Maße sich der Slip in seiner Querrichtung weniger gut dehnen lasse, könne je nach individuellem Empfinden unterschiedlich ausfallen. Besondere in Querrichtung eingearbeitete unelastische Elemente weise die Ware nicht auf.

21

Entscheidungserheblich sind nach Auffassung des vorlegenden Gerichts die KN-Unterpositionen 6108 22 00 und 6212 20 00 sowie die diese Unterpositionen betreffenden Erläuterungen zur KN.

22

Handele es sich bei der in Rede stehenden Ware um eine Miederhose im Sinne der Unterposition 6212 20 00 (Hüftgürtel und Miederhosen), müsse sie in die Position 6212 eingereiht werden, da dies die im Vergleich zur Position 6108 genauere Warenbezeichnung sei.

23

Handele es sich dagegen nicht um eine Miederhose im Sinne der Unterposition 6212 20 00, sei die Ware in die Position 6108 und innerhalb derselben in die Unterposition 6108 22 00 (Slips und andere Unterhosen aus Chemiefasern) einzureihen.

24

In der die Unterposition 6212 20 00 betreffenden Erläuterung zur KN werde näher bestimmt, was unter einer „Miederhose“ im Sinne dieser Unterposition zu verstehen sei. Die in Rede stehende Ware weise unzweifelhaft die in dieser Erläuterung in Unterabs. 2 unter den Buchst. a bis c beschriebenen Eigenschaften auf.

25

Unter diesen Umständen komme es vorliegend maßgeblich darauf an, ob die Ware neben diesen Eigenschaften auch die in Unterabs. 2 Buchst. b Satz 1 dieser Erläuterung umschriebenen Eigenschaften, nämlich Längselastizität bei begrenzter Querelastizität, aufweise.

26

Allerdings ist das Finanzgericht Hamburg der Auffassung, dass Unterabs. 2 Buchst. b Satz 1 der Erläuterung, insbesondere „sie sind längselastisch, jedoch in Querrichtung ist die Elastizität begrenzt“ nicht hinreichend klar und eindeutig sei.

27

Das vorlegende Gericht möchte mit seinen Fragen vom Gerichtshof also wissen, wie Unterabs. 2 Buchst. b Satz 1 der die Unterposition 6212 20 00 betreffenden Erläuterung zur KN auszulegen ist.

28

Es geht zunächst von der Prämisse aus, dass Miederhosen immer querelastisch sein müssen, und fragt sich u. a., wie die Quer- und die Längselastizität zu vergleichen sind. Insoweit wird ausgeführt, dass die Querelastizität deutlich geringer als die Längselastizität sein müsse, da eine im Verhältnis zur Längselastizität nur geringfügig geringere Querelastizität nicht den Anforderungen der betreffenden Erläuterung genügen würde.

29

Außerdem weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die als „begrenzt“ bezeichnete Eigenschaft auch als absolute Begrenzung der Querelastizität in dem Sinne verstanden werden könne, dass der Querelastizität der Miederhose durch zusätzliche Vorkehrungen eine feste Grenze gesetzt sei, durch die die Querelastizität an einem bestimmten Punkt ihrer Ausdehnung beendet werde. Eine derartige Begrenzung der Elastizität könne auch Unterabs. 2 Buchst. b Satz 2 der die Unterposition 6212 20 00 betreffenden Erläuterung zur KN nahelegen.

30

Weiter stelle sich die Frage, anhand welcher objektiven Kriterien entweder der Vergleich zwischen der Längs- und der Querelastizität oder, wenn eine absolute Begrenzung der Querelastizität vorliege, deren nähere Bestimmung vorzunehmen sei. Bei der Auslegungsvariante, die auf einen Vergleich zwischen Längs- und Querelastizität abstelle, kämen eine rein sensorische Prüfung durch das Auseinanderziehen des Materials von Hand oder technische Messverfahren, die Daten zur Dehnbarkeit des verwendeten Materials lieferten, in Betracht.

31

Schließlich weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass aufgrund der Schwierigkeiten, anhand von Unterabs. 2 Buchst. b Satz 1 der die Unterposition 6212 20 00 betreffenden Erläuterung zur KN die tariflich relevanten Merkmale und Eigenschaften der in Rede stehenden Miederhosen zu ermitteln, für die an die Querelastizität zu stellenden Anforderungen im Hinblick auf die Erläuterung zum HS betreffend die Position 6212 allein auf das Vorhandensein einer nachweisbaren Stützfunktion für gewisse Teile des Körpers abzustellen sein könne.

32

Unter diesen Umständen hat das Finanzgericht Hamburg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

a)

Sind die Erläuterungen zur KN zu der Unterposition 6212 20 00 dahin auszulegen, dass bei einer Miederhose bereits dann die Elastizität „in Querrichtung … begrenzt“ ist, wenn die Querelastizität geringer ist als die Längselastizität?

b)

Falls Frage 1 Buchst. a bejaht wird:

Anhand welcher objektiven Kriterien ist dieser Vergleich zwischen Längs- und Querelastizität vorzunehmen?

2.

Falls Frage 1 Buchst. a verneint wird:

a)

Sind die Erläuterungen zur KN zu der Unterposition 6212 20 00 dahin auszulegen, dass bei einer Miederhose erst dann die Elastizität „in Querrichtung … begrenzt“ ist, wenn die Querelastizität deutlich geringer ist als die Längselastizität?

b)

Falls Frage 2 Buchst. a bejaht wird:

Anhand welcher objektiven Kriterien ist dieser Vergleich zwischen Längs- und Querelastizität vorzunehmen, und welcher Bewertungsmaßstab ist dabei anzulegen?

3.

Falls Frage 2 Buchst. a verneint wird:

a)

Sind die Erläuterungen zur KN zu der Unterposition 6212 20 00 dahin auszulegen, dass die Begrenzung der Querelastizität bei Miederhosen sich nicht durch einen Vergleich zwischen Längs- und Querelastizität definiert, sondern eine absolute Begrenztheit der Querelastizität meint?

b)

Falls Frage 3 Buchst. a bejaht wird:

Anhand welcher objektiven Kriterien ist die Prüfung vorzunehmen, ob die Elastizität einer Miederhose in Querrichtung in dem unter 3. a) genannten Sinne begrenzt ist?

Zu den Vorlagefragen

33

Das vorlegende Gericht möchte wissen, inwieweit eine Unterhose querelastisch sein muss, damit sie unter die Position 6212 20 00 der KN fällt.

34

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass eine Unterhose, um in die Unterposition 6212 20 00 eingereiht zu werden, nach dem Wortlaut von Unterabs. 2 Buchst. b Satz 1 der diese Unterposition betreffenden Erläuterung zur KN „… längselastisch, jedoch in Querrichtung … die Elastizität begrenzt [sein muss]“.

35

Die Erläuterungen zur KN und die Erläuterungen zum HS tragen erheblich zur Auslegung der einzelnen Tarifpositionen bei, ohne jedoch rechtsverbindlich zu sein (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juni 2016, MIS, C‑288/15, EU:C:2016:424, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36

Nach Teil 1 („Einführende Vorschriften“) Titel 1 („Allgemeine Vorschriften“) Abschnitt A („Allgemeine Vorschriften für die Auslegung der Kombinierten Nomenklatur“) der KN ist für die Einreihung von Waren der Wortlaut der Positionen und der Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln maßgebend, da die Überschriften der Abschnitte, Kapitel oder Teilkapitel nur als Hinweise gelten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2016, Lemnis Lighting, C‑600/15, EU:C:2016:937, Rn. 35).

37

Im Interesse der Rechtssicherheit und der leichten Nachprüfbarkeit ist das entscheidende Kriterium für die zolltarifliche Einreihung von Waren daher allgemein in deren objektiven Merkmalen und Eigenschaften zu suchen, wie sie im Wortlaut der KN-Position und der Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln festgelegt sind (Urteile vom 8. Dezember 2016, Lemnis Lighting, C‑600/15, EU:C:2016:937, Rn. 36, und vom 16. Februar 2017, Aramex Nederland, C‑145/16, EU:C:2017:130, Rn. 22).

38

Der Rat der Europäischen Union hat der Kommission, die mit den Zollsachverständigen der Mitgliedstaaten zusammenarbeitet, bei der näheren Angabe des Inhalts der Tarifpositionen, die für die Einreihung einer bestimmten Ware in Frage kommen, ein weites Ermessen eingeräumt. Die Befugnis der Kommission zum Erlass von Maßnahmen gemäß Art. 9 Abs. 1 Buchst. a, b, d und e der Verordnung Nr. 2658/87 wie etwa die Erstellung Zusätzlicher Anmerkungen gibt der Kommission jedoch nicht das Recht, den Inhalt der Tarifpositionen zu ändern, die auf der Grundlage des durch das Internationale Übereinkommen über das HS eingeführten HS geschaffen wurden, denn die Europäische Union hat sich gemäß Art. 3 dieses Übereinkommens verpflichtet, die Tragweite dieser Tarifpositionen nicht zu verändern (Urteil vom 12. Februar 2015, Raytek und Fluke Europe, C‑134/13, EU:C:2015:82, Rn. 29 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

39

Die Position 6212 der KN betrifft nach ihrem Wortlaut „Büstenhalter, Hüftgürtel, Korsette, Hosenträger, Strumpfhalter, Strumpfbänder und ähnliche Waren, Teile davon, auch aus Gewirken oder Gestricken“. Zudem werden im Rahmen der Position 6212 der KN von deren Unterposition 6212 20 00 speziell „Hüftgürtel und Miederhosen“ erfasst.

40

Die Erläuterungen zum HS sind zwar nicht verbindlich, stellen aber wichtige Hilfsmittel für die Gewährleistung einer einheitlichen Anwendung des Gemeinsamen Zolltarifs dar und liefern als solche wertvolle Hinweise für dessen Auslegung (Urteil vom 17. März 2016, Sonos Europe, C 84/15, EU:C:2016:184, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41

Nach den die Position 6212 betreffenden Erläuterungen zum HS gehören zu dieser Position Waren, die dazu bestimmt sind, gewisse Teile des Körpers zu stützen oder verschiedene Kleidungsstücke beim Tragen zu halten, und Teile davon, wobei diese Waren aus Spinnstofferzeugnissen aller Art, auch elastischen, einschließlich Gewirken oder Gestricken, hergestellt sein können.

42

Aus den Gattungsbegriffen „Hüftgürtel“, „Miederhose“ und „Korsett“, untermauert durch Verweise in den Anlagen zu den von der Kommission beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen, geht hervor, dass die entsprechenden Waren eine stützende und formende Wirkung auf den menschlichen Körper haben, die durch eine Versteifung erreicht wird.

43

Diese Wirkung ist nur möglich, wenn die Querelastizität dieser Waren erheblich geringer ist.

44

Nach Auffassung der Kommission bedarf es hierfür einer absoluten Grenze bei der Querelastizität, was voraussetze, dass nicht dehnbare Materialien verwendet oder aus solchen Materialien bestehende Elemente gesondert in die Miederhosen eingearbeitet würden.

45

Zwar ist es erforderlich, die Querelastizität erheblich zu begrenzen, aber es ist wohl nicht zwingend notwendig, dass die Miederhosen aus nicht dehnbaren Materialien oder Elementen bestehen.

46

Es scheint technisch möglich zu sein, dass bei schlauchförmig gestrickten Hüftgürteln und Miederhosen während des Strickens schlankmachende Bereiche eingearbeitet werden.

47

Außerdem ist der Verwendungszweck der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Ware zu berücksichtigen, da dieser ein objektives Tarifierungskriterium sein kann, sofern er dieser Ware innewohnt, was sich anhand der objektiven Merkmale und Eigenschaften der Ware beurteilen lassen muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. April 2017, Stryker EMEA Supply Chain Services, C‑51/16, EU:C:2017:298, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48

Im Hinblick auf den Verwendungszweck der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Ware, die vom vorlegenden Gericht als „Formslip“ und vom Hauptzollamt Hannover als „seamless shapewear“ bezeichnet wird, soll diese erkennbar eine stützende und formende Wirkung auf den menschlichen Körper haben. Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht hätte diese Ware also das wesentliche Merkmal einer erheblich geringeren Querelastizität, um so den menschlichen Körper zu stützen und eine die Figur objektiv schlanker machende Wirkung zu erzielen.

49

Lutz weist insoweit darauf hin, dass bei den neuartigen rundgestrickten Stützbandsystemen der von ihr hergestellten Unterwäsche, die eine patentierte technische Neuerung darstellten, im Gegensatz zu herkömmlichen Korsetts und Hüftgürteln, bei denen die stützend und formende Wirkung auf den menschlichen Körper meist über ein unelastisches Bauchteil und dehnbare Seitenteile erreicht werde, wozu verschiedene Teile mit einer Nähmaschine zusammengenäht würden, die schlankformenden Kontrollzonen automatisch derart in die Ware eingearbeitet würden, dass die Miederwirkung in gradueller Abstufung eingestrickt werde.

50

Somit ist festzustellen, dass der Hüftgürtel oder die Miederhose, wie sie hier in Rede stehen, dadurch von herkömmlicher Unterwäsche unterschieden werden können, dass sie eine erheblich geringere Querelastizität aufweisen, um so den menschlichen Körper zu stützen und zu gewährleisten, dass die Figur schlanker aussieht.

51

Die oben in den Rn. 13 und 34 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Erläuterungen zur KN machen die Einreihung eines Hüftgürtels oder einer Miederhose in die Unterposition 6212 20 00 der KN nicht davon abhängig, dass gar keine Querelastizität vorhanden ist.

52

Aufgrund ihrer Eigenschaften und objektiven Merkmale kann die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Unterhose daher in die Unterposition 6212 20 00 der KN eingereiht werden.

53

Das vorlegende Gericht wird die physischen Merkmale der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Ware sowie das entsprechende Vorbringen der Parteien zu prüfen haben.

54

Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die KN dahin auszulegen ist, dass eine Unterhose, die sich durch eine geringere Querelastizität auszeichnet, in die jedoch keine in Querrichtung nicht dehnbaren Elemente eingearbeitet sind, in die Unterposition 6212 20 00 der KN eingereiht werden kann, wenn die Querelastizität nachweislich erheblich geringer ist, um so den menschlichen Körper zu stützen und eine die Figur schlanker machende Wirkung zu erzielen.

Kosten

55

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

 

Die Kombinierte Nomenklatur in Anhang I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif in der Fassung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 927/2012 der Kommission vom 9. Oktober 2012 ist dahin auszulegen, dass eine Unterhose, die sich durch eine geringere Querelastizität auszeichnet, in die jedoch keine in Querrichtung nicht dehnbaren Elemente eingearbeitet sind, in die Unterposition 6212 20 00 der Kombinierten Nomenklatur eingereiht werden kann, wenn die Querelastizität nachweislich erheblich geringer ist, um so den menschlichen Körper zu stützen und eine die Figur schlanker machende Wirkung zu erzielen.

 

Vajda

Juhász

Jürimäe

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 19. Oktober 2017

Der Kanzler

A. Calot Escobar

Der Präsident der Neunten Kammer

C. Vajda


( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.

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